1919 - Das Jahr der Frauen. Unda Hörner
mitkommen!«
Rosa Luxemburg spürt die Blicke auf ihrem Hinkebein, als sie durchs Zimmer geht. Sie ahnt, was ihr bevorsteht. Zu welcher Gewalt und welchen Maßnahmen der politische Gegner bereit ist, hat sie bereits zu spüren bekommen. Es wird nicht ihr erster Gefängnisaufenthalt sein. Bereits 1913 hatte sie im Frauengefängnis in der Berliner Barnimstraße eingesessen, weil sie bei einer SPD-Veranstaltung Arbeiter zur Verweigerung des Dienstes an der Waffe aufgewiegelt haben soll, falls es zum Krieg käme. Kaum frei, im Frühling 1915, wurde sie schon wieder festgesetzt, weil man sie für ein gefährliches Element hielt. Schutzhaft, so nannte sich der neuerliche Gefängnisaufenthalt in der Festung Wronke bei Posen. Ob man sie wieder dorthin bringt, nach Posen, oder wieder in den Frauenknast in der Barnimstraße?
Rosa Luxemburg muss an ihre Herbarien denken, an die Pflanzen, die ihr ebenso am Herzen liegen wie die Politik. Sie hat im Laufe der Zeit ein ganzes Kompendium von gepressten Blumen zusammengestellt. »Die Schlüsselblumen beleuchten mir die Zelle wie Sonnenlicht«, hatte sie einst aus dem Gefängnis an ihre Sekretärin und rechte Hand Mathilde Jacob geschrieben, die sich zu Hause in der Wohnung am Südende um Katze Mimi kümmerte. Die Pflanzen, die Rosa Luxemburg bei ihren Spaziergängen in der Natur gesammelt hat, die zwischen den Seiten der Kladden sorgfältig eingeklebten Blätter und Blüten, die stille Beschäftigung mit der Flora, sie bietet immer wieder eine friedliche Gegenwelt zum bewegten politischen Leben, dem täglichen Kampf. Während der langen Zeit im Gefängnis sind die Herbarien Rosa Luxemburgs treuer Begleiter gewesen, sogar in ihrer Zelle hatte sie die Sammlung erweitern können, weil Mathilde Jacob an ihrer statt im Urlaub auf Almen und Wiesen Blumen für sie pflückte und ihr schickte – Post, die harmlos genug war, um nicht konfisziert zu werden. In ihrer Zelle arrangierte Rosa Luxemburg die Blumengrüße aus der Freiheit, Zimbelkraut, Goldrute und Gräser, zu kleinen Kunstwerken, manchmal ergänzte sie einen fehlenden Stengel durch einen feinen Tintenstrich und beschriftete die Seiten mit den lateinischen Namen der Pflanzen. Wozu hatte sie während des Studiums in Zürich denn auch Vorlesungen in Botanik besucht? Seit der Revolution im November 1918, seit Rosa Luxemburg wieder auf freiem Fuße ist, ruht die Arbeit am Herbarium. Die politischen Ereignisse haben ihr einfach keine Zeit gelassen. Jetzt, denkt Rosa Luxemburg mit einem weinenden Auge, ist wieder Zeit für die Botanik.
Sie rafft ein paar Sachen zusammen, Wäsche, Toilettenartikel, ein Buch. Die Männer von der Bürgerwehr treiben zur Eile. Winterkalt ist es, wer weiß, wie lange sie draußen werden zubringen müssen. Ob sie ihr schnell ein paar warme Strümpfe leihen könne, fragt Rosa Luxemburg die eingeschüchterte Frau Marcusson, die hastig Wollenes aus einer Kommode kramt. Liebknecht und Luxemburg werden durch die dunkle Stadt gekarrt, bis zum Hotel Eden am Zoo, wo ein stundenlanges Verhör seinen Lauf nimmt. Die Soldaten steigern sich in wüste Beschimpfungen hinein. Der Hass der Männer trifft besonders die Frau, diese Megäre, eine Jüdin, die sich anmaßt, eine Politische sein zu wollen. Man beschließt, die Gefangenen nach Moabit ins Gefängnis zu bringen, jemand hilft Rosa Luxemburg in den Mantel, sie wird wieder aus dem Hotel hinausgebracht. Unten am Wagen angekommen, spürt sie einen harten Schlag auf den Kopf, bewusstlos bricht sie zusammen. Männer schleifen sie über den Boden wie ein waidwundes Tier. Der Wagen fährt an, da fällt ein Schuss. Hotelgäste im Foyer zucken zusammen und sehen einander erschrocken an.
Ein heimtückischer Meuchelmord, die Lynchjustiz der Freikorps, soll wie ein Attentat erscheinen, verübt vom aufgebrachten Mob. Es ist nur ein Katzensprung vom Hotel Eden zum Landwehrkanal, der Wagen fährt zur nahen Lichtensteinbrücke, dort wird Rosa Luxemburgs Leichnam ins kalte Wasser geworfen. »Sie schwimmt schon«, höhnt eine Stimme. Endlich ist man sie los, diese rebellische polnische Jüdin. Jetzt gilt es nur noch, Liebknecht geschickt zu beseitigen. Auf der Weiterfahrt durch den dunklen Tiergarten wird eine Autopanne vorgetäuscht, der Wagen kommt zum Stehen. Halb tot geschlagen wird Liebknecht aus dem Auto und ins Gebüsch gestoßen. Blutend schleppt er sich über die finsteren Wege davon. Nochmals fällt ein Schuss an diesem Abend; unweit des Neuen Sees bricht Liebknecht sterbend zusammen. Ein Verbrecher, erschossen auf der Flucht vor der Polizei, so wird es aussehen. Auf einer Berliner Polizeistation liefern Soldaten seinen Leichnam ab. Ein Unbekannter, geben sie den Beamten achselzuckend zur Auskunft.
