Die Forelle. Leander Fischer
auf die Auseinandersetzung, wie es immer war, wenn Widerstand sich regte, wenn Widerspruch aufkam und mit Worten, hier, innerhalb der Dorfgemeinschaft ausgefochten wurde, was in einem Friseursalon ja nicht mehr zu klären war. Besonders die Frau im Nerzmantel reckte ihren Hals in Richtung der Kontrahenten, während ihr Sohn besonnen, als müsse er noch über die Bemerkung von vorhin nachdenken, den Kalkalpengraten entgegenschaute, deren klare Linie immer wieder zerstieben wurde in Flimmern, Schneetreiben, aufgepeitscht von Winden, die es dort in mehreren tausend Metern Höhe viel wilder trieben, jauchzende und dem Novembernebelwolkengrau Weißwehen einzeichnende Geschwindigkeiten erreichten. Damit verglichen wirkten die sachten Windstöße hier unten, an den Bergfüßen, auf der Talsohle, eher wie ein kurzes Zusammenzucken, ein Zittern und Aufmucken, als müsste selbst die Luft sich hin und wieder ein bisschen bewegen, halbentschlossen in diese oder jene Richtung preschen, weil sie sonst fröstelte.
Ich tappte gleich ein paar Meter vorwärts in Richtung Kurti, weil ich den Schritt-für-Schritt-Watschel-Marsch der Schlange noch nie und selbst in dieser Eiseskälte nicht nachvollziehen hatte können, lieber länger an einem Fleck verweilte, um mein Bein dann weit ausschreiten zu lassen. Hinten hörte ich die Volksschuldirektorin noch darauf bestehen, dass sich der Heidinger ein ganzes Leben lang treu geblieben war. Als ich mich im Gehen umdrehte, sah ich Schnee von meinen Schultern fallen und handkantenhohe Pulverhaufen von den zu mir aufschließenden Hinterjemanden stauben, die selbst im Gehen weiterdiskutierten, sich gegenseitig Atemwolken ins Gesicht hauchten. Immer Landschaften gemalt hatte der Heidinger, außer einmal den Heinrich porträtiert, und unlängst wegen der unabweisbaren Namensgleichheit, Herkunftsverwandtschaft und Genieähnlichkeit auch den Freiheitlichen Parteivorsitzenden in Wien, der im Übrigen schon ihr Schüler und überaus talentiert gewesen sei, immer die Hauptrollen in allen Schultheateraufführungen bekommen habe, aber sonst habe der Heidinger stets unsere Gegenden gemalt besser als jeder Fotograf, auch wenn die Winde aus anderen, primitiveren, perversen Richtungen kamen. Während dieser blau einherreitende Russe da sich von der Landschaft wegabstrahiert habe in für jeden gesunden Menschenverstand unnachvollziehbare Höhen, habe Heidinger sich heldenbeispielhaft verhalten und es deswegen auch auf diese Peppiliste geschafft, verzeichnet wie wenige als unvernichtbar, damit unserem führungsbegnadeten, gottgelobten und für das Idealschöne beneideten Kulturvolk in der Alpenmark nicht die Genies und Geistesgrößen ausgingen, davonflohen oder wegflogen gen Westen oder, Jesus Maria, gar fielen wie die stürmischen Jugendheroen in den Auen, als der blutrote Supergau die Donau heraufnahte. Deswegen habe der Heidinger ja auch nicht ausrücken müssen zur Volkszählung, zur Musterstellung, zum anschließenden Krieg, weil man einer Nation nicht alles nehmen kann, weil es dem Land einfach nicht zumutbar war, dass es auf ihn verzichte, das habe der Peppi sehr genau gewusst mit seiner Liste. »Einrücken hätte er müssen. Die Front war eh schon vor der eigenen Haustür«, unterbrach sie der Mann im Trachtenjanker, das stelle er sich ganz schön witzig vor, wie der Heidinger mit Staffelei, Palette und Leinwand unterm Arm ausgerückt sei, irgendeinen Hügel hier in der Gegend bestiegen und sich auf einen Hocker gepflanzt und gewartet habe, bis sich die Sonne über die Berge schwang, die Schneeschicht morgens von den im Feld gebliebenen Körpern schmolz und einfach die Leichname seiner Kameraden stillschweigend in Büsche und Hecken und Sträucher verwandelt habe. »Die Toten liegen in den Wiesen und der Herr Heidinger malt menschenleere Landschaften. Der kann mir gestohlen bleiben.« Schon ereiferte sich wieder die Volksschuldirektorin, was wäre denn bitte mit den Wahlverwandtschaften Goethes, geschrieben während der napoleonischen Kriege, und dann käme allzu hämisch während Vietnam der bei uns nach Adis Kunstvorstellungen auf ewig Ade unmöglich gewordene und Hasta la vista geschickte Fotorealismus ausgerechnet aus den USA, blanke Wüsten und bis zum Spiegelreflex polierte Autokarosserien, was sei denn damit, dass die Leute gerade in den allerschlimmsten Zeiten die Weiden und das Idyll am bitternötigsten haben. »Was ist das denn wieder für ein Nazischeiß«, hatte Lena gesagt noch während der Heidingergeburtstagsretrospektive, und als dann der Abspann lief, dass ihr die Reporterin wirklich leidtue, so einen altväterischen Pinselstricher interviewen zu müssen, und sehr bestimmt von ihrem Rotweinglas getrunken, als wäre alles Sagbare gesagt mit diesem unanschlussfähigen Abkanzelsatz, lautstarkes Schweigen, indem Lena das Achterl auf die Tischplatte donnerte. Glücklicherweise hatte ich noch das Kokosbusserl im Mund.
