1919 - Das Jahr der Frauen. Unda Hörner

1919 - Das Jahr der Frauen - Unda Hörner


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herbei und hält ihm den Wagenschlag auf. Kein Zweifel, der Mann mit dem länglichen Gesicht und der randlosen Brille, der aussieht wie ein ernster Intellektueller, ist kein Geringerer als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der sich wegen der Friedenskonferenz in der Stadt aufhält, die am heutigen 18. Januar im Spiegelsaal des Versailler Schlosses beginnt. Die Limousine fährt los und entfernt sich über die Champs-Élysées auf den Arc de Triomphe zu, weiter in Richtung Westen. Die ganze Welt schaut in diesen Monaten nach Paris, wo über Grenzverläufe, Kriegsschulden und das Schicksal unzähliger Menschen entschieden, ja, wo über nicht weniger bestimmt wird, als die Neuordnung Europas.

      Bei allem Ernst der Epoche, die man gerade durchlebt, es ist an der Zeit, sich wieder den angenehmen Dingen des Lebens zuzuwenden, findet die junge Frau. Coco Chanel ist eine aufstrebende Unternehmerin. Der Krieg hat ihrem Geschäft nicht in dem Maße geschadet wie zunächst befürchtet; ihre Kundinnen sind die Reichen und Schönen, die es sich auch in den vergangenen vier Jahren leisten konnten, Modellkleider zu kaufen. Vor allem die Eskapisten unter den Kunden, die sich in den vornehmen Seebädern aufhielten, unter Sonnenschirmen am Strand und am Spieltisch im Casino den Eindruck erwecken konnten, es gebe gar keinen Krieg, verhalfen ihr dazu, geschäftlich zu expandieren. Der 1913 in Deauville eröffnete Laden Chanel Modes, spezialisiert auf Sport- und Freizeitkleidung, lief so gut, dass sie 1915 eine weitere Filiale im mondänen Biarritz an der Atlantikküste aufmachen konnte. Die besondere Schlichtheit ihrer Entwürfe kam gut an in Zeiten, wo dazu aufgerufen wurde, Ressourcen nicht für unwichtige Dinge zu verschwenden.

      Wer Coco Chanel jetzt zusieht, wie professionell und souverän sie mit Kunden, Konkurrenten und Geschäftspartnern umgeht, käme niemals auf den Gedanken, welch weiter Weg hinter der siebenunddreißigjährigen Französin liegt. Coco Chanel, oder Gabrielle Chasnel, wie sie eigentlich heißt, kommt aus bescheidenen Verhältnissen; die Mutter verdingte sich als Wäscherin, der Vater als Hausierer. Geboren wurde sie am 19. August 1883 in Saumur an der Loire, unehelich und im Armenhaus. Gabrielle war erst zwölf, als ihre Mutter an Tuberkulose erkrankte und starb. Der Vater steckte das Mädchen in ein Zisterzienserkloster in der Corrèze, wo es unter den strengen Augen von Nonnen aufwuchs, wahrlich kein Zuckerschlecken. Die frommen Frauen führten ein spartanisches Leben jenseits weltlicher Freuden, das Kloster war bei Gott kein Ort für eine Heranwachsende, die mit Gleichaltrigen Spaß haben wollte. Stattdessen musste sie mit ernster Miene beten und allerhand Arbeiten verrichten, die ihr später als Hausfrau nützlich sein würden, wie man ihr immer wieder einbläute. Gabrielle saß Stund um Stund mit Nähzeug im Schoß, flickte Nonnentrachten und stopfte Strümpfe. Sie wurde weitergeschickt nach Moulins in der Auvergne, ins Pensionat Notre-Dame, das ebenfalls von Ordensfrauen geleitet wurde, und wo ihr der letzte Schliff verpasst werden sollte. Das Glück wollte es, dass sie dort eine fast gleichaltrige Verwandte traf, Adrienne, zu der sie ein herzliches Verhältnis entwickelte. Die beiden Zwanzigjährigen fanden Arbeit in einem Geschäft für Seiden und Posamenten, und bald sprach sich im Ort herum, welch charmante Verkäuferinnen da hinterm Ladentisch standen. Nebenbei schneiderten sie für Privatkundinnen, die anständig zahlten. Gabrielle war bienenfleißig, aber sollte sie ihre Fähigkeiten demnächst als Ehefrau und Mutter vergeuden, sich einem Herrn und Gebieter unterordnen, nach all den Jahren unter der Fuchtel der Betschwestern?

      Gabrielle stürzte sich lieber ins unbeschwerte Leben, trat in einem Café in Moulins auf und begeisterte das vorwiegend männliche Publikum mit ihrem Gesang. Qui qu’a vu Coco hieß das Chanson, das sie immer wieder anstimmen musste. Klar machten ihr die Männer Avancen, man musste hübsch darauf achten, Distanz zu wahren, um die Oberhand zu behalten. Gerne verschwieg Coco Chanel diese Episode ihres frühen Lebens, der sie jedoch ihren Namen entlehnte.

      Bei einem Aufenthalt im Kurort Vichy unweit von Moulins begegnete Coco dem attraktiven und exzentrischen Pariser Étienne Balsan. Sein Vermögen bezog er aus einem florierenden Unternehmen, das mit Armeeuniformen handelte. Balsan öffnete Chanel die Türen zur gehobenen Pariser Gesellschaft. Sie folgte ihm in die Hauptstadt, lebte vier Jahre lang mit ihm zusammen, von 1906 bis 1910. In ihrer Wohnung begann Coco als Putzmacherin zu arbeiten, und weil sich rasch herumsprach, wie elegant ihre Kreationen waren, stellte Balsan ihr das Startkapital für einen Hutsalon zur Verfügung. Seither gedeiht das Geschäft.

