Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


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ganzen Ernstl zu sehen, alle seine Körperteile, jede ihrer Bewegungen, das ganze Bild gleichzeitig. Ernstl das Wurfgenie, Ernstl der Bindedemiurg, Ernstl der auf elf, der auf einundzwanzig, der auf eins, der auf elf Uhr, Ernstl der stets weise, Ernstl der Greise, der Urernstl, Gebetsroithers Erbe, selbst schon alt, weiter werfend. Immer schneller schien mir die Abfolge, obwohl Ernstl immer langsamer schwang. Er verlängerte das Fliegenfischen, in Ellipsen, die Fliege ein Planet um seine Sonne, Ernstl, schwebend auf zwölf, im Aufgang, der Untergängen gleicht, sein langer Schatten, der mir ins Gesicht reicht, von den kalkenen Alpen her auf meine Wimpern fällt, in meine das Paradies schauenden Augen, die Ernstl bannten in diesem Bild, darunter der flammende Fluss, versinkend sich erhebend, die Sonne, ihr Strahl, mathematisch gesehen von A bis in die Unendlichkeit, ein Strahlen, das über diesen Moment hinausging, alles erleuchtete, ein Blitzlicht, das mir aufging, und Zählen bis zum Donnerwetter, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig, von eins bis elf, und ich wusste es schon nicht mehr, Ernstl war entweder eben aufgestanden, putzmunter frisch, klar, oder der Fischtag war schon sturmalt am Abend angekommen und Ernstl verlängerte ellenlang ebenjenen Faden, Vogelfedern über dem Fluss in Rot. Ob Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang war, ob Morgenrot oder Abenddämmern, ich wusste es nicht.

      Wenn ich von seiner Stimme nur den Duktus bewahrte, dann von seiner Gestalt nur diesen immer wieder sich abspulenden Kurzfilm, Schwung gewechselt und Spule, klack-klack-klack, hin damit vor den Projektor, dem das Licht nicht ausgeht, dem Ernstl aufgeht, über dem Fluss, Ernstl zwischen elf und eins, Ernstl versunken auf der Brücke, Ernstl im Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang, Ernstl beim Auftritt oder beim Abtritt, Ernstl zu Frühlingsbeginn oder am Ende, Ernstl am Fischtagbeginn, Ernstl am Fischtagesabschied, Ernstl in Ewigkeit, Ernstl auf elf, zwei-und-zwan-zig, eins, Ernstl, Ernstl, Ernstl.

      Schon das l in meiner Schlingenschreibe sieht aus wie eine Rute samt Schnur und Vorfach im Profil. Der Schwung beginnt auf der Zeile, nach vorne, nach rechts oben ausgeführt, von der Fliege aus, dann den Strich wieder nach hinten, in der oberen Hälfte der Zeile, auf gleicher Höhe, nach links geführt, und dann in die Schlinge hinabgestürzt, nach rechts unten ausgeführt. Dieser Strich ist die Stange, eben auf elf bewegt, der Strich davor das Vorfach, unten durch, schwungvoll eben erst in die Rückwärtsbewegung eingetreten, obwohl jener Strich in der Schlingenschrift zuerst hinzuschreiben ist. So drehen sich die Dimensionen im Begriff des Werfens um, Gestalt und Bewegung zugleich, weswegen Ernstl ja auch durch seinen letzten Buchstaben am besten definiert ist, der wieder auf den ersten verweist, auf die Bewegung zur Elf, zum großen E, ein Emblem quasi, das ja schon im ersten Buchstaben, mit dem großen E angekündigt ist. Jetzt kommt das große Zeichen, sagt es, und dann das r mit dem Schnabel des Fischreihers im Profil, das kleine n natürlich nichts weniger als die klitzekleinen Nymphchen, die er immer fischte, und das s das letzte Strecken des Vorfachs in der Luft, kurz bevor alles ausgestreckt, gestoppt auf eins, dann ausgebreitet über dem Wasser liegt, Schnur, Vorfach und Ritz D, und in Ernstls Lachen fällt, hinter den Stein, Volki entgegen, beiß. Ernstl auf Zack, auf ein-und-zwan-zig, zwei-und, Ernstl schlug seinen Arm nach oben, -zwan, die Schnur spannte sich den ganzen Fluss zu uns herauf, Ernstl lachte oder triumphrufte und die Bachforelle zappelte am Ernstlende, »hahahahaben wir dich«, -zig und Ernstls Alpha und Omega, Ernstl, Ernstl, Ernstl in Ewigkeit, in meine Hände befahlst du deinen Geist und ich meinen in deine.

