Und ich gab ihm mein Versprechen. Rainer Stoerring

Und ich gab ihm mein Versprechen - Rainer Stoerring


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sagte doch, dass ich mir die Zeit nehmen soll, um zu überlegen. Wenn das die nächsten Tage so weitergehen wird wie heute, dann komme ich nie dazu mir Gedanken zu machen. Alle haben Tipps und Ratschläge. Jeder meint es nur gut mit dem was er sagt. Doch keiner von ihnen hat aktuell diese Krankheit.«

      Meine Mutter unterlegte die Worte meines Vaters mit einem vorwurfsvollen Blick an mich.

      »Du brauchst mich nicht so anzuschauen. Du weißt, dass ich Recht habe und uns nicht unbegrenzte Zeit zur Verfügung steht.«

      »Wie soll dein Vater denn eine Entscheidung treffen, wenn er den ganzen Tag nicht zur Ruhe kommt? Selbst jetzt beim Essen reden wir wieder darüber.«

      »Genau jetzt haben wir die Zeit dazu. Wir werden in den nächsten Tagen sehr viel darüber reden. Der Krebs ist Bestandteil unseres Lebens geworden. Wir müssen ihn akzeptieren. Erst wenn wir dies getan haben, erkennen wir ihn an. Es ist nicht nur eine Krankheit. Nichts, was man mit ein paar Tabletten erledigen kann. Ich möchte nur noch einmal ganz klar sagen, es ist eine seltene, aggressive und schnell wuchernde Art des Krebses. Entweder wir beginnen ihn zu bekämpfen oder er überrennt uns. Es gehört zu den Gesetzen der Natur. Wir Menschen sind einfach zu gering um mit der Natur zu spielen. Mein Vater, dein Mann hat Krebs. Dieser Mensch gehört zu uns. Seine Krankheit ebenfalls. Sie ist keine, die nur die jeweilige Person betrifft. Krebs ist eine Familienkrankheit. Wir alle sind daran beteiligt und haben damit zu tun. Lasst uns endlich beginnen unser erworbenes Wissen umzusetzen. Wir sind stark genug.«

      Meine Worte saßen. Sie schauten mich an. Meine Mutter begann zu weinen. Die Augen meines Vaters sprachen von Hilflosigkeit.

      »Was soll ich denn tun? Hier komme ich nicht zur Ruhe. Schon im Krankhaus gab es nur noch dieses Thema. Jeder der anruft, fragt danach. Wenn ich mal wieder raus gehe, werden mich alle ansprechen. Wie soll ich denn da einen Gedanken finden, wenn ich immer nur über alles berichten muss?«

      »Ich mache euch einen Vorschlag. Sobald keine Nachbehandlung zur Prostata-Operation stattfinden muss und Professor D. keine Bedenken hat, fliegt ihr mit mir nach Florida zurück. Dort seid ihr weit weg von hier, raus aus dem täglichen Umfeld. Wir können den ganzen Tag am Strand sitzen. Vater kann in Ruhe nachdenken. Wenn er reden will, sind wir da. Es ist dort niemand, der dir ständig reinreden wird, unaufgefordert Tipps gibt oder nur seinen Senf zu allem beitragen will. Ganz in Ruhe lassen wir es angehen. Sobald der Vater eine Entscheidung getroffen hat, sagt er es uns. Wir packen die Koffer und kommen wieder zurück. Dann haben er und wir einen klaren Weg vor Augen. Wir alle sind danach gefestigt und können uns voll auf die neuen Aufgaben konzentrieren. Das ist keine Flucht. Wir und besonders der Vater brauchen Ruhe. Dort haben wir sie.«

      Die Idee war platziert. Ich konnte mir nicht sicher sein, dass sie entsprechend meinen Erwartungen ankommen würde. Erst sagte keiner etwas, dann sprachen alle gleichzeitig. Meine Mutter warf ein, dass dies nicht gehen würde. Immerhin wäre der Vater krank und hätte eine Operation eben erst hinter sich. Außerdem denke sie, dass Professor D. einer solchen Reise nie zustimmen würde. Ihre letzte Aussage zeigte mir aber schon, dass sie sich bereits mit dem Gedanken angefreundet hatte. Mein Vater meinte nur, dass dort schönes Wetter sei und er gerne ins Roadhouse und zum China-Buffet gehen würde.

      Ich war etwas überrascht.

      Meine Mutter, da konnte ich mir sicher sein, musste erst einmal etwas dagegen haben. Bei ihr regiert immer erst eine ablehnende Haltung. Sie warf sofort ein, dass Professor D. etwas gegen diese Reise haben könnte. Ihre indirekte Zustimmung war also da. Nur noch anderes könnte uns einen Strich durch die Rechnung machen. Dass mein Vater weniger über den langen Flug zu schimpfen hatte, als sich mehr auf das Steakhaus und das China-Buffet zu freuen, war seine Zustimmung schlechthin.

      War ich mir der Verantwortung bewusst?

      Ich erinnerte mich an ein paar Zeilen die ich kurz zuvor gelesen hatte.

