1919 - Das Jahr der Frauen. Unda Hörner

1919 - Das Jahr der Frauen - Unda Hörner


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nach Berlin. Beide Frauen erzogen ihre Kinder gemeinsam und engagierten sich neben ihrer Erwerbsarbeit als Schneiderinnen in den Frauenarbeitervereinen der SPD. Bald reisten die Schwestern als gefragte Rednerinnen durchs Land. 1908 trat Marie Juchacz in die SPD ein und war zwischen 1913 und 1917 als Frauensekretärin im SPD-Bezirk Obere Rheinprovinz in Köln tätig. Dort warb sie unter den Arbeitern für die Partei. Während des Krieges betreute sie als Mitarbeiterin der Heimarbeitszentrale und Mitglied der Lebensmittelkommission Not leidende Menschen, kümmerte sich um Witwen und Waisen, sorgte dafür, dass Arbeiterkinder auch mal an die frische Luft kamen, gab Kochkurse und Ratschläge für eine gesunde Ernährung. Spenden aus bürgerlichen Wohlfahrtsverbänden kamen gelegen, doch Marie Juchacz wollte sich nicht ausschließlich auf soziale Hilfe durch die oberen Zehntausend verlassen: »Der Reiche oder Wohlhabende gibt den Armen. Er, der Gebende, steht höher und kommt sich ganz unwillkürlich als der bessere Mensch vor.« Nachhaltige Abhilfe ließe sich nur schaffen, wenn auch die unteren Schichten ein Standesbewusstsein entwickelten und eine Organisation zur Selbsthilfe ins Leben riefen. Die Bedürftigen mussten unabhängig werden von milden Gaben, die nur dann von oben regneten, wenn ein Gönner zur Stelle war. Im Schoße der Sozialdemokratie, so Marie Juchacz’ Grundidee, muss eine eigene Fürsorgeorganisation entstehen, von Menschen, die aus eigener leidvoller Erfahrung wissen, wie existenzielle Not sich anfühlt. So wie sie selbst: Auch Marie Juchacz hatte in ihrer Landsberger Zeit noch als Hausangestellte, Fabrikarbeiterin, Krankenwärterin in einer Nervenheilanstalt und als Näherin geschuftet, sogar mit einer Lungenentzündung hatte sie sich wegen unzureichender Krankenversicherung zur Arbeit geschleppt.

      Seit 1917 lebt Marie Juchacz nun dauerhaft in Berlin, sie hat die Nachfolge Clara Zetkins als Leiterin des Frauenbüros angetreten und die Redaktion der Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen übernommen. Mit Frauen unterschiedlicher politischer Couleur hat sie im Oktober 1918 ein Schreiben an den Reichskanzler unterzeichnet, in dem die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter verlangt wurde. Und jetzt, ein gutes Vierteljahr später, sitzt sie selbst in der Nationalversammlung. Sie kann es kaum glauben, aber als sie mit ihrer Rede fertig ist, brandet lauter Applaus auf. Unter den Frauen in der Weimarer Nationalversammlung sind auch die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer sowie Marie Juchacz’ Schwester, die sich vorgenommen hat, vor allem für die Gleichstellung unehelicher Mütter und Kinder zu kämpfen. Sie schauen sich wie erlöst an, denn sie haben etwas erreicht, nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern für alle Frauen.

      Währenddessen sucht ein Taucher im Landwehrkanal nach dem Leichnam Rosa Luxemburgs. Er fördert allerhand Treibgut zutage und, oh ja, auch einige Wasserleichen. Doch die Gesuchte ist immer noch nicht gefunden.

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      Am 21. Februar blickt alles beunruhigt nach München. Schon wieder überschattet ein politischer Mord den labilen Frieden, diesmal im Süden des Landes. Kurt Eisner, Anführer der Novemberrevolution 1918 in Bayern und nach dem Sturz der Monarchie Ministerpräsident der provisorischen Regierung eines neuen Freistaats, ist am heutigen Vormittag einem Attentat zum Opfer gefallen. Als Attentäter wurde bereits ein völkisch gesinnter Student adliger Herkunft ausgemacht, Graf von Arco, offenbar auch glühender Antisemit. In der Weimarer Nationalversammlung wird Eisners gedacht, bevor man zur Tagesordnung übergeht und Marie Juchacz und ihre Schwester Sorge über die immer noch instabile politische Lage äußern: Wir müssen alles dransetzen, um die sozialistischen Kräfte zu stärken, sagen sie, denn wenn Tyrannen herrschen, machen sie auch die Freiheiten für uns Frauen wieder zunichte.

      Weil nicht nur in Berlin, sondern auch in München wieder Aufstände drohen, greift die Polizei hart durch, wo sie neue Unruheherde vermutet. Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim schreibt nach der Ermordung Eisners aus München an ihren Freund, den Schriftsteller Maximilian Harden: »[W]ir sind ein verlorenes Volk. Hässlich, hässlich ist alles, one [sic] Größe, one Schwung, einfach hundsgemein und hässlich und hoffnungslos. Der Alltag geht ruhig weiter, die Lebensmittel werden knapper, Theater und Konzerte ausverkauft, Niddy Impekoven, ›die 14-järige [sic] Tänzerin‹ über-überausverkauft, die sonstige Tanzwut durch den Belagerungszustand, der uns schon 3 Wochen beglückt, polizeilich unterdrückt.«

