1919 - Das Jahr der Frauen. Unda Hörner
deutschen Männern teilte, nicht dämpfen. »Karl, lass ihn doch ziehen«, hört sie sich noch immer sagen. Und noch immer sieht sie die Hand ihres Mannes, die das Papier mit der Erlaubnis widerwillig unterschreibt. Sie selbst hat Karl dazu überredet, das kann sie sich nicht verzeihen, niemals. Immer muss sie daran denken: Peterchen versammelt sich mit anderen Jungs in Uniform am Bahnhof, nach Belgien an die Westfront geht die Reise. Alle sind guter Dinge, schon bald werden sie siegreich zu ihren Familien zurückkehren. Nur achtzehn Tage, nachdem Käthe Kollwitz Abschied von Peter genommen hat, erreicht sie eine Hiobsbotschaft. Ganze zehn Tage ist Peter Soldat gewesen.
Sein Zimmer ist nach wie vor unverändert, Käthe Kollwitz hat nichts darin angerührt, Peters Habseligkeiten sind ihr heilig. Doch seit Peters Tod hat sich ihre Weltsicht radikal verändert. Frieden zwischen den Völkern und sozialer Frieden sind ihr eine Herzensangelegenheit geworden. Dafür riskiert sie alles, mehr kann sie für Peter nicht tun. Noch letzten Herbst, als die Schlacht an allen Fronten längst geschlagen war, hatte der Dichter Richard Dehmel in wahnwitziger Verblendung im Vorwärts tatsächlich noch einen ›Aufruf zum letzten Kriegsaufgebot‹ lanciert. Dem konnte die trauernde Mutter nur mit einem offenen Brief entgegengetreten. »Es ist genug gestorben! Keiner darf mehr fallen!«, schrieb sie mit Furor. »Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden«, schloss sie ihre Antwort mit einem Zitat aus Goethes Wilhelm Meister. Zuerst hatte der Vorwärts noch gekuscht und den Brief mit den gefährlich vaterlandsverräterischen Tönen nicht bringen wollen, aber schließlich druckte er die Zeilen der Kollwitz doch, und sogar die Vossische Zeitung druckte sie nach. Jede Menge kriegsmüde Leser machten aus ihrer Zustimmung keinen Hehl mehr, die Malerin hatte die Zeichen der Zeit erkannt.
Peters Tod wird Käthe Kollwitz nie verwinden, aber wenigstens hat sie ihre Arbeit; die Kunst hilft, den Schicksalsschlag zu verarbeiten und eine Mission zu verfolgen, mit Bildern die Menschheit aufzurütteln und das Bewusstsein für soziale Fragen zu schärfen. Sie denkt mit Liebe an Großvater und Vater, denen sie so viel zu verdanken hat. Nicht selbstverständlich, dass alle beide ihre künstlerischen Ambitionen ernst nahmen und auch noch unterstützten. Großvater Julius Rupp hatte in der ostpreußischen Heimat eine evangelisch-freireligiöse Gemeinde gegründet, in der die Gleichstellung der Frauen groß geschrieben wurde. Vater Karl Schmidt, begeisterter Sozialdemokrat, sorgte dafür, dass sie schon als Vierzehnjährige in der Königsberger Heimat Unterricht bei angesehenen Malern nehmen konnte. Mit zwanzig studierte sie in der ›Damenakademie des Vereins der Berliner Künstlerinnen‹. Die war 1867 von Männern ins Leben gerufen worden, als Frauen noch kein Recht auf Vereinsgründung besaßen und nur als Ehrenmitglieder teilnehmen durften. Während des Studiums an der Damenakademie hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie hier später einmal zu den Lehrenden gehören würde.
Der Weg führte weiter zum Studium nach München, als Käthe bereits verlobt war. Der Ring an ihrem Finger löste bei den Kommilitoninnen einen kleinen Skandal aus. Passte eine bürgerliche Ehe zu einer Laufbahn als Künstlerin? Die meisten Studentinnen landeten selbst nicht lange nach Studienabschluss in der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter und legten den Pinsel für immer aus der Hand, weil der Ehemann seiner Frau den Alleingang untersagte. Doch mit ihrem Zukünftigen hatte Käthe Glück. Als engagierter Arzt und Kämpfer für die Menschenrechte wollte Karl Kollwitz nicht nur Reden schwingen, sondern denen helfen, die am meisten unter Hunger und Armut litten. Nach der Hochzeit im Jahre 1891 bezogen die Kollwitz’ eine Wohnung am Prenzlauer Berg, einem proletarischen Viertel Berlins. Sie leben dort im vierten Stock eines Mietshauses in der Weißenburger Straße, wo Kollwitz auch seine Praxis hat. Täglich suchen ihn unterernährte, anämische Leute aus dem ›Miljöh‹ auf; er muss Tuberkulose diagnostizieren, seine Patienten haben kein Geld für eine Kur in Davos oder Bad Nauheim. Den meisten kann er nicht helfen, die Arznei, die er verschreiben kann, ist ein Tropfen auf den heißen Stein; chronisch Kranke gehen gebeugt zurück in lausige Wohnungen, in Mietskasernen, wo sechsköpfige Familien in dusteren Hinterhofzimmern hausen. Abgearbeitete Frauen fahren hinaus ins Umland, in der Hoffnung, auf den Feldern Kartoffeln und Rüben zu finden, weil sie sich Brot und Wurst nicht leisten können. Ein Einarmiger schiebt seinen Leierkasten durch die Straßen am Prenzlauer Berg und hofft auf ein paar Münzen. Kollwitz weiß, »wie elend und traurig es mit Deutschland steht.« Diese Menschen sind es, die Käthe Kollwitz zu ihren Bildern inspirieren.
