Die Forelle. Leander Fischer
wartete. Bis mir eine Lösung einfiele, es anzufischen, kaufte ich mir einen Eisbecher. Dann saß ich vor dem schmelzenden Dessert in der Sommerhitze. Ich kaufte viele Eisbecher. Und die Vorstellung, die Forelle dort doch noch zu fangen, zerrann im Vergehen der Tage.
Wie Vanille, so blond die Sandaufschüttungen im Strom vor mir. Etwa so, als bestellte ich statt Eisbecher Topfenstrudel, von etwas hellerer Farbe also jene Inseln im Fluss, die zwar betretbar waren, in deren Oberfläche man aber Ballen voran, gefolgt von Zehen und Ferse, einsank, gerade noch rechtzeitig den Fuß hob aus dem eigenen Abdruck, der sich sogleich anfüllte bis zum Pegel rundum, Wasser vom Grund, schlammig ungesund koloriert, und futsch war die Spur, man selbst einen Schritt weiter, wo man längst wieder versank, bis man wieder im Gasthof saß unter blauem Himmel. In dieser Farbe schraffierte ich jene Flächen der Dünen, die bei höherem Wasserstand unter der Oberfläche lagen. Der lange Eislöffel hatte die Farbe des Kugelschreibers, den ich benutzte zum Einzeichnen der Kiesbänke in die Mäander. Sie entstanden nur durch zwei tintenblaue Schlingen, gut geschwungen, violaschlüsselig. In der Musikschule saß ich, wartete auf verspätete Schüler, wartete aber nicht, beschäftigte mich, nahm alle meine mit Ernstl verfertigten Notizen zur Hand, welcher Fisch auf welches Muster, an welchem Tag, welche Stelle, versuchte, Rhythmen abzuleiten aus ihren Bisszeitortschnittstellen, suchte wiederkehrende Metren im Fischverhalten, aber da waren keine, Rückschlussverweigerung, nur Johannes: »Warum spielst du nicht?«, er stand in der Tür, die Violine lag neben mir, die Notizhefte am Notenständer, ich hingefläzt am Sessel, Arme vor Brust gekreuzt, Rücken gegen Lehne, Beine ausgestreckt, Krausbirn aufgestellt, glühend, die Ohren. »Du hörst nicht richtig«, sagte ich. Zögernd trat er über die Schwelle, fraglich sein Gesicht. »Hörst du nicht?« Er schüttelte den Kopf. Also nahm ich die Geige, raunte »das Rauschen«, und strich ein sattes Vibrato. »Ich komm manchmal her«, sagte er, schmiss den neonkarierten Schulrucksack von seinem Rücken und setzte sich neben mich. Ich war nun dran, ihn anzuschauen, als wäre was. »Aber du spielst nicht mehr.« – »Also nochmal zum Mitschreiben. Du steigst auf der Heimfahrt aus dem Schulbus. Um mich hier zu belauschen. Vor dieser schalldurchlässigen Tür. Da wartest du dann eine Stunde. Bis zum nächsten Bus?« – »Manchmal auch länger«, sagte er und mir wurde etwas mulmig. In aller Unschuld saß Johannes da, noch kein Stoppel Bart, abartig reine Haut. Sein grauer Pullover mit Regenbogenemblem, Captain Beefheart and his Magic Band. Ich vermutete, das Kleidungsstück gehörte Lukas. Ich spekulierte, deshalb war er hier, konnte sich unmöglich blicken lassen im Zug, den vielleicht auch sein großer Bruder nahm. Der kleine Kerl konnte ein regelgerechter Berserker sein, wenn es um sein Eigentum ging, wenn es um Lenas sinnlose Keinkleidertauschklausel ging, es hielte sie ohnehin schon jeder für Zwillinge etc. pp. Ging es allerdings um die Stücke seines jüngeren Bruders, war Lukas immer nur in eigener Sache unterwegs. Auch die neue Anlage konnte kaum einen Tag im Arbeitszimmer stehen, ohne dass er Anspruch darauf erhob, indem er die Boxen einfach davontrug in sein Zimmer, mit den dortigen alten vertauschte. Lena begeisterte die Fähigkeit ihres Sohnes, autodidaktisch erworben quasi, die Drähte gezwirbelt, in den Verstärker gesteckt, alles angeschlossen, ohne sich zu stromen. Das hatte zuletzt noch ich gemacht, und schon hatte es auch Lukas auf dem Kasten, da floss das Elektrosignal, durch die bohrgelöcherte Regalrückwand, die Leiste am Fußboden entlang, wo extra Miniaturhalterungen angebracht waren, superverdrahtet das plastikbeschichtete und magnetisolierte Kabel. Und erst dieser furchtbare Musikgeschmack, der dann alle Räume der Wohnung verdarb, vibrierend die Wände entlangkroch, den Boden entlangpoch, schon beim Aufstehen in die Fußsohlen, selbst durch zentimeterdicken Plüsch, in den Schlafzimmerteppich, während Johannes sich schon im Gang den Arm rieb, rot angelaufen britzelte er, eine Brennnessel hatte ihm der Herr Bruder verpasst, weil er es gewagt hatte, nach lauterem Bass zu verlangen, Lena schon im Krankenhaus, ich ließ den Rüffel aus, scheiß drauf.
