Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


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Stunde für Stunde, Jahr für Jahr, als Paul dann sagte, aha, so sieht er also aus, dieser Ambroise Vollard, in seine zerschlissenen Schuhe schlüpfte, das Modell einfach sitzen ließ, jedes Leben von ihm abgezogen, und sich aufmachte ins Gebirg, immer wieder hinging, sich in diese Hütte einquartieren ließ, um Lichtquanten vom rauen Fels mit Pinselpalette und Pigmentstafette zu fangen und sich selbst vor die Augen zu stellen, wie ein Insektenforscher vielleicht Schmetterlinge mit einem zarten Kescher aus der Luft fischte und sich selbst auf den Handrücken setzte extralanger Haxen. Weberknechtartig stakste das riesige Insekt dann den Finger entlang, gelangte über den Nagel hinaus, schon braun und nicht mehr schwarz, krabbelte von Kurti weg und die Thermoskannenkappe hinauf und strampelte dann in kaltem Kaffee. Sobald ich ihn an der Flügelscheide schnappte zwischen Daumen und Zeigefinger, sogleich schabten Geweih und Fühler über mein Nagelbett. Wie winzige Haken, die an mir zupften, das Rucken kleiner Beinchen, fast liebköstlich. Wie Maikäfer, wie Junischwärmer, wie das hingehauchte Licht der Glühwürmchen, so die Berührung dieses kleinen Kerlchens. Ich setzte das süße Ding ab. Es bewegte sich weg, langsamer jetzt, zu einem dämmernden Grashalm hin. Er stellte sich auf die imposanten Hinterbeine und trank den Tropfen Tau zwischen seinem Geweih. Muschelmundartig öffneten und schlossen sich seine beiden Scheren, Schaufeln oder was auch immer. Wie die meisten Menschen hatte ich noch nie einen gesehen, geschweige denn berührt. Doch nun war die Existenz des Riesenkäfers bewiesen. Ich nahm den finalen Schluck Kaffee. So gut hatte der noch nie geschmeckt. Kein Krümelchen Satz darin. Ich war verzückt. Kurti steckte sich den letzten Tschick ins schwarze Gesicht. Er schaute zu der Eiche auf, die uns beschattete, zum Rohrdickicht hinaus, hinter dem der Wildwechsel in der Dämmerung lag, nickte und nuschelte.

      »Also nochmal.«

      »Ja?«

      »Warum kommst du nicht mehr zu mir?«

      »Ich hab einfach keine Zeit mehr.«

      »Seit du bei Ernstl lernst?«

      Und dann begannen hinter der Lichtung die Gipfel zu glühen. Das Strahlen strich von den Graten einher und legte sich auf die Wipfel. Zu allen Seiten wuchsen und blühten Linden gen Himmel. Ihre Blätter siebten zunehmend das Licht. Das Gestirn schwang sich als zinnoberroter Feuerball empor. Die Luft war erfüllt von Flieder, Märzenbechern und Hyazinthen. Bis an die Füße der Alpen lief die Straße über die Brücke schnurgerade hinweg. Der Asphalt bildete eine Einflugschneise für den Sonnenschein. Der Strom floss majestätisch mächtig darunter. Der rauschende Flusslauf lag vor uns in Herzblutrot, unterbrochen nur durch die Lindenblattschatten. Es waren bloß kleine Schwachstellen ganz normalen Wassers in unserer Sage voller Unbesiegbarkeit. »Die Allerallerwichtigsten …« – »Jaja, die Weibchen, wegen der Eier«, gab ich wieder, was ich zum zirka tausendsten Mal vernahm, »die kapitalen Weibchen. Die sorgen für Nachwuchs«, verbesserte mich Ernstl, aber zum ersten Mal sah ich, was mehr als jede Lehre war, dieses infernalische Bild. Der sich bis zum Kalkalpenfelsansatz windende Styx, die Höllensymphonie des plätschernden, murmelnden, singenden Wassers. Wo es gegen Steine stieß, warf es in die Luft Perlen, die das schräg einfallende Frühlingssonnenaufgangslicht regenbogengleich brachen, jedoch die Farbpalette satt ins Rote gestrichen. Und Ernstl sprach: »Das letzte Ziel ist eigentlich ein Fluss, in dem nichts mehr zu fangen ist. Alle Fische so oft gehakt, dass man sie nie wieder dranzukriegen vermag. Aber bis dahin«, erstens nahm er die Ritz D zwischen Zeigefinger und Daumen der linken Hand, zweitens hakte er die Fliege aus der untersten Öse der Stange, die er rechtens hielt. Drittens trat er so weit von der Brüstung zurück, dass sie den wachsamen Forellenaugen seine Armbewegungen verdeckte. Viertens stellte er sich anders hin, setzte den linken Fuß voran, im Knie leicht gebeugt, den rechten gestreckt zurück, wie ein Skispringer den Telemark. Fünftens ließ Ernstl die Ritz D mit beiden Fingern gleichzeitig los, weniger eine Handbewegung als das plötzliche Auseinandergehen zweier Zangenschenkel. Bevor die Fliege noch der Schwerkraft nachkam, in dem einen Augenblick, da sie schon schwebte, aber noch nicht fiel, begann Ernstl sechstens zu werfen flussabwärts. »Schau ihn dir an, den Volki, so ein Sepp, wie der so gut fängt«, Ernstl wies mit einem Nicken in Richtung der nächsten Brücke. Ihre Silhouette zeichnete sich Dutzende Meter tallängs schräg zum Sonnenaufgang ab, »es muss mit dem Teufel zugehen.« Ein hoch aufgeschossenes V von einem Oberkörper war zu erkennen, ein schmaler, flimmernder, vertikaler Strich markierte die Rute, ein beschattetes Gesicht, eine Krempe hineingezogen, im Hutband eine Hahnenfeder, »seine jämmerlichen Versuche, flussaufwärts den Strömungsschatten eines Steins anzufischen«, ein Vorfach schimmerte diesseits der unteren Brücke orangefarben in den Lavastrom, denn erstens wollen Forellen kaltes Wasser. Zweitens erwärmt sich Wasser, wo es steht, am schnellsten. Drittens wollen Forellen also rasendes Wasser. Viertens wollen Forellen aber nicht gegen die Stromschnellen schwimmen. Fünftens wollen Forellen also stehende Stellen im rennenden Fluss. Sechstens brauchen Forellen sauerstoffreiches Wasser. Siebtens können die H2O-Moleküle umso besser O binden, je größer ihre Oberfläche ist. Achtens lässt sich eine Oberfläche auffächern, indem sie gefaltet wird. Neuntens wirft Wasser die meisten Falten, wird am weitflächigsten aufgespalten, wenn es auf Hindernisse trifft. Zehntens wollen Forellen also kühle Moleküle, die über Steine rinnen und Schottergründe hinab in Flüssen Kaskaden bilden, aufgewühlten Sprudel, aber so, dass sich hinter einem Stein, wenn das Wasser wieder sauerstoffgesättigt weiterrinnt, ein Strömungsschatten ergibt. Da stehen also diese Forellen. Und elftens lieben sie den Schatten, da ist das Nass dann noch etwas kälter. Zwölftens fallen von Ästen Insekten ins Wasser. Dreizehntens fressen Forellen Käfer. Stehen also vierzehntens unter astbeschirmten Stellen hinter Steinen im Schatten ausgesetzter Strömung flussabwärts der Kaskaden. Fragt sich nur fünfzehntens, wie fischt man die an? Wie komm ich an die kapitale Forelle ran?

