1919 - Das Jahr der Frauen. Unda Hörner
zu den Eltern nach Gotha, atmet tief durch in den vertrauten Gefilden, die plötzlich nicht mehr unerträglich spießbürgerlich, sondern wohltuend geordnet erscheinen. Sieht Raoul denn nicht, dass alle Beteiligten leiden, sie, Elfriede und schließlich auch er selbst? Jetzt, 1919 und im vierten Jahr ihrer Beziehung, nimmt Hausmann die tschechische Staatsbürgerschaft an, weil es so leichter möglich ist, die Scheidung durchzuziehen, ein Silberstreif am Horizont!
Auch Dada ist für Hannah Höch ein ständiger Spagat zwischen Selbstverwirklichung und Kampf um Anerkennung. Selten einig sind Hannah und Raoul aber, wenn sie über zerschnittenen Zeitungen am Tisch sitzen, als bastelten sie an einem Erpresserbrief. Mit Schere und Klebstoff entstehen völlig neue Zusammenhänge. Schlagzeilen aus der Tagespresse, durchmischt und neu arrangiert, vermengt mit allerlei Werbesprüchen, das könnte doch eine reizvoll neue, gebrochene Sicht auf die Welt eröffnen.
Zeitungen als ›prima materia‹ fallen Hannah Höch geradezu in den Schoß. Material gibt es reichlich in Zeiten, wo Berlin von Druckerzeugnissen überschwemmt wird. Vossische, Berliner Tageblatt, Vorwärts, Rote Fahne, die gesamte Presse wird auseinandergenommen und mit scharfer Klinge in einzelne Bestandteile zerlegt. Die Welt ist aus den Fugen, und die täglich sich überschlagenden Nachrichten sind für den einzelnen Menschen kaum mehr zu verarbeiten. Überall verwirrende Fülle, anarchisches Nebeneinander von Dingen und Ereignissen, das zeigt sich auf Hannah Höchs Collagen. »Ich sehe meine Aufgabe darin zu versuchen, diese turbulente Zeit bildlich einzufangen«, sagt sie.
Höch ist jetzt in der Redaktion des Ullstein-Verlags angestellt und schreibt für das elegante Blatt Die Dame und das Modejournal Die praktische Berlinerin. Sie ist glücklich mit diesem festen Job bei Ullstein, nicht nur wegen der interessanten Journale, die sie zu Collagen machen kann. Die Anstellung sichert ihr die finanzielle Unabhängigkeit. Mehr noch, so kann sie dem ewig klammen Raoul immer wieder finanziell unter die Arme greifen. In ihren Artikeln will sie ein Bewusstsein für den ideellen Mehrwert der scheinbar profanen Handarbeiten schaffen: »… wenigstens i-h-r müsst wissen, dass ihr mit euren Stickereien eure Zeit dokumentiert«, wendet sie sich an ihre Leserinnen. In der Tat, die vielen verschiedenen Illustrierten, die im Berliner Zeitungsviertel rund um die Kochstraße entstehen, sind Hannah Höchs Inspirationsquellen, die Abbildungen ein Kaleidoskop aus Möglichkeiten für Collagen und Montagen. Den praktischen Magazinen für Frauen liegen meistens Schnittmusterbögen bei, auch die sind bestens geeignet, künstlerisch in die Mangel genommen zu werden. Feine Wäschespitze aus Hannah Höchs Stoffrestesammlung ergänzt die Papierschnipsel.
Vergangenes Jahr, während der Sommerfrische in Heidebrink an der Ostsee, hatten Höch und Hausmann spielerisch mit dem Collagieren begonnen. In dem Fischerhäuschen, das sie gemietet hatten, hing ein Öldruck an der Wand, der sie sehr amüsierte: Er »zeigte – eingebaut zwischen die prunkvollen Embleme des Kaiserreichs – fünf stehende Soldaten in fünf verschiedenen Monturen – aber nur einmal fotografiert –, denen der Kopf des Fischersohnes fünfmal eingeklebt war. Dieser naiv-kitschige Öldruck zur Erinnerung an die Soldatenzeit des Sohnes hing in vielen deutschen Stübchen. Er wurde Hausmann zum Anlass, den Gedanken, mit Fotos etwas einzufangen, weiter auszuspinnen.«
Immer wieder muss Hannah Höch Raoul Hausmann mit der Nase darauf stoßen, dass er nicht alleiniger Urheber der neuen Technik ist. Sie wird nicht müde, ihm zu erzählen, dass sie schon als Mädchen verschiedenfarbiges Papier zu Bildern zusammengestellt hat: »Meine erste Collage, die fällt also auf 1904: Eine kleine Landschaft – in dem Fall unser Garten mit einem Figürchen, mein Schwesterchen, das lehnt da an einem Baum. Habe ich schön munter geklebt, ganz hübsch so ausgeschnitten, die Bäume und alles farbig sehr hübsch. Und das ist meine erste Collage!« Das Bild hatte sie Nitte unterm Baum genannt. Nitte, das ist der Spitzname von Hannahs Schwester Marianne.
