1919 - Das Jahr der Frauen. Unda Hörner
Dort ist der ermordete Karl Liebknecht aufgebahrt. Sophie, seine Witwe, hat die Künstlerin darum gebeten, eine Zeichnung des Toten anzufertigen. Während Kollwitz neben dem einbalsamierten Leichnam still an ihrem Liebknecht-Gedenkblatt arbeitet, kommen immer wieder Menschen herein und erweisen dem Revolutionär die letzte Ehre. »Um die zerschossene Stirn rote Blumen gelegt, das Gesicht stolz, der Mund etwas geöffnet und schmerzhaft verzogen. Ein etwas verwunderter Ausdruck im Gesicht. Die Hände im Schoß nebeneinandergelegt, ein paar rote Blumen auf dem weißen Hemd.«
Tags darauf, Käthe Kollwitz hat ihr Gedenkblatt zu Hause noch nachgebessert, findet die Beerdigung Karl Liebknechts und weiterer 38 Erschossener auf dem Friedhof Friedrichsfelde statt. »Welche Qual diese ganze öffentliche Angelegenheit für Liebknechts Frau!«, beklagt Käthe Kollwitz. »Sie ist ohnmächtig geworden. Um das Grab Gedränge. Einer schob den andern weg, zankten sich um die Plätze.«
100.000 Menschen sind gekommen, vor allem aus den Arbeitervierteln strömen sie herbei, um von den Toten Abschied zu nehmen. Der Trauerzug bewegt sich gemessenen Schrittes übers Gräberfeld. Neben Liebknechts Sarg wird noch ein zweiter Katafalk in die Grube gesenkt, den die Sargträger mit geringem Kraftaufwand stemmen können, denn er ist leer. Rosa Luxemburgs Leichnam ist noch immer nicht gefunden worden.
Dass Käthe Kollwitz Mitglied der Berliner Secession ist, macht die Sensation ihrer Wahl in die Akademie doppelt innovativ. Denn die Secession, der Maler wie Lovis Corinth und Max Liebermann, Bildhauer wie Wilhelm Lehmbruck und Georg Kolbe angehören, steht für eine Kunst jenseits akademischer Regeln und Maßgaben. »Höre von Klimsch und Gaul, dass ich in die Akademie der Künste gewählt bin. Große Ehre, aber ein bisschen peinlich für mich. Die Akademie gehört doch zu den etwas verzopften Instituten, die beiseite gebracht werden sollten«, schreibt Kollwitz am 31. Januar 1919 in ihr Tagebuch. Stimmt, im Programm des Arbeitsrates für Kunst, dessen Mitglied die Malerin ist, ist die Auflösung der Akademie der Künste sogar eine explizite Forderung.
Akademieprofessor Georg Gaul, selbst Bildhauer, reagiert empört auf die etwas despektierlichen Äußerungen der Malerin, aber versichert ihr auch, das unter dem Kaiser machtlose und unselbstständige Institut habe jetzt »seine Selbstständigkeit« erhalten und werde »wieder Leben kriegen«. Die Wahl von Käthe Kollwitz ist ein hoffnungsvoller Auftakt. Es sind die sozialen Themen, die sie beschäftigen, und das rührt an den Nerv der Zeit. Kollwitz stellt das Elend der Armen und Kranken in aller Härte und Mitleidlosigkeit dar. Vielen längst bekannt sind ihre grafischen Werke Ein Weberaufstand und Bauernkrieg; düstere Kohlezeichnungen und harte Holzschnitte sind ihre Stärke. Käthe Kollwitz kann der Armut sogar Schönheit abgewinnen, denn ist nicht schön, was authentisch ist und einer sozialen Wahrheit entspricht? Mit ihren Motiven aus dem Proletariat bricht Käthe Kollwitz ein Tabu, schafft ein Bewusstsein für die Armen und Geknechteten. Dass ihre Arbeit inzwischen breite Anerkennung findet, ist ein Politikum.
Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber, in dem der Schriftsteller die Sklaverei anprangert, hatte Käthe Kollwitz mit ganzer Wucht getroffen. Das Theaterstück war Wasser auf ihre Mühlen. Sie hatte die Uraufführung am Deutschen Theater im September 1894 gesehen und Hauptmann persönlich kennengelernt, 1886 auf einer Reise ins Engadin. Die Weber ließen sie nicht los. Fast vier Jahre arbeitete sie sich daran ab, bis der Zyklus Ein Weberaufstand 1897 abgeschlossen war. Die Arbeit hatte sich gelohnt: Als der Zyklus ein Jahr später auf der ›Großen Berliner Kunstausstellung‹ zu betrachten war, macht er die Kollwitz schlagartig einem breiteren Publikum bekannt. Nur Kaiser Wilhelm II. konnte sich mit der Handschrift der kritischen Künstlerin nicht anfreunden, zu viel umstürzlerisches Potenzial enthielten diese Bilder; ›Rinnsteinkunst‹ nannte Wilhelm sowas und schmückte sich lieber mit glatter Salonmalerei und den repräsentativen Schinken eines Anton von Werner. Seine Majestät wusste denn auch zu verhindern, dass Kollwitz mit der Medaille ausgezeichnet wurde, für die Max Liebermann sie vorgeschlagen hatte. »Orden und Ehrenzeichen gehören auf die Brust verdienter Männer«, so der Kaiser; an der Bluse einer Frau würde der Preis doch nur entwertet. Auch die Kaiserin rümpfte die Nase: Als Anfang 1906 die ›Deutsche Heimarbeit-Ausstellung‹ in Berlin gezeigt wurde, die sie eigentlich besuchen wollte, störte sie sich am Ausstellungsplakat der Kollwitz, auf dem das knochige Gesicht einer Frau mit erloschenem Blick zu sehen war. So viel Hässlichkeit war Ihrer Majestät wirklich nicht zuzumuten!
