1919 - Das Jahr der Frauen. Unda Hörner

1919 - Das Jahr der Frauen - Unda Hörner


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gesteckt worden. Als sich die Freundinnen nun treffen, kann Misia Sert mit einer kleinen Sensation aufwarten.

      »Eine unglaubliche Geschichte«, erzählt sie, »bei Renovierungsarbeiten in einem Loire-Schloss ist das verschollene Rezept eines Wunderparfüms aus der Renaissance wieder aufgetaucht, die Rezeptur für jenen Duft, der eigens für die Königinnen der Medici-Dynastie kreiert wurde. Es heißt, das Wässerchen verhindere die Alterung der Haut«, frohlockt Misia Sert, »nun ja«, räumt sie zögernd ein, »zumindest wird der Alterungsprozess deutlich aufgehalten.«

      Misia Sert geht bereits auf die Fünfzig zu, ihre Jugend als legendäre Muse der Belle Époque ist ein seit Längerem untergehender Stern, wahrscheinlich befeuert das ihr Interesse an diesem Wunderelixier.

      Für einen griffigen Werbetext taugt das Bild vom Jungbrunnen allemal. Und die Rezeptur mit royaler Historie, das zieht gewiss bei den Franzosen, die ihre Wohnzimmer mit hohen Spiegeln und verschnörkelten Trumeaus einrichten, als wären sie Sonnenkönige. Coco muss nicht lange überlegen, sie spielt ernsthaft mit dem Gedanken, sich das Papier mit der Duftformel zu verschaffen.

      »Gratis wird’s nicht sein«, gibt Misia Sert zu bedenken.

      Coco winkt lässig ab. Die beiden Frauen sind längst eingesponnen in den verführerischen Gedanken an ein neues Parfüm, um das die Pariserinnen sich reißen werden. Sie malen sich aus, wie Chanels Duft die Salons der Stadt erfüllt, wie sich Gespräche darum drehen, welche Blüten ihre Blätter für diese zauberhafte Essenz gespendet haben. Jedermann, jede Frau wird den Parfümeur kennenlernen wollen, den Magier, der die Zauberformel dafür kennt. Und natürlich wird das Parfüm den Ruhm Coco Chanels weiter mehren.

      »Du musst es machen«, sagt Misia Sert beschwörend, »besorg Dir rasch das Rezept!«

      Coco Chanel zögert nicht lange; bevor jemand anderes Wind von dem Duft bekommt und ihr zuvorkommen kann, nimmt sie Kontakt mit den Findern des Geheimrezepts auf und legt ein kleines Vermögen hin, um es in ihren Besitz zu bringen, 6000 Francs.

      Misia denkt schon weiter: »Und die Form des Flakons? Wie soll der denn aussehen?«

      Auch die Verpackung soll etwas ganz besonderes sein, denkt Coco Chanel. Der Flakon muss ebenso schlicht und elegant ausfallen wie sein edler Inhalt.

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      Am 18. Januar versammelt sich eine illustre Gesellschaft in Berlin, in der Schöneberger Haberlandstraße 5. Dort wohnt der Physiker Albert Einstein, unter seinen Gästen an jenem Tag sind die Pädagogin und Frauenrechtlerin Helene Stöcker, der Arzt Georg Friedrich Nicolai und die Malerin Käthe Kollwitz. Sie debattieren über Maßnahmen, die einer friedlichen Gesellschaft auf die Beine helfen können. Allesamt sind sie Mitglieder des kurz nach Kriegsausbruch 1914 gegründeten sozialistisch-pazifistischen ›Bund Neues Vaterland‹. Endlich dürfen sie wieder unbehelligt tagen, denn in den vergangenen vier Jahren waren sämtliche Aktivitäten des Bundes verboten gewesen. Einig ist man sich darüber, dass die herrschende Militärdiktatur abgeschafft werden muss, erschüttert sind alle über die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Thema bei der Zusammenkunft ist freilich auch ein bahnbrechendes Ereignis, das am morgigen Tage stattfinden wird, die ersten wirklich freien und demokratischen Wahlen auf deutschem Boden, an denen zum ersten Mal auch Frauen teilnehmen dürfen.

      Ein langer Marsch war es für die Frauen bis an die Urnen: Schon 1848, nach der Revolution, als in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung tagte, hatte das allgemeine Wahlrecht zur Debatte gestanden. Allgemein – das schloss die weibliche Bevölkerung damals immer noch aus. Mutige Frauen ließen sich das nicht länger bieten und erhoben ihre Stimme, bald war die Rede von einer veritablen Frauenbewegung. Vor allem jene Frauen, die sich als Sozialistinnen verstanden und kämpferisch unterwegs waren, konnten erwirken, dass die Wahlrechtsforderung 1891 ins Erfurter Programm der Sozialdemokratie aufgenommen wurde. August Bebel, von 1892 bis zu seinem Tod 1913 Vorsitzender der SPD, machte sich zum Fürsprecher der Frauenemanzipation und des Frauenwahlrechts. 1879 war sein überaus erfolgreiches Buch Die Frau und der Sozialismus erschienen – der Frauenbewegung gilt die Schrift als ein Manifest. Ebenso bahnbrechend war Rosa Luxemburgs Pamphlet Frauenwahlrecht und Klassenkampf von 1912, allerdings ohne explizit feministische Töne anzuschlagen. Das gemeinsame Ziel aber ist endlich erreicht. Mit der Weimarer Verfassung tritt das aktive und passive Wahlrecht für »alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen« in Kraft.