      Anita Augspurg will Tyrannei und polizeilicher Willkür mit konkret politischer Arbeit entgegentreten. Sie denkt pragmatisch, begrüßt das militante Vorgehen ihrer englischen Schwestern im Geiste, den Suffragetten. Von November 1918 bis Februar 1919 ist sie eine von acht Frauen im vorläufigen Nationalrat in Bayern sowie Vertreterin des Vereins für Frauenstimmrecht. Augspurg, Jahrgang 1857, geht bereits auf die Sechzig zu, ihr politisches Selbstbewusstsein hat sie sich auf einem langen Weg erarbeitet. Zwar stammt sie nicht aus armen Verhältnissen wie Marie Juchacz, sondern aus gutbürgerlichem Elternhaus im niedersächsischen Verden an der Aller, Fabrikarbeit stand nicht zur Debatte, doch der vorgezeichnete Weg einer höheren Tochter erschien ihr monoton, an eine bürgerliche Ehe dachte Anita Augspurg nicht im Traum. Die Heranwachsende ging dem Vater in seiner Anwaltskanzlei als Assistentin zur Hand und fand dort Gefallen an der Idee, einen Beruf zu ergreifen. Als Zwanzigjährige zog sie nach Berlin, studierte fürs Lehramt an der Höheren Mädchenschule, ließ sich zur Turnlehrerin ausbilden, nahm nebenbei Schauspielunterricht. Dank einer kleinen Erbschaft konnte sie sich der ›brotlosen Kunst‹ zuwenden: 1881 gehörte sie als Elevin zum Ensemble des renommierten Hoftheaters im thüringischen Meiningen und gewann dadurch gehörige Sicherheit im öffentlichen Auftreten. Für fünf Jahre tingelte sie mit einer Theatertruppe durch die Lande, spielte auf immer anderen Bühnen, in Augsburg, in Amsterdam. Großartig, dass sie als Goethe-Verehrerin in Gutzkows Lustspiel Der Königsleutnant den Dichterfürsten als jungen Mann darstellen durfte, Hosenrollen lagen ihr.

      Die Gagen waren nicht üppig, als das geerbte Geld zur Neige ging, musste Anita Augspurg sich etwas Neues einfallen lassen und schlug unbeschrittene Wege ein, die sie 1887 nach München führten. »In der freien Luft Süddeutschlands« konnte sie durchatmen, »die letzten Eierschalen des konventionellen Lebens« lösten sich seit dem Umzug von ihr, und sie schlüpfte hinein in ein neues Dasein. Seit den 1880er-Jahren galt die anheimelnde bayerische Residenzstadt als ›Kunstzentrale des ganzen deutschen Reiches‹, hier in München herrschte ein Klima, das Künstlern förderlich war, anders als der dem Historismus verschriebene Kaiser in Berlin war das bayerische Königshaus überraschend aufgeschlossen gegenüber modernen Kunstströmungen. Fritz von Uhde, Franz von Stuck oder der als Malerfürst geadelte Franz von Lenbach wirkten hier, auch Alfred Kubin und Lovis Corinth lebten eine Zeit lang in München, um die freie Luft an der Isar zu schnuppern. 1888 fand im Münchner Königlichen Glaspalast die ›Dritte internationale Kunstausstellung‹ statt, wo ein breiter Querschnitt der zeitgenössischen Kunst zu sehen war. In München konnte auch der Jugendstil seine Blüte entfalten und anmutige Geschöpfe androgyner Natur hervorbringen, so wie auf Peter Behrens’ Farbholzschnitt Der Kuss.

      Wenn Anita Augspurg und ihre Freundin, die Niederländerin Sophia Goudstikker, gewandet in Reformkleidern, das Haar streichholzkurz geschnitten, auf dem Fahrrad oder hoch zu Ross im Herrensitz im Englischen Garten unterwegs waren, machten sie keinen Hehl daraus, dass sie weit mehr verband als nur Freundschaft. Anita und Sophia waren ein Paar, das sich offen zu seiner gleichgeschlechtlichen Liebe bekannte. Die Freundinnen verband auch das Interesse für ein damals noch relativ neuartiges Medium, die Fotografie. Sie brachten sich in München den Umgang mit der Kamera bei und gründeten 1887 ein eigenes Fotostudio in der vornehmen Kaulbachstraße, das Hofatelier Elvira. Bald ging Münchner Prominenz hier ein und aus, Mitglieder der bayerischen Königsfamilie posierten für Porträts. Nach zehn erfolgreichen Jahren zogen die beiden Unternehmerinnen in einen Neubau in der nahen Von-der-Tann-Straße um. Architekt August Endell schmückte die bunt dekorierte Fassade mit einem Drachenornament als Markenzeichen, und das exzentrische Haus wurde ebenso wie seine beiden Bewohnerinnen zum Stadtgespräch.

      Bald nach dem Umzug des Ateliers ins neue Gebäude trennten sich die Freundinnen jedoch, Sophia blieb in München, mehrte den Ruhm des Fotoateliers und hinterließ der Welt zu Ikonen gewordene Porträts von Lou Andreas-Salomé, Helene Lange, Ricarda Huch oder Heinrich und Thomas Mann. Anita Augspurg stand inzwischen klar vor Augen, dass sie nicht länger repräsentative Bilder der wohlhabenden Prominenz auf Fotopapier bannen wollte. In einer Atmosphäre, wo sich allerorten Frauen zusammentaten, um für


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