Immer ist es ein absoluter Szenenwechsel, wenn sie vom Proletarierquartier Prenzlauer Berg zur Arbeit geht, quer durch die Stadt nach Westen. Das Atelier liegt im Hansaviertel, in einem als Atelierhaus errichteten großen Backsteinbau, Siegmunds Hof 11 am Ufer der Spree. Hier wirkt Käthe Kollwitz Tag für Tag an der Staffelei, und manchmal packt sie das schlechte Gewissen, sie hat allein zum Zeichnen mehr Platz als eine Arbeiterfamilie in einer Mietskaserne. Das Atelier ist gut belichtet und groß genug, um auch der Bildhauerei nachzugehen, die sie seit einer Paris-Reise und einem Besuch beim berühmten Auguste Rodin im Jahre 1904 schätzen gelernt hat. Käthe Kollwitz war bezaubert von Paris, oft denkt sie an die Zeit dort zurück.
Im Hansaviertel ist Käthe Kollwitz in Gesellschaft vieler anderer Kunstschaffender, auch weitere Frauen arbeiten hier, etwa die Bildhauerin Hedwig Wittekind. »Ging zur Wittekind hinauf«, notiert Käthe Kollwitz. »Zeigte mir ihre Arbeiten […]. Vielleicht gehört sie zu den wenigen jungen Frauen, die wirklich allein für sich leben können. Ich meine nicht ohne Männer, aber so, dass sie nicht ihr Zentrum in den Männern haben. […] Hedwig Wittekind bringt es vielleicht fertig frei zu bleiben, Künstlerin, niemand brauchend, Bohemienne durch Anlage.«
Käthe Kollwitz quält sich. Selbstzweifel nagen an ihr. Am 16. Februar 1919 vertraut sie ihrem Tagebuch an: »Mir geht es schlecht mit der Arbeit. Bin nervös nervös. Mir zerrinnt die Arbeitskraft und Intuition noch im Beginn der Arbeit. Wie einem Mann, dem die Kraft abgeht vor der Befruchtung.«
»Meine Herren und Damen!«, so schallt es am 19. Februar 1919 durch den Saal des Weimarer Schauspielhauses, wo erstmals die neue verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung tagt. Diese völlig ungewohnte Ansprache sorgt kaum weniger als respektlose Dada-Lyrik für Unruhe und Heiterkeit, und zwar in den Reihen der Herren Abgeordneten. Allerdings mag den meisten von ihnen auch das Lachen im Halse stecken bleiben. Das Selbstbewusstsein, das die Frauen neuerdings an den Tag legen, mutet schon etwas bedrohlich an. Am Rednerpult steht die Sozialdemokratin Marie Juchacz, eine herbe Erscheinung mit ausdrucksvollem geradegezogenen Mund, und ergreift das Wort.
»Es ist das erste Mal«, stellt sie coram publico fest, »dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.« Das Ende der politischen Entmündigung der weiblichen Hälfte der Gesellschaft sei schon lange überfällig gewesen: »Ich möchte hier feststellen – und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.«
Als Marie Juchacz mit solchen Worten in Weimar zu hören ist, steht sie kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag. Dass sie stets für Frauenrechte gekämpft hat, hat sich gelohnt, das weiß sie spätestens jetzt. Geboren am 15. März 1879 als Marie Gohlke, Tochter eines einfachen Zimmermanns aus Landsberg an der Warthe, die bloß die Volksschule besuchen konnte, sah die Zukunft für sie nicht besonders rosig aus. Mädchen wie sie fristeten ihr Dasein gewöhnlich als Dienstmagd oder Fabrikarbeiterin, oder sie wurden so gut wie möglich verheiratet und litten unter einem despotischen Gatten. Marie Juchacz begriff beizeiten, dass nur sie selbst an dieser wenig verlockenden Perspektive als Kellerkind etwas ändern konnte. 1906 hatte sie tatsächlich geheiratet, einen Schneidermeister namens Bernhard Juchacz, den sie bei der Lehre kennengelernt hatte, doch die kurze Ehe verlief unglücklich. Was ihr daraus blieb, waren der Nachname und die gemeinsamen Kinder Lotte und Paul. Die zählten erst drei und ein Jahr, als Marie Juchacz die Entscheidung traf, ihren Weg als alleinerziehende Mutter weiter zu beschreiten. »Wir gingen ohne Illusionen. Wir wussten, dass es schwer sein würde«, erinnert sie sich.
Mit ihrer geliebten Schwester Elisabeth Kirschmann-Röhl,