Liebe, Eis und Schnee. Annabelle Costa
ist unsere einzige Chance, Natalie.«
Der zuversichtliche Ausdruck ist zurück auf Chase’ Gesicht. Der Unerschütterliche Chase glaubt tatsächlich, dass er uns retten kann. Und vielleicht stimmt das ja auch. Nichts ist unmöglich, oder?
»Außerdem«, fügt er hinzu, »ist das allemal besser, als hier mit dir festzustecken.«
Falls ich noch Zweifel an der Entscheidung hatte, diese Beziehung zu beenden, verpuffen diese nun endgültig.
Trotzdem will ich nicht, dass Chase da draußen stirbt. Also reiche ich ihm den Schal, den ich mitgebracht habe. Er wehrt sich kurz dagegen, da der Schal rot ist und sehr feminin aussieht. Letztendlich macht er sich aber wohl doch größere Sorgen ums Erfrieren als um das Fashion-Desaster, denn schließlich wickelt er sich den Schal um den Hals. Ich gebe ihm auch meine Kaschmirbaskenmütze, von der ich mich zwar nur ungern trenne, aber er braucht sie dringender.
Ich kann Chase’ Augen kaum erkennen, als er mich vom Fahrersitz aus fixiert. Er ist in meine Mütze und meinen Schal eingemummelt, und seine Jacke und Slipper sind für dieses Wetter absolut nicht ausreichend. Möglicherweise sehe ich ihn nie wieder. Mein Ärger von vorhin verfliegt. Chase ist kein schlechter Mensch – nur ein bisschen arg verwöhnt. Er ist nicht der Richtige für mich, aber ich bin mir sicher, dass irgendwo die richtige Frau auf ihn wartet. Immerhin stellt er sich einem Schneesturm, um uns zu retten – er ist fast schon ein Held. Ich hoffe, dass er es schafft.
»Dann gehe ich jetzt mal.«
Ich nicke. Am liebsten würde ich ihn anflehen, im Auto zu bleiben, da, wo es sicher ist. Aber er hat recht: Das ist unsere einzige Hoffnung.
»Bist du sicher, dass du das nicht übernehmen willst?«, fragt Chase. »Deine Jacke ist viel wärmer als meine.«
Okay, vielleicht ist er doch kein Held.
»Chase!«, knurre ich.
»Ist ja schon gut.« Er seufzt tief und müht sich dann ab, um die Autotür aufzubekommen. Als er schließlich aussteigt, wird mir flau im Magen. Es ist absolut unmöglich, dass dieser Mann, der noch keinen einzigen Tag in seinem Leben gearbeitet hat, es bis in die Zivilisation schaffen wird … oder wenigstens irgendwohin, wo sein Handy Empfang hat. Er rennt in seinen sicheren Tod.
»Chase«, sage ich mit heiserer Stimme. »Tu’s nicht. Es ist zu gefährlich. Bleib hier, okay? Bitte.«
Aber wenn der Unerschütterliche Chase das Kommando hat, lässt er sich natürlich von niemandem was sagen. Er richtet sich so gut wie möglich in dem Wind auf, der ihm entgegenbläst, und strafft die Schultern. »Mach dir keine Sorgen, Natalie. Es wird schon gut gehen.«
Er schließt die Autotür, und während seine Silhouette in der Dunkelheit verschwindet, macht sich in mir das fürchterliche Gefühl breit, dass dies die letzten Worte waren, die ich je von ihm gehört habe.
Kapitel 4
Chase ist seit zwanzig Minuten weg.
Es ist so gut wie unmöglich, dass er zeitnah zurückkommt, aber ich mache mir Sorgen, wie es ihm dort draußen ergeht. Es muss durch den Wind um die -20 °C sein, und er ist nicht mal annähernd passend angezogen. Die Vorstellung, dass er tatsächlich Hilfe finden könnte, kommt mir immer unwahrscheinlicher vor.
Ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen. Nicht, dass ich ihn davon hätte abhalten können …
Mein Magen knurrt. Chase hatte dieses romantische Dinner in der Hütte geplant – das ich nun wahrscheinlich nie erleben werde. Durst habe ich auch. Ich schätze, ich könnte geschmolzenen Schnee trinken, aber ich habe nichts, um das Wasser aufzufangen, keine Wasserflasche, nicht einmal einen Becher. Wir sind so lächerlich unvorbereitet hergekommen. Das einzig Positive ist, dass ich gerade nicht aufs Klo muss – keine Ahnung, was ich tun soll, wenn es so weit ist.
Warum habe ich beim Einsetzen des Schnees nicht darauf bestanden, dass wir umkehren? Warum habe ich mich von ihm hierherschleppen lassen? Der Unerschütterliche Chase hat über meinen gesunden Menschenverstand gesiegt.
