Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


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nebeneinander, gestreift.

      Auf eins. Die Ritz D flog über das hintere Brückengeländer hinweg, nach vorne, stetig steigend, in einer halbellipsoiden Bahn, wie ein Regenbogen. Ihre Kurve erreichte und durchquerte ihren höchsten Punkt, Ernstl in Verlängerung gen Himmel gedacht, gescheitelt passierte die Ritz D die Zwölf. Sie trat über das vordere Brückengeländer hinaus den Sinkflug an, bewegte sich vor Bäumen und Bergen durch Lindenlaubschatten in Bronze und Schwarz, dazwischen feuerrot und golden schimmernd, als flimmernder Strich über den Fluss, die farbige Variation einer Sternschnuppe. Nur verglühte sie nicht, sondern verharrte, die Eins erreicht, zwischen Ende und Anfang zweier sich fast berührender Lindenblätterschatten. Wie einander zugewandte Gesichter waren die anzusehen, dazwischen ein sanduhrförmiger Lichtfleck, wie geschaffen für eine Ritz D, die schwebte und fernblieb dem Grund verrieselter Zeit. Die Fliege zuckte schon in der Luft, glänzte, tanzte, lebte, bevor sie ein weiterer Ruck erfasste.

      Auf elf. Ehrfurchtsvoll trat ich zurück, tumb, stolpernd fast, nur einen Schritt. Wegen des Klack-Klack-Klack der Spule glitt mein Blick zurück, nach unten, die Stange hinab. Zu drei Vierteln umklammerten den Korkgriff Ernstls vier Finger. Sie ließen die linke Seite unberührt, die war für den Daumen reserviert, der die neongrüne Schnur presste gegen Kork. Er hob sich jetzt, ließ die Schnur frei, die sogleich aus Ernstls linker Hand und unter seinem rechten Daumen hinweg durch die Ösen sauste im Schwung der Stangenspitze. Sobald die sich halbwegs entladen, die Kraft fast verbraucht hatte, justierte der rechte Daumen beim »und« von »zwei-und-zwan-zig« die Schnur wieder gegen den Kork, damit die restliche Energie die Schnur strecken konnte auf elf hinter Ernstls Rücken. Seine Hände zitterten zwar sehr, doch hinderte ihn das in keiner Weise. Die ersten vier Finger seiner Linken knickte er, und die Schnur lief die Glieder entlang, dann durch unter dem gehobenen Daumen der rechten Hand, die auch die Stange umfasste. Mal hielt der Daumen rechts die Schnur fest an den Kork gepresst, während die Fingerglieder der linken sich schlossen, klack-klack-klack mehr Schnur von der Spule rissen. Das war immer dann, wenn die Fliege gerade beschleunigte, den Anfangspunkt ihrer Bahn verließ, der gerade noch der Endpunkt gewesen war. Mal öffneten sich die Finger, und ihre ersten vier Glieder bildeten aneinandergehalten eine Rinne, über die es dahinlief neongrün. Ernstl hielt seine linke Hand also mit der Rückseite zum Boden, die Fläche nach oben, als würde er etwas hochhalten. In Wirklichkeit arbeiteten und entspannten bloß die Finger, zumindest ihre ersten Glieder, während der Daumen sich von der Schnur hob, damit sie frei durch die Ösen schoss, bis er sie wieder ausbremste, gegen den Kork presste, die linke, klack-klack-klack, Klänge für den nächsten Wurf abspulte. Je länger es ging, je länger Ernstl warf, je mehr Schnur schon über ihm war, umso mehr ging, umso länger wurde der Wurf, umso mehr Schnur konnte Ernstl pro Stangenschwung in die Luft bringen, weswegen die Intervalle der linken Hand immer länger wurden, ergo immer mehr Meter Schnur abgespult wurden, und bald wartete so viel davon auf das Loslassen der Fingerglieder und das Heben des Daumens, dass Ernstl die Schnur zu doppelten, dreifachen und vierfachen Klängen geschlungen hielt. So vermied er, dass sie über die Straße schleifte beziehungsweise zu Boden hing und auf hartem Asphalt Schaden nahm oder sich verknotete in den Phasen, wenn der Daumen gerade am Kork ruhte, wenn Ernstl die Schnur gerade nicht in die Ösen entließ. Jetzt öffnete er die Handfläche wieder, hob den Daumen, gab frei, was er zuvor gesammelt und zusammengerafft hatte. Das war immer dann, wenn die Fliege gerade verlangsamte, den Endpunkt ihrer Bahn erreichte, der gleich wieder der Anfangspunkt sein würde, markiert sodann durch Daumensenken und Fingerschließen. Und so bildeten Ernstls zwei zitternde Hände ein versetztes Zusammenspiel, ein Laissez-faire aus Freiheit und Kontrolle, Tanzen in Ketten, Laufenlassen und Stoppen. Und ich trat baff noch einen Schritt rückwärts.

