Die Forelle. Leander Fischer
hatte Ernstl dieses fingerlange Stück immer genannt, ebenfalls ein Fliegengewicht dies Metallgerät. Es zu beschreiben würde selbst das Sprachvermögen eines Shakespeares sprengen. Es sah am ehesten aus wie Zahnarztbesteck. Und im übertragenen und umgekehrten Sinn war das sicher richtig. Immerhin beschloss der Whipfinisher den Bindevorgang, operierte, wenn man so wollte, die gebundenen Fliegen zwischen die Forellenzähne hinein. Und noch abschließender als das Schlussknotenzirkelding lag die goldene Nagelschere hinter dem Bindestock, die den Faden wie eine Nabelschnur abschnitt, sobald er am Hals der Goldkopfnymphe verschlussknotet war, was jetzt geschah, nachdem ich die Hahnenhechel abgebunden und eine Strähne Rehhaar als Schwänzchen sowie eine Lenasträhne als Flügelscheide aufgebunden hatte. Irgendwelche Nebochanten hätten sich mal einfältigerweise einfallen lassen, den Schlussknoten nicht Schlussknoten zu nennen, sondern Kopfknoten, Dummköpfe, hatte Ernstl stets gesagt, Bauernschädel, die sollte man aufhängen, insistierte er, immerhin lege man den Schlussknoten ja zwischen Goldkopf und Körper an, beharrte er, also um den Hals, etc. pp. dc., schloss er und redete ansatzlos irgendetwas weiter, während er an der mir gegenüberliegenden Tischlängsseite auf und ab ging. Er kommandierte, antwortete auf Fragen, die er nicht selten selbst gestellt hatte, wenn er nicht gerade von seinem Achterl trank, oder er monologisierte vor sich hin, schnell und frei, vollgesoffen und assoziativ. Noch sah ich ihn morgens den Weg durch den Herbergsgarten herankommen, zuoberst die Fliegenfischstangenspitze, einerseits den Korkgriff in der Hand, andererseits den Hals der obligatorischen halbvollen Doppelliterflasche Weißwein zwischen den Fingern, erhoben den Kopf zu den Wolken, eine verspiegelte, in allen Regenbogenfarben schillernde Sonnenbrille mit goldenem Gestell vor den Augen, hochgeschlossen bis über den Adamsapfel das Rehhaarfell, das ich nur am Aufschlag erkannte. Verkehrt herum, mit der Lederhaut nach außen und den Haaren nach innen bedeckte es abgesehen von den nackten Füßen und dem Kopf Ernstls ganzen Körper in der kalten Luft wie dereinst Steinzeitmenschen. Im fliegenfischerhaften, dreizehnfachen und doppelt in sich selbst geschlungenen Modus war Ernstl um die Hüfte mit einem hanfenen Strick gegürtet, der die beiden Rehlederhälften zusammenhielt und seine Figur betonte. Fast versank der Stecken von Ernstls Oberkörper in dem weiten Gewand. Sein Gang scheuchte alle Vögel auf, die in den versandeten Flecken des Gartens gebadet oder aus der Dachrinne getrunken, ihre Nester in den Buchen aufgesucht hatten. Nur die Bewegungen seiner Beine ließen sich unter dem Rehgewand erahnen, was nicht zweifelsohne an ihrer muskulösen Gestalt lag. Vielleicht ging es eher um den Schnitt des Lederflecks, der auf Oberschenkelhöhe schlanker wurde. Dann glitt mein Blick hoch über die ledrige Haut, aber so nahtlos, als wäre dieses Rehleder nie abgezogen worden, als wäre da keine Bauschlitzöffnung zu gürten, als schauten und flögen und schlidderten meine Augen über Glätte, ein haselnussbraunes, wie ein zugefrorener See in der Sonne glänzendes Fell bis zum Hals, dann über das Kinn, den Mund, und sogleich spiegelten sich meine Glupscher auf den Brillengläsern über Ernstls Nase. Golden blitzte das Gestell.
Ich sagte: »Wo hast du das her?«
»Das wüsstest du gern!«, herrschte er mich an und trank vom Weißwein, der jeglichen Verschlusses entbehrte.
»Was?«, sagte ich.
»Was, was?«, sagte er und das Fell am Aufschlag schien sich aufzustellen und metallisch zu blitzen im Frühlingslicht, wie eine Waffe, gefährlicher als die in meiner Hand.
»Wie bitte?«, probierte ich es wieder und unter dem fetten Duft des ersten Flieders sagte er: »Wie bitte, wie bitte?«
»Ernstl, also woher denn jetzt?«, sagte ich und legte Hand an seinen Aufschlag, neben seinen Adamsapfel, nur zwei Finger, zwischen denen ich eine Rehhaarsträhne zusammenzwirbelte. »Von meinen guten Freunden aus good old Germany«, und er deutete auf die Axt, die ich hielt. »Pardon?«, sagte ich.