»Was habt ihr denn heute so angestellt?«, fragte ich im Unterrichtszimmer sitzend Johannes. Noch waren sie da, die roten Streifen auf seinen Armen. Egal wie viele Ellenbogen ins Gesicht er abkriegte, immer wieder griff er seinem Bruder ans Genick, ihn zu umarmen, ständig zu zweit unterwegs die beiden. »Wir waren auf der Polizei«, so ein Scheiß, vielleicht verhaftet der Kleine. »Klassenaktionstag.« – »Und was habt ihr da gemacht?« – »Die haben uns allerhand Sachen erklärt. So was machen wir immer, wenn Konferenzen sind und die Noten schon feststehen. Oder wenn eine Schularbeit bei den Lehrern zu Hause liegt und es um nichts geht gerade. Heute hat uns der Herr Gemeinderat was erzählt vom Flächenwidmungsplan. Da ist festgehalten, welche Grundstücke wozu verfügbar sind, Äcker, Baugrund, Wohnsiedlungen, Waldgebiet, Erholungszonen und so.« – »Dir ist aber klar, dass diese Widmungen bloß so lang fix sind, wie niemand dem Herrn Bürgermeister eine Kiste Wieselburger unters Flugdach stellt.« – »Dann gelten die nicht mehr?« – »Die werden umgewidmet.« Und dann stand in der Tür, die Johannes offen gelassen hatte, die verloren geglaubte, diesmal wahnsinnig gut angezogene junge Frau ohne Totenkopfring am Finger und mit wasserstoffblondem Schopf. Während ich Johannes ins Wartezimmer komplementierte, wo er dann abends noch über seinem Hausaufgabenheft mit neonorangefarbenem Kunststoffumschlag saß, sah ich schon den ganzen Ammoniak von ihrem verwirrten Kopf durch die Abflussrohre strömen und den Fluss verpesten, und ich machte, weil Johannes sich immer noch nicht bewegte, eine rotierende Handgeste, die den Jungen gleichzeitig hieß, sich zu verabschieden, und die junge Frau, Platz zu nehmen. »Hey du« und »Hey Conny«, sagten sie einander im Vorbeigehen, »Ballett ist so scheiße«, sagte sie mir, spielte so gut wie noch nie, schickte mich quasi kommentarlos nach Hause, wie ein Mathelehrer von Lukas beim Eintritt in das Klassenzimmer am Elternsprechtag mich mal fragte, was ich da mache, ich solle nach Hause gehen, ich solle meinen Hobbys nachkommen oder was auch immer.
»Wo fährst du denn hin?«, fragte mich Johannes auf der Heimfahrt. Ich müsse noch wo hin, sagte ich, fädelte auf die Bundesstraße ein und zischte sie runter Richtung Oberland, um noch die abendliche Flusstemperatur zu messen. »Ich bin dir nicht böse«, sagte Johannes, »dass du so viel fischen gehst. Schön, dass du was gefunden hast. Apropos«, und gleich würde er mich um etwas bitten, was Lena verbot, »apropos was? Hobby oder Familie?«, fragte ich. »Beides. Ich habe mir überlegt. Darf ich zu Lukas ins Zimmer ziehen?« – »Was sagt deine Mutter dazu?« – »Nichts«, was mir ja bekannt vorkam. »Nun gut, aber warum?« – »Also, er ist so cool.« – »Und weiter?« – »Er hört Musik.« – »Nicht, warum er so cool ist, sondern warum du zu ihm ins Zimmer willst.« – »Er hört Musik«, das verstand ich, drehte das Autoradio so laut wie möglich auf, Eric Clapton mit Backgroundchor in Altstimmlage, dass Johannes und ich schrien. Unser Gespräch handelte weiter vom Flächenwidmungsplan, pro österreichischer Gemeinde genau einen. Legt man sie exakt aneinander, jeder einzelne so groß wie ein ganzer Konferenzraumtisch, ergibt sich die genaueste Karte unserer Nation, offiziell zumindest, Maßstab eins zu fünfhundert. Ich fertigte von da an Blaupausen meines Flusses an, ging rechtsseitig des Verhältnisses einen Zentimeter runter, eins zu vierhundertneunundneunzig. Das ganze mir vorschwebende Konvolut an Notizheften, Merkzetteln, Post-its und DIN-A 4-Karten-Mosaiksteinchen taufte ich mein Fischstandprotokoll. Abends saß ich selig davor, spottete im Geiste über Bürgermeister und Gemeinderäte, die glaubten, irgendetwas zu verstehen von meisterhaften Bürgern und beratschlagender Gemeinschaft, fing wie ein Omen mit der Forellenstelle an, wo zwischen jenen beiden Brücken Ernstl Volki panierte im Morgengrauen, während ich mich langsam entfernte, auf den Kescher in meiner Linken gestützt wie auf einen Gehstock, in der Rechten Notizheft und Stift. Ich ging rückwärts, um den Moment in mich aufzusaugen, wie der Meister warf, Schritt für Schritt.
Der unterste Bezugspunkt der Stange, die goldene Spule, schillerte im Licht des Sonnenaufgangs bronzen. Sie drehte sich, verwehte und verwirbelte den Schein damit, machte ihr Klack-Klack-Klack, solange sie Schnur gab. Ernstl ließ die zittrigen Finger seiner linken Hand von der Winde. Stattdessen riss er direkt am Bauch der herauskommenden Schnur. Meterweise lief sie aus der Spule mit einem Zug, klack-klack-klack, das Rädchen justiert auf fast keinen Biss, klack-klack – klack – klaaak, sie lief gemächlich aus. Wieder riss Ernstl Schnur von der Spule. Sie kreiselte ihr Glänzen zu runden Lichtspuren, die meinen Blick wie ineinanderlaufende Spiralen in ihren Mittelpunkt sogen, in den Fluchtpunkt, das hypnotische Auge einer Schlange, klack-klack-klack, züngelte die Schnur aus der Spule hervor. Diesmal beruhigte Ernstl ihren Drall, indem er das Metall antippte mit der linken Zeigefingerkuppe, sobald er genug Bünde in der Hand hatte, die er auch Klänge nannte. Die Spule