Und ich gab ihm mein Versprechen. Rainer Stoerring

Und ich gab ihm mein Versprechen - Rainer Stoerring


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haben eine andere Farbe. Selbst die Kacheln sind unterschiedlich. Richtige Wohnungen waren das wohl nicht. Scheint irgendwie so, als ob jedes Zimmer für sich selbst war. Die gekachelten Räume müssen Bäder oder Küchen gewesen sein. Auf jeder Etage jeweils nur zwei. Vielleicht waren es Wohngemeinschaften.«

      Der Blick meines Vaters verharrte auf dem Abrisshaus.

      »Kann sein. An den Wänden ist aber schon lange nichts mehr gemacht worden. Diese Farben hat man schon seit vielen Jahren nicht mehr. Wo die nur den ganzen Bauschutt hinfahren werden? Obwohl, ich habe schon gesehen, dass dieser zerkleinert wird und später zum Auffüllen bzw. Glätten der ausgehobenen Grube benutzt wird. Ist ja auch eine gute Idee.«

      Einige Minuten unterhielten wir uns über das, was wir draußen sahen. Mein Vater erzählte von seiner Zeit als Maler und Weißbinder. Diese lag nun schon dreißig Jahre zurück. In seinen Erzählungen verknüpfte er zur gegenwärtigen Zeit. Gerne sprach er von seinem erworbenen Wissen im erlernten Beruf. Ganz besonders von den Tricks und Kniffen, die er in all den Jahren gelernt hatte. Seine Gedanken entfernten sich vom Jetzt. Die Urinprobe hatte er für diesen Moment vergessen. Ich schmunzelte.

      »Der Kaffee erfüllt seine Aufgabe. Gehen wir wieder hinter. Jetzt kann ich mal.«

      Als er aus der Toilette kam, war der Erfolg seiner. Zufrieden stellte er den Becher auf dem Wagen ab und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Kurz danach wurde er aufgerufen. Er erhob sich und nickte mir zu. Ich stand auf und ging mit ihm.

      Das Gespräch mit dem Arzt verlief sehr gut. Ein überaus sympathischer Mann. Eine sehr angenehme ruhige Stimme und Art. Nachdem er uns erklärt hatte, was die Ursache ist, welche Untersuchung er vornehmen wird und welcher weitere Verlauf kommen wird, war unser Vertrauen seines. Er bat meinen Vater sich auf eine Untersuchungsliege zu legen. Zuvor möge er bitte seine Hose und den Pulli ausziehen. Mit einem Ultraschallgerät fuhr er über den Unterbauch. Auf einem Bildschirm konnte man schwarze, dunkelgraue, hellgraue und weiße Felder sehen. Dass ein Arzt darin etwas Brauchbares erkennen kann, war für mich unmöglich nachzuvollziehen.

      Nach der Untersuchung saßen wir zusammen und besprachen die weitere Vorgehensweise. Eine Operation war nötig. Einzelne Punkte wurden abgestimmt. Wie nötig? Wann? Wie lange? Wo? Welche Probleme? Erfolgchancen?

      Für den Moment ergaben sich keine weiteren Fragen. Weder von meinem Vater, noch von mir. Wir bedankten uns und verließen das Arztzimmer. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, atmete mein Vater durch. Eine gewisse Zufriedenheit war darin zu erkennen.

      »Gut, dass wir das gemacht haben. Ein sehr guter Arzt. Der weiß sehr viel von seinem Fach. Eine richtige Größe, sehr patent.«

      »Es freut mich, dass du dies so siehst. Jetzt weißt du, wissen wir, mehr. Wenn dir noch Fragen einfallen, dann schreibe sie mal auf. Professor D. hat dir angeboten, dass du ihn auch anrufen kannst. Solltest du das nicht wollen, können wir ihm auch eine Mail schreiben. Ich denke mal, deine Entscheidung war richtig. Dem Professor kannst du vertrauen. Oder siehst du das anders?«

      »Nein, das wird schon alles gut laufen. Wollen wir uns noch ein Stück Kuchen mitnehmen? Darauf hätte ich jetzt mal richtig Lust.«

      Während der ganzen Fahrt zurück nach Hause sprach mein Vater kein Wort. Ich wusste nicht genau, wie ich sein Schweigen hätte brechen können. Vielleicht wollte ich es auch nicht. Er nutzte diese Zeit für seine Gedanken. Dies sollte er auch. Kurz bevor wir ankamen, bat er mich, nicht zu viel von der Untersuchung meiner Mutter zu erzählen. Mein uneingeschränktes Einverständnis fand er darin nicht. Ich versprach es ihm trotzdem. Zugleich bat ich ihn, sie nicht zu lange unwissend zu lassen. Als wir zu Hause angekommen waren, hatte mein Vater wohl noch einmal über sein Vorhaben nachgedacht. Von sich aus und ganz in seinen eigenen Worten erzählte er meiner Mutter von unserem Gespräch mit Professor D. Die wenigen Fragen meiner Mutter konnten wir beantworten. Die nächsten Tage vergingen recht schnell. Fragen ergaben sich für meinen Vater nicht. Auch mir wäre nichts Weiteres eingefallen, was zu beantworten gewesen wäre. Der Termin für die Operation stand. Die entsprechenden Voruntersuchungen wurden einen Tag zuvor vorgenommen.

