Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


Скачать книгу
an welcher Achse der Antrieb saß. Vielleicht ist einem ja sogar bekannt, dass der Mercedes ein Hinterradler ist, dafür aber nicht, brachte noch jemand an, dass Schneeketten an Antriebsrädern anzubringen sind.

      »Siegi.«

      »Kurti.«

      »Wie gehts der Familie?«

      »Noch alle vollzählig.«

      »Nimms nicht so schwer. Ist quasi dein Einstand.«

      »Danke, Einstein.«

      Auf dem Heimweg machte ich dann noch einen Abstecher durch die Marktgasse, ratterte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor dem ehemaligen Frisiersalon, der noch gut zu erkennen war an der zerdepperten Scheibe. Ich parkte auf der anderen Straßenseite hinter einem Entrümpelungscontainer, trat an das Schaufenster heran, sah den Stein zwischen den präsentierten Haarpflegeprodukten liegen sowie den Schriftzug Kauft nicht bei Pudeln, an dem ein älterer Herr tüchtig Hand anlegte, mit einem nach Frostschutz riechenden Lappen lustig wischte und mit einer Rosshaarbürste kräftig schrubbte. Dazu pfiff er eine heitere Liedchenmelodie und die Putzutensilien schienen sich im hopsenden Rhythmus der Töne zu bewegen. Kratzen und Quietschen überlagerten immer wieder das Pfeifen. »Lippenstift«, sagte er, als ich näher trat, »geht echt schwer weg.« – »Wie wärs mit einem Drahtwaschel?«, sagte ich, woraufhin der Herr innehielt, mich durch seine Brille musterte, eine hauchschmal gezupfte Augenbraue hob, die bis eben noch verborgen gewesen war hinter dem Nickelgestell, versteckt und erst durch das Wundern zur Anschauung gebracht. »Das macht mir ja die Türe hin. Zerkratzt das schöne Holz. Schauen Sie sich diese Maßtischlerarbeit an. Was für ein Geschäftslokal!« Auf seinem rechten Brillenglas machte ich die Spiegelung eines Kleintransporters aus, der vor dem Entrümpelungscontainer stand. Ich wandte mich danach um, sah auf dem Wagenblech den Schriftzug Brille, Bella?!… »Da hat aber jemand einen super Werbedesigner«, sagte ich, ließ meinen Blick zurückschweifen über das Marktgassenkopfsteinpflaster, die Fensterscheibe, deren Reste das Winterlicht fingen, davon erleuchtet waren und in ihrem Strahlen, zwischen all dem Gleißen eine durchsichtige, hakenkreuzförmige Leerstelle ließen. Er lächelte und meinte, er sei eine Personalunion. »Dann machen Sie am besten noch einen Nahkampfkurs, dass es Ihnen nicht ergeht wie dem Vorgänger.« Er werde sich schon gutstellen mit den Leuten, ich solle nur kommen, er zeige es mir. Er trat durch die Ladentür, lockfingerte mich die Schaufensterscheibe entlang bis vor die Haarwerbepuppe. Er tauchte dahinter ab und sprach zwischen den Splittern heraus, ob ich sie sehe. Die den Wangen beigebrachten Tränen in schillernder, pinker, pigmenthaltiger, verkrusteter, sich fast dreidimensional abhebender Glitzerschminke hatten die Form von Sternen. »Sehen Sie sie?« Zu Füßen der Haarwerbepuppe waren die Scherben schon größtenteils aufgekehrt. Nur vereinzelt blinkte noch ab und an der mikroskopische Glasbruchstaub, den ein Fusselsauger wohl besser verschwinden lassen würde als der in die Ecke gelehnte Besen. »Diese Schönheit«, und erst jetzt fielen mir die wohlfeile Dauerwelle, die hohen Wangenknochen, die schwarz gewichsten Augenbrauen, der herzförmige Lippenschwung, der haarklein geschniegelte Schnurrbart der Haarwerbepuppe auf. »Nach seinem Lover hat er diese Puppe gebildet, aber die Leute reden immer nur über die pastellgelbe Kawasaki Ninja. Sie müssen zehntausend Dioptrien haben. Sie sehen die Schönheit nicht.« Dann reichte er mir die Haarwerbepuppe Haupt voran durch das klaffende Emblem der Schaufensterscheibe.