Ganz andere Sorgen hat derweil eine Frau in Wien, wo mit dem Ende des Weltkriegs auch die k.-u.-k.-Monarchie besiegelt ist. Alma, geborene Schindler, verwitwete Mahler und verheiratete Gropius, gruselt sich fürchterlich vor dem entfesselten Mob: »Wir saßen im roten Musiksalon, als die sogenannte ›Revolution‹ ausbrach. Es war drollig und schaurig zugleich. Den Zug der Proletarier zum Parlament hatten wir mit angesehen. Üble Gestalten … rote Fahnen … hässliches Wetter … Regenmatsch, alles grau in grau. Dann die angeblichen Schüsse aus dem Parlament. Sturm! Dieselbe vorher wohlgeordnete fade Menschenreihe stürmte jetzt schreiend und würdelos zurück.« Keine Frage, Alma wünscht sich den Kaiser zurück, »und wenn es der idiotischste aller wäre, wenn’s anders nicht geht, und die teuersten, fruchtbarsten Erzherzöge, die das Land soutenieren müsste, nur wieder Pracht von oben her und ein Kuschen, ein unlautes Kuschen des Sklaven-Unterbaues der Menschheit. Das Geschrei der Massen ist eine Höllenmusik, die ein reines Ohr nimmer ertragen kann.«
Auch die vielen Männer in ihrem Bett sind nicht ganz unschuldig an Almas Anspannung. Sie ist ganz wirr im Kopf vor lauter Verehrern. Die Wechselfälle ihres Liebeslebens lösen bei ihr tatsächlich beängstigende Zustände aus, denn sie ist wahnsinnig vor Angst, wie ihre Schwester Margarethe Julie an Dementia praecox zu erkranken. Und es ist weiß Gott nicht das erste Mal, dass sie Selbstmordgedanken hegt. Im Januar 1919 vertraut sie dem Tagebuch an: »Alles ist gleichzeitig. Ich kann keinen verneinen. Gustav Mahler, Oskar Kokoschka, Gropius … alles war und ist wahr! […] Nichts weiß ich mehr von diesen Menschen als ihre geistigen Hinterlassenschaften […] Gustav Mahler ist mir unverlierbar!« Während sie zwei Pianisten lauscht, die ihr vierhändig Mahlers 2. Symphonie vorspielen, sinniert sie über die Frage, ob sie nicht alles herschenken soll, was sie besitzt, ein neues Leben anfangen, in warmen Gegenden, »wo man arm sein kann, ohne zu erfrieren oder zu verhungern.«
Besonders wahr und gegenwärtig ist derzeit der Architekt Walter Gropius, der ist nämlich seit August 1915 Almas Ehemann. Sie hat ihn geheiratet, allen Vorbehalten zum Trotz: »Schon die Ehe, die vom Staat sanktionierte Tyrannei, ist mir suspekt, und ich wähle, ihr ausweichend, die freie Bindung. Da aber sollte die Faust in der Tasche bleiben! Das sind ja die Gründe, warum ich nicht heiraten wollte.« Gleich nach der Hochzeit hatte Gropius wieder zurück an die Front reisen müssen, und Alma war in ihrer behaglichen Wohnung im 1. Bezirk, in ihrem geliebten Wien bei Mahlers Partituren und Kokoschkas Gemälden geblieben, mit ihren beiden Töchtern, der im Oktober 1916 geborenen Tochter Manon und der vierzehnjährigen Anna aus der Ehe mit Gustav Mahler.
Nun ist der Krieg aus, Wien ist zwar nicht mehr so recht gemütlich, doch beim Gedanken, die Mozartstadt verlassen zu müssen, gar für immer, ist Alma nicht wohl. Gropius sieht seine berufliche Zukunft in Berlin, die Preußenkapitale ist ein Dorado für den Architektennachwuchs. Außerdem schielt er nach Weimar, wo ein schöner Direktorenposten an der Kunstgewerbeschule winkt, um den er sich schon seit 1915 bemüht, als der Belgier Henry van de Velde wegen ausländerfeindlicher Angriffe zurückgetreten war. Jetzt, im Januar 1919, sitzt Gropius auf gepackten Koffern. Er wartet nur noch auf seine offizielle Berufung und brennt auf die neue Aufgabe: »Die Verhältnisse sind augenblicklich dadurch, dass die Kunstgewerbeschule aufgehoben wurde, also von Grund auf neu gestaltet werden kann und dadurch, dass vier Lehrstellen an der Hochschule für bildende Künste freistehen, außerordentlich günstig. Es dürfte in Deutschland wohl kaum eine zweite Gelegenheit sein, ein größeres Kunstschulunternehmen ohne radikale Eingriffe in das Bestehende von modernen Ideen entsprechend umzugestalten.«
Alte Ordnungen sind vom Tisch, neue Gesetze noch nicht erlassen, dieses politische Vakuum ist genau der rechte Moment, das zukünftige Hochschulleben in Eigenregie zu gestalten. Und zu den modernen Ideen gehört für Gropius selbstverständlich auch, endlich mal die Frauen zum Zuge kommen zu lassen, als Studentinnen und im Lehrkörper der neu geordneten Schule. Welche Rolle Alma darin spielen