»Siegi Heehrmann, du hast uns wohl verstanden.«
»Also, aus Deutschland, von deinen guten Freunden.«
»Die lassen uns nie im Stich!«
»Oder von deinen deutschen Freunden irgendwo anders her?«
»Das könnte dir so passen, Judas.«
»Du könntest da nicht, für mich, vielleicht auch etwas einfädeln?«
»Es wird kalt im Land. Das wissen die. Da müssen wir uns gut anziehen.«
»Es ist Frühling, Ernstl. Du hast mir den Mund wässrig gemacht.«
»So frostig war der Winter. Dass es gar nicht mehr warm wird. Voll Schmelzwasser der Fluss. Die Tränen der Berge in unserem Herzen.«
»Meinst du nicht, es wird langsam Zeit.«
»Rein mit dir an den Bindetisch.«
»Ernstl, zwei Jahre!«
»Sie können jederzeit herkommen, Herr Heehrmann. Bittedanke.«
Und ich vermochte mich nicht weiter zu beschweren. Sein Handrückenschwenken ging an diesem Tag in beide Richtungen und war ein ausgestreckter, zittriger Zeigefinger. Er wies in einem steten Kreissegment auf die Herbergstür und die Gartentür. Dann ließ er unvermittelt die Hand sinken, entwand meinem Griff sacht die neue Axt, strich über das wieder scharf gemachte Blatt mit dem Finger, der so stark zitterte, dass ich ihn eh schon abgeschnitten fallen sah. »Gut«, sagte er und warf mir das kilowiegende Ding wie einen Jonglierball hoch durch die Luft zu, dass der Schneid um den Schaft rotierte. Einen Schritt zurück sprang ich. Als die Axt am Boden mehrmals schepperte, als ich ungläubig die Augen hob, hatte Ernstl mir schon den Rücken zugewandt, war auf seinem Weg durch den Garten in Richtung seines Lieblingsliegestuhls, stieg barfüßig und ohne erkennbare Reaktion Hummeln kaputt, Bombus terrestris das lateinische Nomen, und ominös stolzierte Ernstl am Flieder vorbei, warf das Rehleder ab, unter dem er nur eine enge Badehose trug, legte seine Fliegenstange ans Kopfende und sich nieder auf das mit einer sonnenfarbigen Federkernmatratze bespannte Holzlattengestell, nahm einen großen Schluck aus der Doppelliterflasche und hin den Wein neben sich ins Gras. »Liegt er wieder auf der Lauer«, sagte Nina, die gerade die drei Holzstufen zur Herbergstür herunterschritt. Ich sah sie fassungslos an. »Wartet auf Katzen, meinst du nicht. Die wildern gerne hier im Garten, bei den vielen Vögeln, wer wills verdenken.« Während sie die Axt aufhob, ließ ich einen Zeigefinger an meine Schläfe schweben und kreisen. Sie sah mich an und sagte: »Ja klar«, und das hohe Surren eines von der Klinge gesprungenen Daumens. »Stahl statt Eisen«, sagte ich, »wie edel«, während sie mit der freien Hand den Schaft hinabstrich, wo der Wurmstich verschwunden und die weiße Musterung der Schwarzeichenzeichnung gewichen war. »Lackbeschichtet«, ihre Hand erreichte das untere Ende der Axt. »Ob sich die hier wohl fühlen wird, zwischen den ganzen Buchen.« Durch den Knauf war eine Kunststoffflasche geschlauft, »zum Aufhängen«, um die Nina nun ihren Zeigefinger schloss. Das Beil baumelte zwischen uns. »Ist zwar nicht meine, aber danke.« – »Das will ich wohl meinen, hab dafür auch ein Dutzend Fliegen hingeblattelt.« – »Eh ein Freundschaftspreis«, sagte sie und propellerte die Axt um ihren Finger wie ein Helikopter seine Blätter um die Rotorachse. Weil ich ja größer war als Nina, musste ich schnellen Schritts weichen. Buchen sollst du suchen, dachte ich, während ich wehender Mantelschöße den Windfang passierte. Sie stolzierte durch den Garten, die Axt immer noch wirbelnd wie ein erfolgreicher Stürmer sein Trikot. »Wenigstens ist sie dir nicht zu schwer«, rief ich Nina durchs Küchenfenster hinterher. Sie blieb stehen, wandte mir den Rücken zu, fasste die Axt rechts direkt unterhalb des Stahlblatts und links am gelöcherten Knauf. Sie hielt den Schaft waagrecht, erst über, dann hinter sich, bis er mittig an ihrem Genick auflag. Er knickte die Haare und eigentlich fehlten bloß links und rechts die eingehängten Wassereimer. Doch Ninas Auftritt war von Eleganz, sodass nur ihr Atlaswirbel und die Handgelenkssehnen das Holz berührten. Ihre Pulsadern ruhten lässig auf dem Stecken, neben Blatt und Knauf obendrauf, wie Billardeure manchmal ihre Queues hochnehmen. In einer Haltung wie am Pranger catwalkte sie vor Ernstl hin, dessen Schädel mir die hochgestellte Liegesesselrückenlehne verbarg. Trotzdem wusste ich, dass auch er grinste, während Nina eine letzte Hüftschwungpose einnahm, beiderseits die Finger um die Axt schloss und sie dreimal in den Himmel stemmte wie eine Hantel, dann auch noch viermal untergriffig aus der Hocke, dieses Gesocks. Ein Messer zog ich aus dem Block und nahm einen Kanten Vollkorn aus dem Kasten, der scheißetrocken war, dachte ich noch, jedoch die Wurst ließ sich genauso schlecht