Die Forelle. Leander Fischer
stützte. Im bastgeflochtenen Körbchen lag noch eine geschnittene Scheibe Brot, von der sozusagen pulverisiert trockene Flocken stoben, als ich sie auf den Teller hob. Frühstückshungrig und unter Verzicht auf jedwede Bekanntschaft mit ranziger Butter unter der Glocke schichtete ich die paar unförmigen Wurstklumpen, »was hast du denn da fabriziert?«, kritikasterte Nina, als sie in die Küche trat. »Diese verfluchten Struwwelpeter!«, Ernstls Faust tauchte über der Rückenlehne auf, »gibs ihm ruhig, Nina!«, schrie er, »immer in die Nieren«, und boxte dreimal in die Luft. Wie Operationsbesteck war das Instrumentarium bereits ausgebreitet auf dem Tisch. Rundherum lagen die Kunststoffschatullen, in denen alle erdenklichen Bindematerialien jedweder Fliegenmuster noch ruhten. Ich stellte den Teller nahe der Tischkante auf den letzten Fleck freier Fläche, der gleichsam sagte, dass noch ein Muster fehlte, und ich setzte mich selbst ins letzte Eckbankeck. Draußen sah ich jetzt von Ernstl nur die Fliegenstange und sein schlohweißes Haar links und rechts der Liegestuhlkopfstütze wegstehen. Zu erahnen waren noch Fitzelchen seines Kopfs sowie die letzte graue Stresssträhne über der Rückenlehne. Hin und wieder griffen auch zittrige Finger zur Weißweinflasche, die dann kurzerhand verschwand und wieder hingestellt wurde. Nina trat dazwischen, in meinen Blick, einen feuchten Fetzen in der Hand, und wischte die Brotbrösel auf der Fensterbank weg, »ich würd die nicht mehr essen«, als ich gerade das Wurstbrot an meinen Mund hob. Ich ließ die Brotscheibe sinken, legte sie auf den Teller, nahm ein Stück Wurst zwischen zwei Finger und biss zu. Nina starrte mich an und brach in Lachen aus, hielt sich mit beiden Händen den Bauch, dass die Brösel zu Boden prasselten wie Schrotkugeln. »Ja, Entschuldigung, die meinte ich.« Ich schluckte die ranzige Wurst runter, statt sie auf die Bindeboxen zu spucken. »Wenn du willst, tau ich uns was auf.« – »Was denn?«, fragte ich und sie sagte: »Was weiß denn ich. Sei nicht so feindselig. Wild, Geflügel, Schwein? Worauf du Lust hast.« – »Dann hätte ich gern Ebernierengulasch«, sagte ich und lachte. »Dass du groß und stark wirst«, sagte sie, »schießt Ernstl mit seinen Kumpels an der Oder.« – »Von der deutschen auf die polnische Seite rüber wahrscheinlich.« – »Kormorane in Meck-Pomm, Störche am Neusiedler See und Rehe in Graz, kannst ja schon mal Rosmarin abbrocken«, und sie verließ das Zimmer, die Kellertreppe knarzte.
Ich sah hinaus auf die abstehenden Wehen Haar an Ernstls Kopf und dann auf die krausen Büschel grüner Nadeln, die seit Urzeiten über einem in der Zimmerecke stehenden Terrakotta-Topf hingen. Zuvor war die Pflanze aus jenem Erdhügel gesprossen, den die wenigen Eingeladenen in schwarzen Kutten mit Miniaturhandspaten, auf dass er wachse, Häufchen für Häufchen, zunächst auf das Holz, bald auf die erste Schicht seiner selbst, auf das Fundament des Humushaufens, zuletzt auf die Spitze, das endgültig zugeschüttete Grab von Ernstls Vater geschaufelt hatten, dessen Leichnam ins norditalienische Südtirol überstellt worden war. »Die Totengräber hatten nicht viel Arbeit«, hatte Ernstl gesagt und gelacht. »Und erst die Träger«, abgemagert und einen Kopf leichter. Eigenhändig habe Ernstl den Rosmarin hierher verbracht aus der Asche des Vaters. Sie hätten ihn denunziert. »Herumgelaufen sind wir in Gewand. Das war Nazi, sagten sie. Vor der Wanderung hat es die Mutter extra zerschnitten. Hat zerschlissene Fetzengwandl genäht. Das letzte Hemd im Haushalt aufgetrennt. Zerrissen in tausend Stück Stoff. Die hat sie wild durcheinandergemischt in einem Muster. Dass wir unerkennbar werden und alle Zeichenleser verwirren. Sie war eine gute Hausfrau und tolle Schneiderin. Aber der Schuster bleibt bei seinen Leisten. Unsere festgenagelten Stiefel hätten uns verraten. Also haben es eben die Bauern gerichtet. Bastarde wurden wir in ihren Augen. Überläufer, Gestaltwandler, Zigeunerzauberer, die noch nicht mal Zigeuner waren. Weil wir alles gleichzeitig und damit nichts waren. Und was haben sie gemacht gegen die Hybriden in Graz? Sind zu den Beamten gegangen. Deren Gestern war ja auch schon lang vergangen. Einen ordentlichen Schinken vom schwarz geschlachteten Schwein auf den Katheder. Und schon ist er gerollt, der Vaterkopf, mit Telleraugen, vom Amischafott, vor die Drecksbauernschuhe, der geflohene Südtiroler als Quotennazi. Alle sind sie hin zur Enthauptung und haben sich gegrüßt. Da sind die Heils nur so geflogen. Und hinterher Truemänner und Churchills und Stalins. Der braune Rost nagte schon wieder in die Kirchenstatuen und amerikanischen Blasinstrumente hinein bis Rock ’n’ Roll. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen. Mah, Nina, so super, was für ein Selchroller. Und erst dieser Weinstein am Flaschenboden. Na, gehts uns nicht gut, heute? Bist jetzt schon fertig mit der depperten Arthofer HC?«