      Auf Eins. Der Daumen ging nieder, die linke Hand zog, die Spule spulte ab, klack-klack-klack, die Fliege flog, die Schnur streckte sich, das Vorfach, so hauchdünn und schmal, wurde gegen den Luftwiderstand in Schlaufen geweht. Die Fliege, schwerer und schleuderbarer, schnellte voran, zog das im Licht orangefarben schillernde, im Schatten transparente Vorfach hinterher. Es war noch in liegende Achten gefaltet. Im Luftstand zwischen Schnurende und Fliege, die ihren Schwebepunkt längst erreicht hatten, breitete sich das Vorfach sekundenweise aus. Jeder Millimeter Schlaufe strebte in die Gerade, halb zog die Fliege das Vorfach, halb schob das Vorfach die Fliege. Jedenfalls brauchte es doppelt so lange wie die Schnur, obwohl es nur einen Bruchteil der Länge maß, zwei Ernstlarmspannweiten das Vorfach, das Neongrün hingegen ein Dutzend Meter zwischen Ende und Spule inzwischen. Ernstl hob den Daumen, öffnete die Fingerglieder und dann lief nochmal Schnur hinaus. Die Fliege hielt, Neongrün und Orangenabglanz, austariert, in Schwerelosigkeit balanciert, die Fliege voran, alle Schnur und das Vorfach durchgereckt, Daumen nieder, klack-klack-klack, Ernstl ließ die Fliege nicht fallen, hielt sie hoch, zog nochmals zurück, klack-klack-klack, schwenkte seinen Arm auf elf wie einen Uhrzeiger, und ich tat noch zwei Schritte Richtung taufrischem Ufer, näher zum Fisch, und ein-und-zwan-zig, die Schnur an Ernstls Torso vorbei, Gebetsroither Wurftechnick, untendurch, die Fliege hinterher, haarscharf verfehlte sie das Geländer, an Ernstl vorbei, das hintere Geländer touchiert, die Ritz D überholte die Schnur, die streckte sich, zog das Vorfach nach, Ernstl hob den Daumen, gab wieder Schnur, erneut im Steigen begriffen die Fliege, zwei-und-zwan-zig. Und noch zwei Schritte zurück, in die Böschung seitlich der Brücke hinein, die Tropfen an den Gräsern benetzten meine haarigen Beine zwischen Sockenaufschlag und Hosennaht, und hinter Ernstl die durchgestreckte Schnur, und das Klack-Klack-Klack, der Daumen schon wieder unten, ein langer Bund Schnur zu achtfachen Klängen in Ernstls linker Hand, den rechten Arm auf eins, obendrüber die Fliege, jetzt, und wieder, das Strecken bis in die Spitzen der Ritz D, hintereinander, Stangenspitze, Schnurspitze, Vorfachspitze die Ritz D und Vorfach und Schnurgeben, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig, saust das Neongrün durch die Ösen, schiebt das Vorfach weiter nach vorn wie die Fliege, das Schummern in Rot und Blau und Grün und Orange und Violett und Indigo und die Fliege selbst wie eine Regenbogenfarbabfolge, halbelliptisch dirigiert Ernstl die Schnur wieder hinter sich, untendurch und obendrüber, und klack-klack-klack, und eins, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig und fast schon unten war ich am Wasser, beinnahe im Schilf, im Begriff, den Kescher zu wässern, begriff, dass es vergebens war, Ernstl Bünde in die Lüfte ballern würde, bis der Wurf eines vierundsechzigfach gefalteten Klangs hinter jenen Stein gelang, den Volki zu seinen Füßen, von dort unten aus, von der einige Dutzend Meter flussabwärts entfernten Brücke anfischte.

      Auf eins den Arm. Ernstl reißt an seiner Schnur, klack-klack-klack-klack-klack seine Spule, wie ein Elektriker sein Kabel faltet Ernstl seine neongrüne Schnur in der Linken zu Klängen, hebt den Daumen und es saust aus der Hand am Korkgriff entlang unter dem Daumen durch in die unterste Öse hinein, weiter dahin im Ösentunnel, vorbei an den zwei Nahtstellen seiner zusammensteckbaren Stange und erst bei der letzten Öse aus der vibrierenden Spitze hinaus, weiter über den Fluss vor dem Hintergrund schattigen Laubs, und Lichtstreifen fallen ein, die zerteilen in Nichts und Schein das Vorfach, das von der Schnurspitze vor sich hergetrieben, wie am Riemen gerissen wird, so schnell fliegt die Schnur, dass das Vorfach gar nicht hinterherkommt, gegen die Luft in Achten komprimiert wird, bis es sich dann, vom Vorschlagen der kompakteren, schnalzenden Schnur, bewegt, langsam aufmacht sich auszubreiten, sich in die Gerade streckt, die Schnurspitze schwebt vor einem Lindenblatt und das Vorfach mit der Fliege daran passiert das Licht, glänzt auf, verschwindet im Überholen, gleitet flussabwärts in der Luft, glitzert fort, fliegt in den nächsten Schatten hinein, scheint vor Bergen wieder auf, reflektiert das Sonnenlicht, verschwindet vor dem nächsten Lindenblatt, bringt die Fliege voran, die jetzt ausgestreckt, in ihrer Bahn gestoppt, Manneslängen über dem hinwegrauschenden Fluss und dem Strömungsschatten des Steins darin, vor den ewig grau weilenden Kalkalpen, unter der nur dieser Tageszeit rot scheinenden Sonne, zwischen zwei frühlingsfrischen Lindenblättern in der Luft, von einem Lichtkegel eingefasst, steht, blau und grün schimmert, in Richtung Ernstl das konische, schwarze Köpfchen dreht, flussaufwärts schaut, wohin das Vorfach strebt, vom Ösenknoten in die neongrüne Schnur übergeht, die wiederum zurückfindet die gen Himmel gestreckten, reihenweise auftauchenden Baumstämme entlang, über die spannungsvoll vibrierende Stangenspitze durch die Ösen den vertikalen Karbonfaserschaft hinab in Ernstls horizontal gehaltene Hand, in seine eine Rinne formenden, zitternden vier Fingerglieder, die anderen vier Finger sicher und fest um den Korkgriff gelegt, der Daumen geht nieder, fixiert die Schnur, die rechte Hand schon wieder im Begriff.

      Und noch einen


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