      Wenn unser Leben unbeschwert ist und alles reibungslos läuft, dann können wir uns leicht etwas vormachen. Wenn wir jedoch wirklich verzweifelten und ausweglosen Situationen gegenüberstehen, gibt es keine Zeit mehr für Heucheleien, und wir müssen uns mit der Wirklichkeit auseinander setzen. Schwierige Zeiten lassen uns Entschlossenheit und innere Stärke entwickeln. Durch sie können wir auch dahin gelangen, die Nutzlosigkeit von Ärger anzuerkennen. Anstatt zornig zu werden, können wir eine tiefe Fürsorge und Respekt für solche Unruhestifter in uns hegen, da sie uns, indem sie unangenehme Umstände schaffen, unschätzbare Gelegenheiten liefern, uns in Geduld und Toleranz zu üben.

      Im Allgemeinen war das Leben meines Vaters bisher reibungslos verlaufen. Tief einschneidende Ereignisse hatte er erleben müssen. Die meiste Zeit seines Lebens jedoch hatte er unbeschwert verbringen können. Ohne ihm das Recht auf Empfindung jedes einzelnen Lebensabschnittes abzusprechen, war er nicht auch jemand, der den gegebenen Raum nutzte, um die Dinge etwas anders zu sehen. Sich etwas vormachen, hat immer eine etwas negative Aussage. Doch betrachten wir nicht manches Mal die Dinge so, wie wir sie vor unserem Auge gerne sehen würden? Eine ganz individuelle Eigentherapie. Dies gelingt nicht immer. Das wissen wir alle. Stehen wir Situationen gegenüber, die für uns nicht zu meistern scheinen, müssen wir aktiv werden. Verträumen können wir nichts mehr. Wir setzen uns damit auseinander. Richtig, denn nur dann haben wir eine Chance sie kennen zu lernen. Wir schaffen eine Gleichheit der Kräfte. Unsere innere Stärke wächst. In ihr finden wir Entschlossenheit. In ihr erkennen wir die Zeit, die wir für andere Empfindungen investiert haben. Wir erkennen die Nutzlosigkeit in dieses Invest. Wir erkennen aber auch etwas sehr viel Wertvolleres. Wir nehmen unsere Empfindungen an. Wir verschieben die Mächte. In der neuen Konstellation finden wir Toleranz. In der Toleranz finden wir Geduld. Eine der Stärken, über die wir Menschen verfügen.

      Am nächsten Tag sprach ich mit Professor D. Nachdem ich ihm meine Sicht der Dinge aufzeigte, bat ich ihn um seine Meinung zu unserem Vorhaben. Er fragte mich, wie ich zu meiner Sicht der Dinge gekommen sei. Mit meinen ganz eigenen Worten sprach ich von meinen ganz eigenen Empfindungen. Er hörte mir aufmerksam mit. Mit nicht einem Wort oder einer Geste unterbrach er mich darin. Nach einem Moment des Überlegens stimmte er dem Vorhaben zu. Ich war zufrieden. Dies sah er mir an. Er fragte mich, ob er mir eine Frage stellen dürfte. Ich bejahte dies.

      »Die Anamnese Ihres Vaters ist mir bekannt. Darin gibt es den Punkt zu Krebskrankheiten in der Familie. Außer der Information über Ihren Großvater ist dort nichts nachzulesen. Entschuldigen Sie die offene Frage. Wurde auch bei Ihnen schon einmal Krebs befunden?«

      Diese Frage war offen und kam direkt an. Mit fragendem Blick antwortete ich.

      »Nein, wieso fragen Sie danach? Muss ich mich der Familienhistorie fügen? Sollte ich nach meinem Großvater und meinem Vater ebenfalls damit rechnen?«

      »Nein, nein, keine Angst. Das wollte ich damit nicht gesagt haben. Als Sie mir eben Ihre Sicht der Dinge geschildert haben, verwunderte mich dies in positiver Weise. Weder eine Verleumdung des Krebses noch die geringste Ablehnung dessen war zu erkennen. Mit keinem Ihrer Worte ignorierten Sie ihn. Nicht einmal die Frage nach dem Warum haben Sie gestellt. Natürlich sind Sie nicht die betroffene Person. Aus meinen bisherigen Erfahrungen in vergleichbaren Fällen, habe ich noch nie jemanden wie Sie kennen gelernt. Für Sie ist der Krebs Ihres Vaters kein Feind. Sie sehen ihn als Fakt. Als eine Sache, die keine Daseinsberechtigung hat. Sie konzentrieren sich auf Ihren Vater. Für Sie gilt es seine Stärke aufzubauen. Das alleine wird ihn in die Lage versetzen die richtige Entscheidung zu treffen. Sie geben ihm Raum.«

      »Raum ist das richtige Wort. Für mich stehen die Worte Raum und Leben im Zusammenhang. Ich versuche meinem Vater zu zeigen, dass sein Lebensraum noch vorhanden ist. Nach dem Befund fühlte er sich um diesen beraubt. Dem ist nicht so. Solange wir leben, müssen wir das Leben auch erfüllen. Nur dann können wir empfinden, realistisch betrachten, abwägen und Entscheidungen treffen. Jeder von uns hat schon einmal situationsbedingt gelogen. Dazu haben wir das Recht. Sowieso, wenn es vertretbar ist. Nur in einem, können wir Menschen nicht lügen. Immer dann, wenn wir eine Entscheidung treffen. Zum Angehen einer jeden Situation treffen wir Entscheidungen. Sehr oft, merken wir das schon gar nicht mehr. Bei großen Entscheidungen brauchen wir die entsprechende Zeit, Geduld und Ruhe. Ist es uns nicht möglich, diese zu finden, müssen wir etwas verändern. Veränderungen sollten wir grundsätzlich


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