      11 Siegi versucht sich in der

      ernstllosen Zeit zurechtzufinden

      Jeden Tag ging ich an einer ungemein perfekten Stelle vorbei, seit Ernstl nach Graz abgereist war, und überlegte. Vom jenseitigen Ufer hingen Trauerweidenzweige in die Wasseroberfläche, genau neben das Gestein, es ragte aus dem Fluss. Davor bildete sich eine sprudelnde Untiefe, die seitlich des Brockens die Strömung beschleunigte und die Zweige noch mehr in den Schatten trieb, den Stein zum Fliegengrab verwandelte, die Stelle dahinter umbrachte, ein toter Winkel, unfischbar unter Trauerweidenzweigen. Einen Vorhang bildeten sie dort, nahtlos. Eintreiben lassen konnte ich also vergessen. Selbst wenn ich es schaffte, die Fliege dorthin zu dirigieren, der Stein war genau in der Mitte des Flusses, ich hätte einige Arme Schnur auf dem Wasser, die in der schnellen Strömung abtreiben und die Fliege wieder hinter dem Stein hervorziehen würden. Aber daran war ja gar nicht zu denken, weil die Äste mir den Wurf verstellten. Die andere Flussseite war nicht zu betreten, dort wucherten Pflanzen und hinter einer steilen Böschung hob eine Pferdeweide an. Den Zaun durchströmte Elektrizität. Den hätte ich erst überwinden, mich dann an den Gäulen vorbeischleichen, die Böschung hinunterschlagen müssen. Das sprach nicht für sich. Ich überlegte, die Fliege ins hinterste Eck den Fluss hinaufzuwerfen, sofort Schnur nachzulegen, die zu mir heruntertriebe und die Fliege vom anderen Ufer her in einem Bogen vor den Stein ziehe. Aber was dann? Wenn er so bisse, der Fisch, straffe sich die Schnur, lege sich flussaufwärts um den Stein – und risse. Mindestens auf sechzehn müsste ich mit dem Vorfach hinaufgehen. Vergiss es. Das sieht der Fisch. So ging ich tagaus, tagein den Fluss ab und überlegte. Die Stelle war zu perfekt, sie nicht zu befischen. Natürlich stand da der Gigant. Zeitweise sann ich darüber nach, was wäre, wenn ich ins Wasser watete und die Weidenzweige einfach abzwickte. Aber das machte ja nur die Stelle unattraktiver. Die Ameisen würden dann nicht mehr vom Baum ins Wasser fallen. Außerdem hat das Knacken einer Stelle nur dann ihren Reiz, wenn sie möglichst schwierig zu befischen ist. Und ich, jetzt noch Schüler, würde die schönste Forelle ganz ohne die Hilfe des Meisters erwischen, dann selbst schon Meister. Insofern war ich sehr glücklich mit Ernstls Abwesenheit und meinen quälenden Gedanken, wie denn zu fangen wären die Fische hinter dem Stein. Bewegung tut solcher Überlegung gut, und so ging ich auf und ab den Fluss, die verschiedensten Stromschnellen und Gumpen, Kaskaden und seichten Äschenpassagen, Saiblingsstellen, Sandbänke und Wildränke entlang, immer nur den einen Stein im Kopf. Wenn ich dann müde war, die Sonne hitzewallend den Zenit erreichte, kehrte ich in den Gasthof ein, auf die ebenerdige Holzveranda. Ich blickte versunken ins Wasser, sah mir die großen, schon jahrelang dort


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