      Manche munkeln, Coco Chanel suche sich sogar die Liebhaber knallhart unter pragmatischen Gesichtspunkten aus, reiche Männer, die sie großzügig unterstützen. Solches Gerede tut sie als neidisches Geschwätz von Leuten ab, die ihr den Erfolg nicht gönnen. Auch der aktuelle Geliebte Arthur Capel unterstützt sie mit seinem Erbe. Capel ist ein Freund Balsans, leidenschaftlicher Polospieler und Bergwerksbesitzer aus England. Coco nennt ihn kurz ›Boy‹, wegen seines jungenhaften Äußeren, dabei ist dieser Mann von Welt sogar knapp zwei Jahre älter als Coco. Bei Pferderennen, zu denen sie ihren neuen Freund begleitet, sind schicke Hüte ein unverzichtbares Accessoire jeder Frau und ein großer Markt für die Jungdesignerin. Doch bei Hüten soll es nicht bleiben. Die Boutique in der Pariser Rue Cambon 31 hat Coco Chanel erst vergangenes Jahr eröffnet. »Ich glaubte dir ein Spielzeug zu schenken, dabei habe ich dir die Freiheit geschenkt«, sagte Boy Capel.

      Die kleine Näherin aus Moulins ist im Handumdrehen zur kühl kalkulierenden Pariser Business-Lady geworden. Coco Chanel ist beruflich inzwischen unabhängig und frei in ihren Entscheidungen. Den Kredit, den Capel ihr eingeräumt hat, hat sie ihm längst zurückzahlen können. Inzwischen ist sie mit allen Wassern gewaschen, kann rechnen und weiß, dass sich finanzieller Einsatz auszahlen muss. Sie beschäftigt mittlerweile über dreihundert Näherinnen. Ihr Ruf als Modedesignerin dringt über Frankreichs Grenzen hinaus; die amerikanische Vogue hat ihren schlichten, aber lässigen Stil inzwischen zum ›Inbegriff von Eleganz‹ gekürt, ein Prädikat, das so viel wert ist wie ein Diplom mit Auszeichnung.

      Leider gibt es einen Wermutstropfen in Cocos Erfolgsgeschichte, und der schmeckt wirklich bitter. Fast zehn Jahre währt ihr Liebesglück mit Boy Capel nun schon, doch er hat im vergangenen November geheiratet, nicht sie, die kleine Verkäuferin aus zweifelhaftem Milieu, sondern ein anständiges Mädchen aus angesehener Familie, Diana Lister Wyndham, Tochter eines Barons und Nichte des ehemaligen britischen Premierministers Herbert Asquith, außerdem ein Jahrzehnt jünger als Coco. Dianas Mann war 1914 gefallen, die gebotene Trauerzeit hatte sie lange hinter sich, und Boy Capel war eine gute Partie. Wenn Boy Coco in Paris besucht, wenn sie bei Maxim’s speisen oder in die Oper gehen, scheint alles immer noch beim Alten zu sein. Doch wird sich der schöne Schein auch dann noch aufrechterhalten lassen, wenn Boy Familienvater ist? Erst kürzlich hat er seiner Geliebten eröffnet, dass Diana ein Kind von ihm erwartet.

      Coco drückt beide Augen zu, die Arbeit lenkt sie von der Kränkung ab, zur heimlichen Geliebten degradiert worden zu sein, sie braucht dringend eine neue Aufgabe. Was hatte sie noch vor dem Krieg felsenfest behauptet? »Frauen parfümieren sich nur, wenn sie schlechte Gerüche zu verbergen haben.« Diese Überzeugung, die sich aus vergangenen Zeiten speiste, in denen selbst Königinnen sich puderten, statt sich zu waschen, hat sie über Bord geworfen. Das Bedürfnis nach Luxus und individuellem Chic ist jetzt nach vier Jahren, die den meisten Frauen Verzicht und Improvisationstalent abverlangten und in denen die einzige Robe die Kriegskrinoline war, größer denn je. Wer es sich leisten kann, kauft neue Kleider und sogar Juwelen. Feldgrau ist endlich out. Außerdem sind amerikanische Soldaten überall in der Stadt, und was suchen sie im Printemps und auf der Rue St.-Honoré? Pariser Chic und Eau de Toilette für ihre Frauen daheim – ein Geschäft, das man sich keinesfalls entgehen lassen darf. Der Zeitpunkt, die Kollektion zu erweitern, ja, eine ganz neue Produktlinie auf den Weg zu bringen, ist günstig. Zeit für ein Parfüm.

      Ein Duft wie ein bunter Strauß Blumen soll es sein, rund und betörend, und doch zeitlos elegant, eine Duftmalerei, die die Individualität jeder Frau unterstreicht. Das Unternehmen Bourjois wirbt bereits mit dem Slogan: ›Mein Parfüm spiegelt meine Persönlichkeit.‹ Cocos Duft muss sich unterscheiden von den Eau de Toilettes und Parfüms, die schon zu haben sind, den beliebten Düften von Paul Poiret oder François Coty, der mit seinen Produkten Millionär geworden ist.

      Durch die umtriebige Salonière Misia Sert, Freundin und Förderin berühmter Männer wie André Gide und Sergeij Diaghilev, porträtiert von Renoir und Toulouse-Lautrec, ist Coco in weitere Kreise der Pariser Gesellschaft vorgedrungen. Die beiden Frauen verbindet frühes Leid, die


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