Ich kann meine Zehen inzwischen gar nicht mehr spüren. Das ist kein gutes Zeichen. Wie lange dauert es, bis man Frostbeulen bekommt? Passiert mir das vielleicht gerade? Ich greife in meine Tasche, um mein Handy herauszuholen und danach zu googeln, aber als ich es herausziehe, fällt mir ein, dass ich kein Netz habe und daher auch nicht googeln kann.
Allerdings erfühle ich beim Durchkramen der Tasche etwas, das in Papier gewickelt ist.
Meine KFC-Biscuits! Die hatte ich total vergessen! Oh mein Gott, ich habe Essen. Ich habe etwas Essbares im Auto! Zwei Biscuits! Es ist ein Wunder!
Noch bevor ich auch nur darüber nachdenken kann, mir das Essen einzuteilen, habe ich mir den ersten Biscuit in den Mund gestopft und schlinge ihn praktisch im Ganzen runter. Das ist das Beste, was ich je gegessen habe! Ich lecke mir gierig die Lippen. Der zweite Biscuit liegt unten in der Tüte und lockt mich. Ich will ihn so sehr, aber ich weiß, dass ich ihn mir aufheben sollte. Wenn ich am Morgen immer noch in diesem gottverdammten Auto sitze, werde ich über etwas zu essen froh sein.
Es sei denn, ich bin bis dahin so unterkühlt, dass ich dann ohnehin nicht mehr klar denken kann.
Ich lege die Tüte auf den Fahrersitz und stelle meine Birkin Bag darauf, damit ich nicht in Versuchung gerate und den Biscuit letztendlich doch noch esse. Es gab mal eine Zeit, als mein größtes Problem darin bestand, dass die Colorblock-Sonderedition der Hufeisen-Tasche bei Hermès »nicht verfügbar« war. Ich wollte diese Tasche unbedingt haben.
Das kommt mir jetzt alles so dumm vor.
Es ist stockfinster im Auto. Durch die nächtliche Dunkelheit und den Schnee, der die Fenster inzwischen komplett bedeckt, kann ich nicht einmal meine Handtasche da drüben sehen. Ich kann überhaupt nichts sehen. Als ich mich aufrichte, stoße ich mit dem Ellbogen ans Lenkrad und drückte damit unabsichtlich auf die Hupe.
Die Hupe!
Wenn ich sie oft genug benutze, könnte mich vielleicht jemand hören und uns retten? Es ist zwar … Na ja, wenn man bedenkt, dass ich mich auf einer Schotterstraße mitten im Nirgendwo befinde, erscheint mir das ziemlich unwahrscheinlich. Aber schaden wird es sicher auch nicht.
Ich drücke mit der Faust gegen das Lenkrad, und die Hupe erklingt im Auto. Hier drinnen kommt sie mir sehr laut vor, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Klang im heulenden Wind draußen weit zu hören ist. Wie war das doch gleich: Verursacht ein im Wald umfallender Baum ein Geräusch, wenn niemand da ist, der es hören kann? (Oder auch: Welches Geräusch macht eine einzelne klatschende Hand? Dieser Spruch ergibt für mich keinen Sinn.)
Ich hupe etwa zwei Dutzend Mal. Irgendwann nach dem zwanzigsten Hupen lehne ich mich zurück in meinen Sitz. Sehen kann ich nichts, und es ist nur der Wind zu hören.
Tja, das war sinnlos.
Chase hat die Autoschlüssel in der Zündung gelassen. Eigentlich wollte ich Benzin sparen, aber die Kälte wird unerträglich. Zuvor hatte ich noch meine Mütze und meinen Schal, aber nun, wo ich sie Chase für seine Rettungsmission überlassen habe, fühlen sich meine Ohren schon taub an. Die Hände habe ich wieder unter meine Achseln gesteckt. Das hilft ein bisschen, aber ich zittere trotzdem weiter. Ich brauche etwas Wärme, selbst wenn es nur für fünf Minuten ist.
Ich greife nach den Schlüsseln und starte den Motor.
Natürlich ist die Luft, die aus den Lüftungsschlitzen der Heizung gewirbelt wird, eiskalt. Es dauert wahrscheinlich ein oder zwei Minuten, bis sie warm wird. Ich warte darauf, dass sich die Luft anwärmt, doch als die Minuten verstreichen, fällt mir etwas Beunruhigendes auf: Es riecht nach Benzin.
Der Auspuff. Er muss im Schnee vergraben sein. Was bedeutet, dass – selbst wenn ich einen Tank voller Benzin hätte – ich mit laufendem Motor ersticken werde.
Ich muss versuchen, den Auspuff freizuräumen. Aber da draußen ist es noch kälter und ich werde vom Schnee durchnässt. Und wozu? Für vierzig Minuten Benzin, wenn überhaupt? Vielleicht lohnt es sich nicht, den Auspuff