      Andere Länder waren schon eher am Puls der Zeit. Bereits 1917, noch vor der Oktoberrevolution, durften russische Frauen erstmals zur Wahl schreiten. Damit gehörte Russland neben Australien, Dänemark, Finnland, Neuseeland, Norwegen und einigen amerikanischen Bundesstaaten zu den ersten Ländern weltweit, in denen das Frauenwahlrecht galt. Durch die Oktoberrevolution wurden weitere Hoffnungen geweckt, Frauen eine gleichberechtigte Stellung im öffentlichen Leben zu gewährleisten. Großes Vorbild der politisch aktiven Frauen ist die Russin Alexandra Kollontai, die schon im November 1917 von Lenin mit der Leitung des Ministeriums für Volksfürsorge beauftragt worden war und in dieser Position für das Recht auf Abtreibung und Scheidung kämpfte. Kollontai war nicht nur die erste Frau im revolutionären sowjetischen Kabinett, sondern auch die erste Ministerin der Welt.

      Schon am Morgen des 19. Januar 1919, einem Sonntag, eilen landauf, landab Frauen zu den Wahlurnen, 17 Millionen sind auf den Beinen, was bei manchen Männern Kopfschütteln auslöst. An diesem Tag finden die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung statt, und erstmals darf das vermeintlich schwache Geschlecht mit abstimmen. »Polonäse von Wählern und Wählerinnen«, beobachtet Harry Graf Kessler das Geschehen. »Alles ruhig und grau in grau; weder Aufregung noch Begeisterung. Die Zettelverteiler der verschiedenen Parteien stehen um die Polonäse herum und schieben wortlos die Zettel den Leuten in die Hand. Köchinnen, Krankenschwestern, alte Damen, Familien mit Vater, Mutter und Dienstmädchen, selbst mit kleinen Kindern kommen gezogen und stellen sich an.«

      Grau in grau? Das, wofür Frauen wie Rosa Luxemburg gekämpft haben, gleiche politische Rechte für alle, Frauen wie Männer, nimmt Gestalt an – ein ruhig und ohne Hysterie ablaufender demokratischer Akt. Bei der Wahl-Premiere beteiligen sich 82% aller wahlberechtigten Frauen, siebenunddreißig weibliche Abgeordnete ziehen ins Parlament ein, immerhin ein Zehntel Frauen, für den Anfang nicht schlecht, unter ihnen Gertrud Bäumer, Marie Elisabeth Lüders und Louise Schröder. Die SPD erlangt eine Mehrheit mit 138 Sitzen in der Nationalversammlung. Der Weg ist frei für weitere Reformen.

      »Zum ersten Mal gewählt«, schließt Käthe Kollwitz das historische Datum mit einem Tagebucheintrag. »Hatte mich so sehr gefreut auf diesen Tag und nun er dran ist, von neuem Unentschlossenheit und halbes Gefühl. Für Mehrheitssozialisten gewählt. Nicht für die Person Scheidemann, die zuoberst auf der Liste stand.«

      Die politische Stimme der Künstlerin hat Gewicht. Mit ihrer Sympathie fürs Proletariat tendiert sie zwar zu den Kommunisten, fürchtet jedoch deren Radikalität und Zustände, wie sie in der revolutionären Sowjetunion herrschen. Kollwitz spricht sich für die Sozialdemokraten aus, auch wenn sie deren mangelnde Entschlossenheit kritisiert: »Hätte die Regierung dieses Vierteljahr absoluter Macht im Sinne des Sozialismus benutzt, so wäre es nicht zum Spartakus-Putsch gekommen und hätten die Unabhängigen sich nicht nochmalig und nun wohl endgültig losgemacht von der Mehrheit. Eine Einigung scheint jetzt unmöglich. Unter der demokratischen Regierung, der wir jetzt entgegensehen, wird das Wühlen und Drängen der Kommunisten wohl nicht aufhören«, schreibt sie am 30. Januar 1919 enttäuscht von der Revolution und sehnt einen Sozialismus herbei, »der die Menschen leben lässt«.

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      Am 24. Januar 1919 heben sich in einem Sitzungssaal der Preußischen Akademie am Pariser Platz bei einer Abstimmung viele Hände. Ein Raunen geht durch die Reihen der Herren, darunter der Maler Max Liebermann und der Architekt der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Franz Schwechten. Seit Bestehen der mehr als zweihundert Jahre alten Institution wird diese ausschließlich durch Männer repräsentiert. Nun ist bei einer Abstimmung unter den Herren Käthe Kollwitz als neues Mitglied aufgenommen worden. Denn auch die altehrwürdige Kunstakademie kommt


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