12
Kurti und die Rinder
Lena spitzte auf die Töpfe. »Tafelspitz«, sagte ich und tischte auf. »Spitze«, sagte Lena, schnitt die Tafelspitze einmal längs und zweimal quer. Sie tunkte die Messerspitze in den Apfelkren, spießte die Tafelspitzspitze auf, stippte sie zwischen ihre Lippen, sagte: »Es wär ja wirklich einsame Spitze.« Lukas und Johannes hielten inne in ihren Kaubewegungen. Der eine sagte: »Nanga-Parbat-Spitze, fast«, und der andere: »Everest-Spitze, sozusagen.« Ich zerdrückte ein Stück Fleisch zwischen Zungenspitze und Gaumen, brauchte gar nicht zu beißen. Die Fasern gingen einfach auseinander. »Ja, quasi, wenn der Typ nicht so ein Saubär wär«, sagte Lena. Ich fragte sachte nach, was sie meine, ärgerte mich ein bisschen. Das Bewegen meiner Kiefer beim Sprechen sah sicher aus, als kaute ich. Lenas unvollständiger Satz sprach Kurtis Fleisch die Weichheit ab. Einmal bisher sei er hier gewesen und habe seine Kesselheiße gemacht, setzte sie an. Begeisterung sah ich funkeln in den Augen der Kinder. Verzückt schauten sie auf ihre Teller, als lägen wieder diese Würste darauf. Und selbst musste ich schnell ein Stück Tafelspitz zwischen die Zähne schieben, um mich zu vergewissern, dass der Fettabglanz auf dem Silbermesser zwischen meinen Fingern wirklich Rinderfett war. All meine Bissigkeit ließ ich ab in die Tafelspitzfaser, knackte ordentlich drauf mit den Backenzähnen. Sagte sie jetzt, dass sie lieber Kesselheiße hätte, oder was? Dass Tafelspitz nicht gut genug war für die Kinder oder wie? Dass Onkel Kurti mal wieder vorbeikommen sollte für die Kesselei?
Aber nein. Sie schwadronierte einstimmig dahin, von links nach rechts die Gabelzinken schweben lassend, selbst ihr bester Dirigent, dass sie am nächsten Morgen im Schwesternzimmer gerade den Kaffeekannenschnabel senkte, gluckernd den nachtdienstverbrannten Satz in ihre Tasse kippte, von der glühheißen Brühe nippte, sich noch wunderte, wer die Platte, den rotblinkenden Kunststoffkippschalter, die Kaffeemaschine über Nacht angelassen hatte, als die diensthabende Schwester herantrat, fragte, wie die Kesselheiße gewesen war, und lachte. Bei der Visite, vor dem Bett eines Unfallopfers mit Verbrennungen dritten Grades, musste sie sich dann vom Intensivmedizinkollegen volllabern lassen, da habe jemand seinen Kessel wohl zu heiß gemacht. Dazu ließ er die Klemme des Klemmbretts gegen das Brett knallen und sein Gaumenzäpfchen lachend wackeln. Dann saß sie in der Spitalskantine jemandem gegenüber, den sie nicht mal kannte, von dem sie nur wusste, dass er auch an der Oberland-Unterland-Grenze wohnte, sein debiles Gesicht durch diese schreckliche Gegend schleppte, ebenso wie sie Tag für Tag die Stunde den Fluss hinunter und hinauf pendelte, weswegen sie jetzt auch endlich wieder wisse, warum sie keiner dieser verschissenen, vertratschten, stammtischhaften Fahrgemeinschaften angehörte, lieber alles alleine stemmte einschließlich der Gabel zum Mund. So schlecht schmeckte dieser Kantinenspinatkartoffelmischmasch, dass sich die Schwerkraft einfach verdoppelte und nochmal verdoppelte und nochmal bis in die Unendlichkeit, kaum hebt man eine Portion entgegen den eigenen Lippen.
Lena hatte sich jetzt richtig in Rage geredet, schlitzte die Luft inzwischen mit Gabel und Messer gestikulierend auf, stach auf unsichtbare Gegner ein mit einer Wildheit, dass Lukas und Johannes quälend langsam Messer und Gabel sinken ließen. Die Rindstücke steckten noch auf den Zinken, der Apfelkren rann den Kindern langsam über das Heft und die Messergriffe an die eigenen Finger. Nicht zum ersten Mal beschlich mich der Verdacht, für die beiden das Rauchen aufzugeben hätte nicht unheimlich viel Sinn ergeben. Mit kurzem Klappern ließen sie dann das Besteck auf die Tischplatte fallen, als Lena wieder zustieß, die Gabel in ein Stück Rind hieb, mit dem Messer auf dem Porzellanteller fuhrwerkte, wo nichts mehr zu schneiden war, sagte, sie habe ganz gedankenverloren in ihrem Essen herumgestochert, da habe ihr Kantinengegenüber, das diesen Scheißfraß schaufelbissenweise in sich hineinstopfte, doch tatsächlich mit vollem Mund, schmatzend und spuckend gesagt, sie solle sich nicht so haben, sie sei hier eben nicht in Kurtis Kesselei. Als sie dann zum Herrn Primar ging, um ihren Antrag auf Gehaltserhöhung unter vier Augen zu besprechen, habe sie vernehmen müssen, ihm sei zu Ohren gekommen, sie, Lena Heehrmann,