Seine Tochter, sagte der Mann im Trachtenjanker, habe im Morgengrauen jener Novembersamstagnacht zu dem schwulen Friseur und dem Schmähspruch an der Tür Tränen entgegengehalten, habe hinter der eingeschmissenen Glasscheibe der echtlebensgroßen Haarwerbepuppe auf die Wangen Tropfen mit glitzernder Schminke gemalt. Sie habe die Augen wach und die Ohren aufmerksam offen eben Courage und echtmenschliches Mitgefühl gezeigt, Dinge, die mit Kunst in höchstem Maße und innig verquickt seien. Da könnten sich die Heidingers in Wien und Freiheitlichen Parteichefs in ihren Bärentälern und düsteren Forststrichen Österreichs und das ganze Packlgfrast mehr als eine Scheibe abschneiden. Darum ginge es. Das glaube sie nicht, sagte die Volksschuldirektorin, Empathie könne man auch mit Gegenden haben, mit Pflanzen, Gewässern und Tieren, was für ein jovialer Menscheninszentrumrücker er denn bitte sei, da muss man nur einen Vegetarier fragen, als ich endlich an Kurtis Theke mein Fleisch bekam, Beiried und Beinscheiben, die in Fettpapier eingepackten Teile in das mitgebrachte Plastiksackerl tat und den Rückweg die Schlange entlang antrat. Da habe er sich geschnitten, beharrte gerade die Volksschuldirektorin, die Lippen inzwischen so eisblau wie der Blazer, um die Leinwände beschauenden Menschen gehe es, wie der Künstler ihnen etwas vermittle, das sehr wohl mit Gesellschaft und Zeitgeist zu tun habe, was aber noch lange nicht heiße, dass zeitgeistliche und gesellschaftliche Verhältnisse in Zeiten struktureller Probleme tumb abgemalt oder schwul an schwule Wangen geschmiert werden müssten. Inzwischen hatten ihre Haare wieder Korkenzieherlockenform angenommen und seine Tochter solle doch Flugblätter verteilen gehen.
Während ich durch den Schnee vorbei an der Frau im Nerz und ihrem sabbernden Sohn stapfte, durfte ich mir vom Mann im Trachtenjanker noch anhören, dass es darum ginge, etwas zu riskieren, dass seine Tochter gottverdammt nochmal über die reißzahnartig hochstehenden Splitter im Fensterrahmen gestiegen war, sich die Oberschenkel aufschlitzen hätte können in ihrem Rausch. Gerade aus dem Wirten sei sie gekommen, vom Fortgehen, und dann am Heimweg habe sie im Morgengrauen die hinige Scheibe und die Kauft nicht bei Pudeln-Sentenz gesehen. Und selbst frierend, in ihrem Zustand noch, den ganzen nächsten Vormittag habe sie zwar über die Kloschüssel gebeugt zugebracht, aber doch Stunden zuvor ganz genau und gewissenhaft sofort gewusst, was zu tun war. Vom Vollsuff gezeichnet habe er am Nachmittag ihre unverwechselbare stilistische Handschrift an den Wangen der echtlebensgroßen Haarwerbepuppe erblickt. Und erst diese Splitter. Die sorgenvolle Vorstellung, dass seine genialische Tochter über diese rasiermesserscharfen Glasbruchstücke gestakst war, ein Tanz auf der Klinge, hinein ins Schaufenster, bloß um einen Typen zu verteidigen, der schon weiß Gott wo sein konnte. Das sei wahrer künstlerischer Schneid. Ich nickte dem Mann im Trachtenjanker zu und ging an der Volksschuldirektorin vorbei, die einstimmte, denn auch sie habe die zackig scharfen Glassplitter gesehen, die allesamt auf die Steineinschlagsstelle zeigten, wie im Fadenkreuz den nicht vorhandenen Hodensack im Schritt der echtlebensgroßen Haarwerbepuppe anvisierten. Und wenn seine Tochter wirklich so genial sei, hätte sie etwas mit diesen eckigen Scherben machen sollen, ein nahezu kubistisches Spektakel, wie die den Anblick des Friseursalons brachen im Morgenlicht, guernicagleich, das hätte seiner Madame doch auffallen müssen. Der Mann im Trachtenjanker sagte, es habe dann zu Hause natürlich etwas gesetzt, eine gesunde Detschen, nicht auszudenken, wenn sie sich verletzt hätte, was sie da riskiert habe. Am Ende hätte sie noch ins Unterlander Krankenhaus gemusst, was man da höre. Hochschwanger ginge man hinein, und ohne Kind komme man heraus, nur weil man sich vorsorglich quasiabtreibungsgleich durchultraschallen hat lassen mit diesen ärztlichen Babykillerstrahlen und dieser hochtoxischen Schmiere. Nein, vor Sorge könne man ja auch sterben, und er habe, welch Tat seine Tochter eigentlich vollbracht, erst bier und hetzt jegriffen. Wenn mich nicht alles täuschte, ich drehte mich nicht um, hätte wahrscheinlich eh nicht mehr die Hand vor Augen gesehen, kämpfte mich vorwärts durch den jetzt wieder rauer aufbrausenden Wind, stapfte, schnaufte und wankte langsam laufender Nase außer Hörweite des trachtenjankertragenden Mannes, aber ich glaubte, Krämpfe ergriffen seine Wangen, Schluchzen erschütterte seine Zunge, eine innige Umarmung erstickte seine Worte und, so stellte ich es mir zumindest vor, seine Tränen gefroren.
Es schneite jetzt genau in die Richtung,