Liebe, Eis und Schnee. Annabelle Costa
Schneeschicht bedeckt, ich sehe ein einsames Bauernhaus, dessen Dach wie mit weißem Zuckerguss überzogen wirkt. »Könntest du etwas langsamer fahren?«
»Langsamer?« Chase klingt so, als ob er dieses Wort zum ersten Mal in seinem Leben hört. Als müsste er es erst im Wörterbuch nachschlagen. »Ich fahre doch nur noch 110.«
Für seine Begriffe ist das langsam. Wenn ich 110 km/h auf einer Landstraße fahre, fühle ich mich wie eine Raserin.
»Ich sag’s ja nur«, murmele ich. »Der Schnee liegt schon ziemlich hoch.« Und der Porsche hat nicht einmal Winterreifen.
»Dieses Auto hat mit Schnee null Probleme.« Aus den Augenwinkeln sieht er wohl meinen Gesichtsausdruck und seufzt. »Wir sind fast bei der Hütte. Entspann dich einfach, Natalie.«
»Wie wollen wir die überhaupt finden?« Ich tippe mit dem Finger auf das nutzlose Navi. »Wir haben kein GPS-Signal.«
»Ich hab eine Landkarte dabei. Sie liegt im Handschuhfach.«
Oh Gott. Ich muss eine Karte aus Papier verwenden und uns damit lotsen? Sind wir in der Steinzeit gelandet? Warum holen wir nicht auch gleich noch Kompass und Sonnenuhr hervor, wenn wir schon mal dabei sind? Aber ich will nicht, dass wir uns verfahren, also hole ich pflichtschuldig die Karte aus dem Handschuhfach.
Und die ist riesig. Als ich versuche, sie flach auf meinem Schoß auszubreiten, verdeckt sie teilweise das Fenster auf meiner Seite und ragt bei Chase ein Stück ins Armaturenbrett hinein. Die Karte ist einfach überall. Ich hasse Landkarten, und mein Orientierungssinn ist unfassbar schlecht. Ohne Navi bin ich verloren.
»Ich habe die Hütte auf der Karte markiert«, erklärt Chase.
Ich starre das große, rote X an, das wahrscheinlich unser Ziel darstellen soll. Das ist aber erst die halbe Miete – ich habe leider keinen Schimmer, wo wir uns im Moment befinden. Ich schaue aus dem Fenster und halte nach Orientierungspunkten Ausschau, aber da draußen gibt es nur kahle Bäume und Schnee. Ganz, ganz viel Schnee.
»Wo sind wir überhaupt?«, frage ich schließlich.
Chase verdreht die Augen. »Rocking Stone Lane.«
Ich fahre mit dem Finger über die Karte und versuche, die Straße zu finden. Dabei fällt mir auf, dass meine Fingernägel bis aufs Nagelbett abgeknabbert sind – anscheinend habe ich unbewusst wieder mit dem Nägelkauen angefangen. Zur Maniküre gehe ich schon nicht mehr, seit ich meine Kochausbildung begonnen habe. Abgeblätterte Nagellackstückchen sind das Letzte, was man in seinem Essen vorfinden möchte. Damit gewinnt man keine Stammklientel. Ich würde nie die Zufriedenheit meiner zahlenden Kundschaft aufs Spiel setzen oder riskieren, dass ich etwas serviere, das meine hohen Ansprüche nicht erfüllt.
»Hab’s gefunden!«, verkünde ich triumphierend, auch wenn ich weiß, dass mir niemand eine Medaille verleihen wird, nur weil ich eine Straße auf einer Karte ausfindig gemacht habe – ich bin schließlich keine fünf mehr. »Okay. Du musst links auf die Cook Hollow Road abbiegen.«
Wir halten nach der entsprechenden Straße Ausschau, was jedoch schwierig ist, weil sämtliche Orientierungspunkte vom Schnee verdeckt sind. Chase drosselt das Tempo auf schockierende 65, hauptsächlich weil die Straße immer holpriger wird.
»Da ist sie!«, rufe ich.
Wow. Ich habe etwas auf einer Papierlandkarte gefunden und konnte es bei einem richtig echten Roadtrip anbringen. Das ist definitiv neu für mich. Vielleicht bringe ich ja doch noch ein paar neue Dinge zustande, bevor ich dreißig werde.
Darf ich Chase jetzt sagen, dass er umkehren und mich nach Hause fahren soll?
Chase schwenkt in die Cook Hollow Road ein. Diese Straße ist sogar noch schmaler als die vorherige, und die weiße Schneedecke auf dem Asphalt ist unberührt, weil wir offenbar die einzigen Idioten sind, die bei diesem Wetter mitten im Nirgendwo herumkurven. Ich kann die Fahrbahn nicht sehen, aber man merkt deutlich, dass sie so gut wie nicht asphaltiert ist. Der Porsche schlingert, weil seine Reifen kaum Halt finden.