      Nun war der Tag gekommen. Wie das eben ist, wenn man vor einem großen Schritt steht, blieb auch bei uns die Aufgeregtheit nicht aus. Mehrfach wurde nach allem gesehen. Haben wir nichts vergessen? Sind alle wichtigen Dinge eingepackt? Alle in unseren Händen befindlichen Unterlagen komplett? Als würde er in eine andere Welt reisen. Keine Möglichkeit mehr, vergessene Dinge zu besorgen. Der Moment spannte sich. Es klingelte, mein Onkel hatte angeboten uns zu fahren. Grosse Tasche, kleine Tasche und die aktuellen Zeitungen, nichts vergessen und alles im Auto verstaut. Wir stiegen ein und fuhren zum Krankenhaus. Schon alleine dieses Wort war eines, das meinen Vater fürchten ließ. In seinem bisherigen Leben musste er nur zwei Mal ins Krankenhaus. Eine Einrichtung, auf die er ohne Probleme verzichten konnte. Warum nur? Bekommen wir dort nicht in vollem Umfang das, was wir in der jeweiligen Situation brauchen? Sind wir dort nicht in den besten Händen? Mangelt es uns am Vertrauen? Ist unser individueller Fall nicht berechtigt, entsprechende Aufmerksamkeit zu bekommen? Tausendfach werden täglich die verschiedenen Operationen vorgenommen. Wir sind nicht alleine mit unserem medizinischen Problem. Ein Einzelfall sind wir ebenso wenig. Also, vertrauen wir auf die Kapazitäten. Vertrauen wir auf die medizinischen Kenntnisse der Ärzte. Vertrauen wir auf die jeweilige Kompetenz der Fachärzte. Vertrauen wir auf unser Schicksal. Es will nichts Böses mit uns. Alles, was es für uns geplant hat, durchlief die umfangreichsten Überlegungen. Jede einzelne Situation, die uns konfrontieren soll wurde durchdacht. Jede einzelne als solche selbst. Die Verbindungen zu anderen ziehen wir Menschen selbst.

      Voller Optimismus betrat mein Vater das Krankenhaus. Wie hätte es auch anders sein können, Schwäche zeigte er nicht. Wer ihn gut kannte, wusste aber, dass er Angst hatte. Dritter Stock letztes Zimmer auf der linken Seite. Ein Zweibettzimmer, hell gestrichen, gelbe Vorgänge, eigenes Bad und Toilette, Telefon, Fernseher und Balkon, ein sehr angenehmer Raum. Mein Vater fühlte sich wohl. Für lange würde er sich ohnehin nicht einrichten müssen. Meine Mutter packte die Taschen aus. Mit Sorgfalt räumte sie seine Sachen in den Schrank. Dabei schüttelte sie mehrfach den Kopf und ließ ihrem Unmut über den wenigen Platz freien Lauf. Sie bemängelte die Temperatur des Zimmers, die große Glasfront zum Balkon, die beschränkte Möglichkeit sich im Bad zu bewegen und das grelle Licht im Zimmer. Sie war unzufrieden. Weder die nach ihrer Meinung zu kleinen Schränke noch einer der anderen Mängel trafen zu. Sie wollte meinen Vater einfach nicht dort lassen. Sie sah sich ihrer Fürsorge für ihn beraubt. Egal, was die nächsten Tage kommen wird, sie musste es ohne ihr Zutun geschehen lassen. Mehr noch, sie hatte Angst. Angst davor, ihren Ehemann zu bringen, ihn von fremden Menschen operieren zu lassen und dann einen anderen Mann zurück zu bekommen. Mit allem, was ihr zur Verfügung steht, hält sie fest, loslassen kann sie nicht. Hatte sie nicht schon zu viel von dem loslassen müssen, was ihre Geborgenheit in Liebe ausmacht? Seit sie denken kann, sehnte sie sich nach dieser Geborgenheit. Nach der Liebe, die ihr die Menschen einer Familie geben. Die ersten Jahre ihres Lebens prägten sie.

      Ihre Mutter war eine sehr schöne junge Frau. Behütet durch ein strenges Elternhaus. Während eines Tanzabends lernte sie einen Mann kennen. Die Worte des Mannes und die empfundene Freiheit des Abends raubten ihr die Sinne. Ihr Herz stand in Flammen. Was geschehen musste, geschah. Heute sagen wir ein gelungener one night stand. Für die damalige Zeit unvorstellbar und gegen jegliche Sitte und Ordnung. Meine Großmutter trug sich neun Monate mit schwerem Herzen voller Scham. Von dem Mann hörte sie nichts mehr. Die Mutter meiner Großmutter empfand den Familiennamen ruiniert. Eine junge Frau, schwanger und ohne Mann. Das verfluchte Ergebnis der Begierde hat kein Recht zu leben. Um eine Abtreibung vorzunehmen, war die Schwangerschaft schon zu weit. Sie beschloss die Frucht der Schande sofort wegzugeben. Meine Mutter wurde geboren. Mit dem Namen Maria wurde dies in den öffentlichen Büchern registriert. Danach wurde sie sofort in ein Kloster gebracht. Nonnen sollten sich von da an um sie kümmern. Schon gleich bekam sie den Namen Gudula. Nach Ansicht der Nonnen durfte eine wie sie den Namen Maria nicht tragen. Ein trauriges Mädchen wuchs heran. In ihrem inneren Herzen sehnte sie sich nach einer Mutter und einem Vater. Nach einem warmen und herzlichen Leben in einer Familie. Sie verzehrte sich nach Geborgenheit in Liebe. Wusste sie aber doch, dass sie dies niemals haben wird. Das Leben im Kloster war hart und ohne jegliche Zuneigung. Für alles wurden die Mädchen bestraft.


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