Die Forelle. Leander Fischer
die Sohle nicht mehr tallängs. Direkt über die Grate kam der Sturm, heulte als Fallwind die Hänge herunter, die Böen pfiffen lotrecht der Felsenketten, schier aus Kurtis Fleischhauerei, trieben die Schneewehen und mich vor sich her, peitschten mir die Mantelschöße um die Knie, meinem Schritt voraus, bissen mir frostig in die Kreuzbänder, rauften und rissen mein Haar, beutelten in meiner Hand das Plastiksackerl, hoben es in die Horizontale, flatterten kiloweise Fleisch wie nichts, die Halter schnitten mir in die Fingerglieder, die Kälte kroch mir in die Knochen. Die Gestalten neben mir in der Schlange schlotterten, Troddeln an Zipfelmützen und Schalfransen wehten mit mir, ihr Anblick zerschlissen und zerfasert wie auf einem Bildschirm voll schlechtem Empfang, abgerissene, aber pfiffige Provinzler im rauen Auflachen der Böen. Engmaschige Skimasken bedeckten Gesichter, Schalknoten hielten rüstig geschnürt um Hälse, auf und ab schwebende Fäustlinge schüttelten sich immer wieder neu anhäufenden Schnee ab. Der Wind nahm ihn bereitwillig mit, stieb die Flocken in meinen Blick. Riesige Stiefel steckten knöcheltief fest, hoben und senkten, schritten, schrammten Farbverläufe ins allesbedeckende Weiß, vor meine Augen, während das Metrum der Böen das Schauen strichlierte. Der Rhythmus der Windstöße zwang mich zu blinzeln, interpunktierte während des Vorwärtswehens das Ansehen der Leute, das ein paar Takte Sturmpause wiederherstellten. Im Wechseln des Liderschließens und Hinschauens lösten Schwarz und Weiß einander ab, kämpften um die paar Kleckse Braun, Grau, Jeansblau, die Farben der Kleider an jenen Einheimischen, die sich diesen Winden aussetzten. Ich schritt sie ab, passierte die Schlange und blieb selbst nicht stehen, ließ den Wind meine Ohren entlangpfeifen, sah noch einen anthrazitfarbenen Parka und spürte an den Lidern schon die Nachhut aus Schnee vorbeitreiben, erblickte beim nächsten Augenaufschlag im Gehen sehr peripher ebenjene anthrazitfarbene Fläche aus meinem Gesichtsfeld weichen, während sie schon verfranste an den Rändern, einerseits bedingt durch mein Vorangehen, verschärft noch durch ihr entgegengesetztes Bewegen, zusätzlich im unerbittlichen Rhythmus von Auftreffen und Abgleiten der flockenbringenden Böen. Ebenjene Schneewehe holte mich jetzt ein, strich über mein inzwischen klatschnasses Haar, während erst vor mir der letzte über mich hinweggefegte Weißstreif zum Schleier verkam, sich zur Wolke legte, in die ich hineinmarschierte, in deren Lichtung ein orangefarbener Arbeitsanzug erschien. Doch ich musste schon wieder die Augen zu Schlitzen verengen, Schritte setzen, Frost durchpochte mich, wie unter Heulen zum Ohr herein in mein Inneres. Brutal kickte das Orange den nächsten Anblick, äußerst im Augenwinkel. Ich wandte mich um, dass mir der Schnee erst richtig in Pupillen, Iris, Wimpern knallte, Kälte Schienbeine, Hüfte, Taille, Brustkorb, Schultern, Hals, Gesicht, mich weiß strich, der Wind mir fast den Mantel vom Körper streifte. Reflexartig riss ich den Unterarm vor die Augen. Als ich über meine Speiche hinweg dann immer noch Ellenbeuge bis Ärmelaufschlag die Hand des orangefarbenen Typen sich bewegen sah wie ein Schiffchen, begriff ich erst, dass er nicht etwa wie ich vorschützte, was sein Körper eben hergab, sondern dass er winkte, mir zugewandt stand. Er streckte den Zeigefinger, wies durch die groteske Szenerie, aus der innerhalb weniger Stunden die weiten Vorgartenflächen verschwunden, dünenartige Schneeberge im Luvstau der Hauswände aufgeworfen waren. Wieder dauerte es etwas, erneut verstrich der Schnee ein paar Anblicke, bis nicht etwa aus meiner Nase und meinen Haaren, sondern in meinen windverpfiffenen Schädel hineinsickerte, dass der Typ in Orange auf meinen Wagen zeigte, der einige Meter weit hinter mir, neben ihm quasi stand, eigentlich schon in Flocken aufschwamm, Aquaplaning unter null, Reifenprofilunterseite bis Radkappe Oberkante eingeschneit. Ich stemmte mich gegen den Wind, ging zu ihm hin, hätte vornüberfallen können, wäre im Schnee nicht mal weich aufgekommen, so krass stürmte es.