»Hör mal, Chase«, sage ich. »Vielleicht sollten wir zurück auf die Hauptstraße fahren und uns ein Hotel suchen, bis der Schneesturm vorbei ist.«
In seiner Wange zuckt ein Muskel, wie das immer passiert, wenn er sich ärgert. »Im Ernst? Wir sind fast da.«
»Ja, aber …« Ich lasse den Blick über die vor uns liegende und immer urwüchsiger aussehende Landschaft schweifen, die ganz in Weiß eingehüllt ist. »Ich hab einfach das Gefühl, dass das gefährlich werden könnte. Ein Hotel wäre besser.«
»Ich wüsste nicht mal, wie wir hier ein Hotel finden sollen. Wir haben kein GPS, schon vergessen?«
Stimmt. Bei diesem Gedanken breitet sich ein flaues Gefühl in meiner Magengrube aus.
»Ich fahre langsamer, okay?«, sagt er, und der Tacho geht auf 50 km/h runter. »Wo muss ich als Nächstes hin?«
Ich schaue mit zusammengekniffenen Augen auf die Karte. »Da stehen keine Straßennamen, aber es müsste bald rechts rein gehen.«
Nach ein paar Minuten sehen wir sie. Und, oh mein Gott, diese Straße ist winzig. Falls uns ein Fahrzeug entgegenkommt, rammt es uns frontal, bevor wir es in diesem verfluchten Schneesturm überhaupt sehen. Ich will unbedingt hier weg, aber ich weiß nicht, ob das nicht sogar gefährlicher ist als weiterzufahren. Chase hat recht – wir haben keine Ahnung, wo das nächste Hotel ist. Immerhin befindet sich die Hütte laut der Karte ganz in der Nähe.
Es wird immer schwieriger, draußen überhaupt noch etwas zu erkennen. Es ist stockfinster, und im Licht der Scheinwerfer sieht man nur das dichte Schneetreiben des inzwischen ausgewachsenen Blizzards. Das Mädchen mit dem entzündeten Augenbrauenpiercing hatte absolut recht.
Die Tachonadel sinkt auf 30 km/h. Dann auf 15, und ich kann spüren, wie die Räder des Porsche immer wieder den Halt verlieren. Das wird nicht gut ausgehen.
»Chase.«
Der Muskel in seiner Wange zuckt erneut, doch der Blick seiner grün-braunen Augen bleibt fest auf die Straße gerichtet. Die Ray-Ban-Sonnenbrille trägt er nicht mehr, seit die ersten Schneeschauer eingesetzt haben und die Sonne dahinter verschwunden ist. »Wir sind fast da.«
Ist das sein Ernst? Ich schaue auf die Karte hinunter, was mir allerdings nur wenig nützt. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob wir uns überhaupt noch auf einer richtigen Straße befinden. Die Hütte könnte absolut überall sein – sie könnte genauso gut nur ein paar Meter von uns entfernt stehen, und wir würden es dank der bescheidenen Sicht nicht merken.
»Es ist gleich da vorne.« Chase scheint keinerlei Zweifel daran zu hegen.
Ah, da ist er ja wieder, der Unerschütterliche Chase. Ich wünschte, ich könnte ihm glauben.
Erneut hole ich mein Handy aus der Handtasche. Nicht nur, dass die Internetverbindung weg ist, nun gibt es nicht einmal mehr Telefonnetz. Kein einziger Balken auf der Anzeige! Nur eine kleine Meldung in der Bildschirmecke: »Kein Empfang.«
»Chase, ich glaube, wir sollten echt zurück.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass wir fast da sind.«
»Es wäre wirklich besser, wenn wir umdrehen.«
Die Tachonadel schwankt nun um die 8 km/h. Wir schleichen durch den Schnee. Ich spüre, wie das Auto um jeden halben Meter kämpft. Und dann …
Geht es nicht weiter.
»Scheiße«, ist Chase’ einzige Reaktion.
Selbst über das Heulen des Windes hinweg kann ich hören, wie die Räder des Porsche durchdrehen, aber nichts passiert. Wir bewegen uns kein Stück vorwärts. Nun sind wir offiziell steckengeblieben.
»Wir hängen vielleicht an irgendwas fest«, sagt er.
»Ich glaube, wir hängen an dreißig Zentimeter Schnee fest.«
Er schüttelt den Kopf. »Dieses Auto hat kein Problem mit Schnee.«
»Ist