Der Tote kann im Schauhaus identifiziert werden, und im Berliner Tageblatt, das am Abend des 16. Januar erscheint, steht wie gewünscht: »Liebknecht bei einem Fluchtversuch erschossen. Rosa Luxemburg von der Menge gelyncht.«
Mathilde Jacob liest die tröstenden Zeilen von Clara Zetkin: »Liebste Freundin, es ist Ihre Aufgabe darüber zu wachen, dass nicht ein Zettel, nicht eine Zeile von Rosa Luxemburg verschleppt & verstreut wird.« Mathilde Jacob nimmt sich das zu Herzen.
Der berühmte Diplomat und Tagebuchschreiber Harry Graf Kessler mutmaßt zu diesem Zeitpunkt immer noch, Rosa Luxemburg könne von Parteigenossen befreit und in Sicherheit gebracht worden sein, doch eigentlich weiß es der Graf längst besser. Für ihn sind die Spartakisten nicht bloß Helden und Befreier der proletarischen Klasse, er steht ihrem Kampfeswillen durchaus skeptisch gegenüber: »Nicht der Tod selbst, aber die Art des Todes wirkte konsternierend. Sie haben durch den Bürgerkrieg, den sie angezettelt haben, so viele Leben auf dem Gewissen, dass an sich ihr gewaltsames Ende sozusagen logisch erscheint.«
Dass der neue Staat mit heimtückischen Morden beginnt, ist kein gutes Omen fürs bevorstehende Jahr. Am 17. Januar 1919 schreibt Kessler: »Zweifellos ist der gesunde, gut erzogene Leutnant oder Junker eine menschlich angenehmere Erscheinung als der durchschnittliche Proletarier. Ebenso sind Liebknecht oder Rosa Luxemburg mit ihrer echten und tiefen Liebe zu den Ärmsten und Bedrücktesten, mit ihrem Opfermut erfreulicher als die Streber und Gewerkschaftssekretäre. […] Dass Liebknecht und Rosa Luxemburg individuell besser waren und menschlich höher standen als die Proletarier und Kleinbürger, die heute über sie triumphieren, bleibt allerdings bestehen.«
Indessen atmet Frankreich langsam wieder auf. In Paris erwacht das Leben, obwohl der Krieg auch hier noch überall präsent ist. Wie in Berlin sind Versehrte und trauernde Witwen auf den Straßen unübersehbar, doch immerhin sind die Belastungen nicht so hoch wie im besiegten Deutschland, und die französische Bevölkerung braucht keine weiteren Einschränkungen zu fürchten. Vor allem muss Frankreich um keine neue Staatsform ringen, eine blutige Revolution wie in Berlin droht nicht. Der liberaldemokratische Präsident Raymond Poincaré hat die Republik fest im Griff, mit unerbittlicher Härte wird er in die Friedensverhandlungen gehen, die Besetzung des Rheinlands und hohe Reparationsleistungen von Deutschland fordern. Von den Morden an Liebknecht und Luxemburg hat die französische Presse berichtet, aber die bürgerkriegsartigen Zustände im besiegten Nachbarland jenseits des Rheins, das sich noch finden muss, sind für den harten Verhandler kein Grund, durch moderate Friedensbedingungen schnellstmöglich auf ein neues Europa der Einigkeit hinzuwirken, eine Welt ohne mörderische Kriege.
Während jenseits des Rheins die Karten auf politischer Ebene neu gemischt werden, hat man in Frankreich schon wieder den Kopf frei für Fragen der Wissenschaft, für die schöne Literatur und auch für den so lange entbehrten Luxus, den die Boutiquen der Rive Droite zu bieten haben.
An einem sonnigen Januarmorgen schreitet eine junge Frau im eleganten hellen Schneiderkostüm mit taillierter Jacke schwungvoll über die Place de la Concorde, vorbei am Obelisken in seiner Mitte. Ziel der feinen Dame ist die Rue Cambon, wo sie eine Boutique besitzt. Auf dem Platz erinnert eine Kanone, die dicke Bertha, Beute aus dem besiegten Deutschland, an den Krieg. Immerhin ist die Guillotine längst von hier verschwunden. Die Häuser von Paris sind weitgehend verschont geblieben; in den nahen Tuilerien tut sich allerdings ein größerer Bombenkrater auf, auch die Baumreihen auf den Alleen haben sich gelichtet, weil Brennholz während des Krieges knapp geworden ist. Nicht auszudenken, wäre der aberwitzige Plan der Deutschen umgesetzt worden, Brandbomben über Paris abzuwerfen, um durch ein Inferno die Kapitulation Frankreichs zu erzwingen. Die wunderbare Lichterstadt an der Seine in Schutt und Asche, undenkbar! Der Eiffelturm reckt sich in den blauen Himmel, die Métro rollt über den Pont de Passy, aus der Opéra dringen Orchesterklänge – bon dieu, merci! Wenn man nur nicht so vielen Menschen ansehen würde, was sie gelitten, wen sie verloren haben.
Vor dem noblen Hôtel Crillon