      Vom Sonnenaufgang total enttarnt nahm Kurti das Fleischerbeil, verließ grimmig schwarzen Gesichts den Unterstand, kam unter der umgefallenen Steineiche heraus, trat bärentapsig ins Dämmern des Wildwechsels, tat einen raschelnden Halbschritt zurück ins Rohrdickicht, verlagerte sein Gewicht auf den hinteren Fuß, holte aus, und dann vor, warf aus der Schulter. Sein Fleischerbeil flog wie ein Bumerang, nur dass es wie ein Tomahawk nicht zurückkam. Stattdessen steckte es in Bambis Hals, das augenblicklich einknickte in den sehnigen Läufen. »Die Kids sind am besten«, raunte er und überquerte die Lichtung in gebückter Haltung, die Oberschenkel stark wie ein Hirschkäfer, fast in einer Art Abfahrtshocke larvierte er zwischen Herrenpilzen und Schieferschichten Richtung jenseitigem Waldrand. Schon war er um die Hälfte verkleinert und kniete über dem Tier. Ich sah seine Ellenbogen die blutige Arbeit verrichten hinter dem Blättervorhang und den baumelnden Eicheln. Ich trat aus dem Versteck, kam Kurti nach auf Zehenspitzen, um dem Boden nur die Stepppike meiner Halbschuhe einzudrücken wie Kitzkicke. Ich drehte mich auf Hälfte der Strecke nochmals zu der umgefallenen Steineiche um, sah den Entwurzelungskranz Erde um ihren Fuß, den Unterstand und hörte in meinem Rücken Blut flatschen und Eingeweide auf Waldboden. »Siegi, die Säcke«, hörte ich Kurti sagen, und wo er gesessen hatte, bedeckten weiße Flächen den Boden, selbst von hier zu sehen, durch den Blättervorhang. Nahezu beglückt schritt ich zurück, weg von den widerlichen Innereien, deren süßlicher Geruch sich schon über den Wildwechsel legte, im zunehmenden Sonnenlicht auflebte. Einer der Säcke war leer, im anderen befand sich ein leichter, handlicher, zylindrischer Gegenstand, der sich durch das weiße Plastik abzeichnete. Kauernder Haltung und zehenspitzig in einer Art Wilhelm-Busch-Karikatur-Mimikry-Schritt schlich ich wieder zurück über den Wildwechsel, etwas beruhigt darüber, dass mir so, in der Hocke, Kurtis Hantieren von seinem Rücken verdeckt bliebe, selbst wenn ich ihm zur Hand ginge. Der Brodem verdickte sich, Kurtis Ellenbogen fuhrwerkten seitlich seines Körpers herum, weder nach Brunft noch nach Urin oder Kot roch es zumindest. Zu wissen schien er, was er da tat.