Die Schere ist das wichtigste Instrument der neuen Zeit: Coco Chanel schneidet sich die Haare ab und kürzt die Röcke, Hannah Höch zerlegt die Wirklichkeit. Am Küchentisch in ihrer Dachwohnung in der Friedenauer Büsingstraße klappert sie mit der Papierschere und schneidet fein säuberlich ein Küchenmesser aus der Zeitung aus, Symbol für den scharfen Schnitt, der Altes vom Neuen trennt. Sie durchforstet Zeitungsstapel, sammelt Schrauben, Zahnräder und Kurbelwellen wie für ein Ersatzteillager. Beim Blättern stößt sie auf die üblichen Verdächtigen, schneidet Kaiser Wilhelm, Hindenburg und Ebert die Köpfe ab, garniert sie mit knackigen Parolen: ›Legen Sie Ihr Geld in Dada an!‹, ›Dada siegt!‹, ›Tretet Dada bei‹. Dazu gesellen sich Tänzerinnen, Turner, Elefanten, ein Zirkus, der sich um sich selbst dreht. Das hat Fahrt. Das schöne Japanpapier aus Hannahs Materialsammlung kommt endlich zum Einsatz, als Hintergrund des Bildes trägt es schwer an den vielen Köpfen: Lenin, Anführer der Oktoberrevolution, General Paul von Hindenburg, Albert Einstein, dessen Theorien über die Geschwindigkeit des Lichts derzeit heiß diskutiert werden. Ins rechte Auge des Physikers klebt Hannah Höch ein Schleifchen, es ist das Unendlichkeitszeichen. Dass der Kopf von Karl Marx wie eine Gallionsfigur am Bug eines Schiffes prangt, hätte Rosa Luxemburg gefallen. Unten rechts in die Ecke klebt Hannah eine Europakarte, markiert darin die Länder, in denen sich das Frauenwahlrecht durchgesetzt hat.
Da fehlt doch noch was, überlegt Hannah Höch am Basteltisch. In den alten Illustrierten wird sie schnell fündig. Weil die Expressionistin Else Lasker-Schüler gerade in aller Munde ist, fügt Hannah Höch auch noch deren Kopf hinzu. Um die dänische Stummfilmdiva Asta Nielsen kommt man auch nicht herum, dieses Jahr ist sie gleich mit mehreren Filmen in den Lichtspielhäusern zu sehen, sie heißen Rausch, Das Ende vom Liede oder Nach dem Gesetz. Auch Pola Negri gibt Hannah Höch einen Auftritt, die Schauspielerin ist gerade in der Rolle der Carmen im gleichnamigen Film von Ernst Lubitsch zu bewundern. Mitten in die Collage platziert sie die umjubelte Tänzerin Niddy Impekoven, die das Publikum zu Klängen von Beethoven und Schubert ebenso wie mit Darstellungen von Käthe-Kruse- und Lotte-Pritzel-Puppen und, man höre und staune, eines Kaffeewärmers zu begeistern weiß. Hannah Höch lässt den erst fünfzehnjährigen Kinderstar mit hoch erhobenen Armen einen ausgeschnittenen Kopf in den Fingerspitzen jonglieren, es ist der von Käthe Kollwitz. Das soll freilich keine symbolische Enthauptung sein, sondern eine Hommage. Hannah Höch schätzt die erschütternden Arbeiten der Kollwitz, die dem sozialen Elend ein Antlitz gibt, verhärmte Frauen, blasse Kinder, ausgemergelte Arbeiter, die ganze Härte der Realität. Weiß Hannah Höch eigentlich, dass sich sogar die ernste Käthe Kollwitz für die heiter-tänzelnde Kunst der populären Niddy Impekoven interessiert? Im April 1920 wird Kollwitz einer ihrer Aufführungen in der Berliner Staatsoper beiwohnen.
Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, das ist doch ein treffender Titel für die fertige Komposition! Hannah Höch ist mit ihrer Arbeit zufrieden, aber von ihren Mitstreitern aus dem Club Dada kann sie nicht viel Lob erwarten. Anerkennende Worte für eine Künstlerin, die kommen den Männern nur schwer über die Lippen.
Dass Käthe Kollwitz das Elend der Armen aufs Papier bringt, folgt innersten Beweggründen, denn sie identifiziert sich mit Haut und Haar mit den leidenden Menschen, die sie porträtiert. Vor ihr auf dem Zeichentisch liegt eine gerade vollendete Studie, Kohle auf blaugrauem Ingres-Papier. Am 6. Februar 1919 wäre ihr Sohn Peter dreiundzwanzig Jahre alt geworden. »Es ist ein schöner Tag. Nach langer Zeit zum ersten Mal wieder fühl ich, dass ich viel kann. Ich arbeite die ›Mütter‹. […] ich habe die Mutter gezeichnet, die ihre beiden Kinder umschließt, ich bin es mit meinem eigenen leibgeborenen Kindern, meinem Hans und meinem Peterchen. Und ich hab es gut machen können. Danke!« Zu Hause öffnet ihr Mann Karl Kollwitz eine Flasche Wein, eigentlich, um auf den Erfolg der neuen Nationalversammlung in Weimar anzustoßen, doch als sie die Gläser erheben und sich anschauen, entfährt es beiden wie aus einem Munde: »Auf den Jungen!«
Der Schmerz führt Käthe Kollwitz beim Arbeiten die Hand. Peterchen, der jüngere ihrer beiden Söhne, wurde keine zwanzig, gefallen in den ersten Kriegstagen, am 22. Oktober 1914 in Flandern. Die Malerin fühlt sich schuldig an seinem Tod. Bei Kriegsausbruch zarte siebzehn Jahre jung und als Minderjähriger nicht einberufen, hatte er die Eltern um die notwendige Einwilligung angebettelt, ins Feld ziehen zu dürfen. Vater Karl war streng dagegen und schüttelte verständnislos den Kopf; Mutter Käthe