Dann war ich da und schrie: »Danke! Und jetzt?« Er hielt mir Schneeketten, »Gott hab Sie selig, danke«, und ich kniete mich hin, schaufelte barhändig weg den Schnee vom Vorderrad. Erst schmolz er noch an meinen Fingern. Dann froren die Tropfen vor Kälte schon wieder. Mein Fleisch wurde taub, es kribbelte, Haut aber labbrig. Wie Lappen bald patschten sie ins Weiß. Eine Flocke nach der nächsten weg. Rinker Leifen dann der andere. Es tat weh. Das Wedeln von Radkappen. Schnee im Blick. Tropfenschmelz in Nase, Rotzauge. Profilfreikratzen. Nägel biegen sich, frieren ein, Abbruch, Nagelwurz, sicher eingerissen, aber sah man bloß, spürt ich nicht. Und schon wieder Schneewehen rangefegt. Wie Zaunneuanstrich bei Regen. Meinen Buckel in den Wind. Flocken ins Genick. Gleichzeitig fritzte und schwor ich. Kette um Kautschuk jetzt. Die Spannung der Glieder. Fetzt Haut vom Finger. Kette flitscht. Reißt aus Handfläche. Glitschig aus dem Griff. Kein Gripp. Fitzelchen Hautfarbe. Angeeist daran. Bleich gedeckt fon Vlocken. Schlaff im Schnee liegt sie. Hand hätt ich da gerne paniert in einer Pfanne. Aber momentan ja eher Tiefkühlkost. Offen schon Hornhaut. Fleisch darunter. Blaukariert. Stücke schauen heraus. Pochen Blut in Blick. Aber noch diese Autopanne. Wieder probieren, Kette umlegen, Festzirren, festzusammen die Zähne aufeinander, Beißen. Hochziehen. Meine Finger immer kribbeliger. Einlegen, anschnallen. Erster Handgriff keineswegs Zündung, sondern heizen, dann erst Gaspedaltreten und im Rückspiegel die Schneefontäne aufstieben sehen, außerdem Windschutzscheibe voll Schnee, im Seitenfenster die ganze glotzende Schlange. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, und wieder raus in Frost, so wie schachen unb lauen undeteiligt. Wischi waschi Windschutzscheibi free. »Scheiße, Scheiße«, krieg ich gegen, kick ich drauf, auf Kette auf Reifen kein Aufgehen. Einfach lassen, es raustreten, gegen Vorderrad. Verdammt. Mit Zahn drauf, Beißen, ein bisschen, Schrauben aufschrauben, bloß legen die Ketten ab, Fingerverbleiben, es meidet nicht aus, auf, au, fuck, rauf, hinten, hinten wieder drauf, im Luvstau vom Vorderrad, ma duss nam micht graben, eh fast schein Knee, verziehen jetzt, Reißleine ziehen, Finger auftauen lassen, Schmerz dann erst lichtig reim Benken, zwar Leder aber eigentlich Granit, beißen.
»Boah, sieht das geil aus, da, man sieht das Fleisch, darf ich reindrücken, spritzt dann Blut?«, sagte Lukas, wie ich mir schon hatte denken können, und Johannes sagte: »Du musst Handschuhe anziehen, Papa«, doch jetzt nicht, wenn das Blut gerinne und das Gewebe verwachse mit dem Handschuhfutter, im Hinterher, immer besser wissen, was im Vorher angemessen gewesen wär, und Lena, als ich sie mit offenen Händen empfing: »So ein großes Pflaster gibts gar nicht.« Also holte sie Betaisodona, Mull, Verband, Nadel, Faden, auf dem Gasherd waren die vier Feuerstellen besetzt, Wasserbad, gusseiserne Pfanne, Edelstahltopf, Schneidbrett, also holte Lena auch noch Sterilisation, legte alles auf den Tisch, setzte sich, mir gegenüber, schaute mich an.
»Armes Wehwechen.«
»Ich werd tapfer sein, versprochen.«
»Ich sagte armes Wehwechen, nicht armes Kerlchen.«
»Berichtig mich hier nicht.«
»Ich berichtige mich.«
»Vielleicht schrei ich.«
»Wunden haben ihre Berechtigung.«
»Die Beinscheiben sind so weit, Kartoffeln kochen auch gleich.«
»Hätte mich schwer verwundert, wenn du fertig wärst.«
»Ja, los, mach mich fertig.«
»Ich steche jetzt durch, schau ruhig hin, hier kommt die Nadel.«
»Wirds wehtun?«
»Wenigstens wird sie ganz sicher keine hässlichen Narben schlagen.«
»Wie viele?«
»Schätzomativ zwei, aber wenn wir jetzt nicht langsam anfangen.«
»Ist sie desinfiziert?«
»Sind die Kartoffeln geschält?«
»Was, wieso, nein?«
»Und gewaschen?«
Ich schüttelte den Kopf.
Lena warf die Nadel zu den Erdäpfeln ins Wasser.
»Wenn ich deinetwegen Wundstarrkrampf kriege.«
Sie fischte die Nadel mit zwei Gabeln wieder raus und setzte an.
»Ja, dann verreckst du.«
Mit Fäustling und Verband reihte ich mich gerade noch rechtzeitig ein, die letzten Sätze aufzuschnappen vom geigenzartbesaiteten Herrn Musikschulprofessordoktorengattentrottel. Beim Schneekettenanlegen habe er sich die ebenholzgewöhnte, mahagoniverwöhnte Waschweibhand aufgerissen, die Finger verzogen und das Nagelbett zerfetzt. Er wusste nicht mal, wo die Ketten anzulegen