      Kaum waren ich und der Sack in Kurtis Reichweite, wandte er sich auf den Bärenfersen um, riss griffsicher mit den Worten, »hab schon gedacht, du bist gestorben«, den schwereren Sack an sich, zog eine Dose Eisspray hervor. War der waldeigene Eingeweidegeruch schon widerlich, kniff jetzt mit Zischen eine Wolke silbrigen Dampfs, fast pulvriger Konsistenz, in meinen Nasennerv, zwang mich, zu weichen, ein paar Schritte rückwärts wegzugehen. Dabei geriet vor Kurtis Kopf der Rehschädel in meinen Blick, an dem sich schon erste Eiskristalle bildeten in der halbdurchsichtigen Wolke, die als Rückstoß entstand, überall dort, wo die Fontäne aus Kurtis Hand auf den Rehkörper prallte, Oberkante Unterlippe, anorektische Schlegel, die ganze Flanke entlang und zuletzt sogar das Gedärm. Langsamer als erwartet schwand der Anblick von Wolkenkränzen umwundenen haselnussbraunen Fells aus meinem Gesicht. Erst als der klaffende Schnitt durch die Bauchdecke langsam vereiste und das Blut am Halsschnitt gerann, fiel mir auf, dass ich im Gehen, mit jedem Schritt mich aufrichtete, kerzengeraderer Haltung rückwärtsschlich und schließlich ganz aufrecht stand, noch zweimal schwebten meine Fersen nach hinten und endlich senkte sich der Fleischerkopf zwischen mich und das Reh. Die Eisspraywolken schlichen sich ebenfalls, wenn auch langsam, noch waren sie da, wölkten von Kurti weg und legten sich in der Windstille auf den Wildwechselboden. Der Gestank, den die Chemikalie so lange überdeckt hatte, kehrte nicht wieder. Immer noch in der Hocke saß Kurti da, hob das Fleischerbeil immer wieder über den eigenen Kopf, haute es hinunter, hindurch, mittendrein ins Rehkitzgebein in neolithisch konterrevolutionärer, karachotrockener, hackstockhafter Knochenknackermanier. Überall um mich herum glitzerten perfekte Kristalle an Halmen, lagen zuoberst auf Pilzschirmen, Flechten und Farnen. Sie verdarben mir den Gedanken an Schwefelwolken, die immer noch rund um Kurti schwebten, als kämen sie direkt aus seinem Mund, aus seinem Dahinhauen selbst, bis sich das Gewölk auch dort lichtete, als hätte er es weggedroschen.

      Zwitschern frühmorgendlich wurmfangender Waldvögel begann in extrem unreiner und krass schiefer Stimmlage. Jedes Schwarzspechtgehämmer wäre mir lieber gewesen zu Kurtis Kniedurchstrecken. Er ließ Bärenspuren und eine gefrorene, schwarze, vor Sonnenreflexen blendende Fläche hinter sich und trug keinen einzigen Blutspritzer am Gewand. Im Gehen bückte er sich mehrmals und brockte völlig wahllos einfach alle Herrenpilze, die ihm in die Quere kamen. Sogleich wanderten sie zuoberst in die raureifüberzogenen Plastiksäcke, steifgefroren die Oberfläche, keinerlei Rückschluss mehr möglich auf den Inhalt, vollgestopft aber doch, aus einer Hand gen Boden hängend, mächtig Gewicht an sich dehnenden Henkeln. Zu ganzer Größe erhoben, das schwarze Gesicht vom Waldrand gerahmt, genau inmitten jenes Geburtskanals zweier ineinandergewachsener Bäume sein weißes Grinsen, er hatte sie sich extra bleachen lassen für diesen Auftritt. So schritt er mir entgegen, die Plastiksäcke schwenkend, in der anderen Hand den Rehschädel vorstreckend. Vom Hals wuchsen Eiszapfen herab, die bereits im Sonnenlicht schmolzen, glitzerten und das Fell hinauf in vereiste, kürzer werdende Fransen übergingen, bis an die kalten Augen, die mir entgegenschauten. Es war nur eine Frage von Minuten und Temperatur, bis sich dieses stillgestellte Ding in einen völlig aufgeweichten, armen Tropf verwandelte. Kurti hielt mir den Rehkitzkopf vors Gesicht,


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