      Ich packte den Loverdoppelgänger an der Schulter, kalt und glatt fühlte sich die nackte Puppenoberfläche an. Erst als ich ihn am Tanktop anpackte, der Opticus das Kunststoffimitat losließ und ich das Ding durch die Scheibenbruchstelle hob, fühlte es sich menschlich an, nach einem Baumwoll-Polyester-Nylon-Satin-Gemisch-beschichteten Wesen. Ich tat ein paar Schritte rückwärts, schleifte die Puppenfüße über ein paar noch hochstehende Glasdreiecke, die teilweise herausbrachen und die Leerstelle dazwischen deformierten, dass sie eine plötzliche Zufälligkeit bekam, bloß ein ballistisch rekonstruierbarer Steinabdruck inmitten leuchtender, scharfkantiger Glasflächen. Der Opticus schickte noch, er brauche ohnehin eine neue, vielleicht eine optische, oder gar keine, als Witz oder so, und schmiss das Geschoss hinterher, ein weiterer Zacken der immer weniger werdenden Scheibe zersplitterte. Ich stand auf dem Trottoir, die Haarwerbepuppe im Schleifgriff, wollte gerade umfassen, um keine Leiche zu ziehen, sondern einen Tanzpartner zu wiegen, da war der Opticus aber schon durch das kaum noch existente Schaufenster getreten, hatte die Wange der Puppe geküsst, sie aus meinen Armen gelöst, über das Marktgassenpflaster gehievt und geschmissen in den Entrümpelungscontainer. »Sie alle werden die Schönheit sehen«, sagte er zu mir, »Sie werden es sehen«, und beim Einsteigen in meinen Mercedes sah ich durch die dreckige, frostkristallbesetzte und schneeflockige Beifahrerfensterscheibe den Schaufensterrest, einen messerscharfen Glaszahnsplitter, den schon Sprünge und Brüche durchzogen, die wiederum den Anblick des Frisiersalons dahinter rasterten und frakturierten, aufspalteten in Felder, aus der fließenden Mannigfaltigkeit der Fläche in die kleinkarierten Kästchen optischer Analysten, genauer Schauer und findiger Hingucker überführten, wie ein Kreuzspinnennetzsegment, durch das man blickte. Dann kam die Sonne hinter einer Wolke hervor und ihre Strahlung tauchte den Glassplitter wieder in Grelle, dass jeder Durchblick ausgeblendet war wie im Altweibersommer. So ließ ich den Motor an und die Beifahrerfensterscheibe hinunter, rief dem schon wieder munter weiterrubbelndem Doktor Opticus zu, ob er wisse, was aus dem Pudel geworden war. »Natürlich«, quittierte er. »Und zwar?« Der lasse sich nie wieder anschauen. »Ja, und weiter?« – »Nun ist der schönste Mann im Ort wieder Volki Hort.«

      10 Siegi hört eine Radiosendung über

      Kleinstarbeit am Rasterteil

      Erst unlängst hörte ich auf dem Kulturradiosender, der mir meine handkrampfigen finalen Tage versüßt, einen Beitrag über den französischen Maler Cézanne. Man weiß es ja eigentlich, es ist dann immer die Rede von der Kubisteninspiration, vom Aufstoßen der Türen, durch die Avantgarden stürmen, von Picassos fortwährenden Interpretationen der Cézanne’schen Motive und auch vom Porträt des Kunstsammlers Ambroise Vollard, eines seiner ersten und einzigen Förderer. Mit einer Stimme, dass man das Schmunzeln fast hören konnte, sagte der Radiomoderator, Vollard hätte nicht gewusst, worauf er sich einlasse beim Einwilligen, Cézannes Modell zu werden. Normalerweise nahm ein Gemälde damals ein paar Stunden in Anspruch, wiewohl der Künstler sodann ohne das Modell für unbestimmte Zeit an der vorerst hingehauchten Studie weiterarbeitete. Aber Paul Cézanne habe die Palette bereitgemacht, die Pigmente vermischt, die Grundierung aufgetragen, während Ambroise Vollard schon dasaß, womöglich ungeduldiger Miene, stutzend, wann es losginge. Aber Cézanne habe die ganze Leinwand gerastert, habe sie vorzeichnerisch in winzige, daumennagelgroße Dreiecke unterteilt. Vollard habe wahrscheinlich gefragt, ob er etwas trinken könne, schielend schon nach der Dienstmagd, sie bringe ihm doch sicher einen Kaffee, vielleicht auch einen Weißwein, je nach Tageszeit. Aber Cézanne habe das untersagt, habe gesagt, er trage jetzt erst die zweite Grundierung auf, er modelliere das Licht, zerteile es, wie es eben falle hier herein um diese Tageszeit, er strukturiere das Bild. Ach Paul, dann maltest du zwei Dreiecke aus und schicktest Ambroise weg. Morgen um dieselbe Zeit. Sage und schreibe zweihundertsiebzehn Sitzungen lang. Vierhundertvierunddreißig daumennagelgroße, Stunden auszumalen dauernde Dreiecke weit. Im Vorrücken des Minutenzeigers vernichtet die Tageszeit, den Blick geheftet nur auf das Modell, aber nicht auf Ambroise, sondern seinen Schatten, auf den Schein, ihn einzufangen bereit, keineswegs die Figur dahinter, finster aus dem Atelier herausgerissen, das dann dalag, bar des Lichts, fern der Sonne, vorbeigeschwommen im Verstrich des Tages, auf die andere Hausseite, woher kein Licht mehr fiel auf die dunkle, ebenholzige Kommode, auf Stores voller Stickereien vor den Fenstern, auf die Muster, von feuchten, runzlig gewordenen Tapeten auf die Wände geprägt, die fingerabdruckfettvolle Türklinke, den Teppich, der Atelier und Vorraum verbindet, es ist so weit, das Licht ist fort, und schickte Vollard wieder weg, der die Reihe durchgelaufener Schuhe entlangschritt, wohl dachte, ach, was könne er alles malen. Warum ausgerechnet mois. Morgen um dieselbe Zeit. Ja. Und dann wieder, und dann wieder, und dann wieder, ach Ambroise, armer Mann, aber wer hat dabei schon an Cézanne gedacht. Der saß da, in seinem Atelier, geschieden vom Licht, das die anderen Impressionisten suchten an feuchten Flussuferwiesen, bei Frühstücken im Grünen, auf der hauchigen, fast venendurchsichtigen Milchhaut von Frauen, blauunterlaufen, auf rauschenden Tanzvergnügen unter venezianischen


Скачать книгу