Und ich gab ihm mein Versprechen. Rainer Stoerring
zu ihm nicht in Frage.«
»Nein, in keinem Fall. Ich will mir hinterher nur sicher sein, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«
Einen Moment sagte er nichts.
»Ja, ich möchte eine weitere Untersuchung. Vielleicht habe ich Glück und alles war ein Irrtum. Wenn nicht, dann weiß ich, was ich machen werde. Wie sagtest du? Dann habe ich ein Ziel.«
Ein erster Schritt war getan. Mein Vater hoffte im Innersten zwar, dass sich alles als ein Irrtum auflöst. Doch hatte er entschieden, wie es weitergehen soll, wenn dem nicht so sein würde. Er hat den Gedanken akzeptiert, dass etwas getan werden muss. Mit was er sich am besten einigen konnte, war die Radio-Chemo-Therapie. Nicht die Entscheidung selbst ist die Schwierigkeit. Wir erliegen mehr auf dem Weg dorthin den erdrückenden Erkenntnissen, die wir ziehen. Mit einem Befund werden wir konfrontiert. Wir erkennen, wir haben eine Krankheit. Wir setzen uns mit dem Thema Krebs auseinander. Wir erkennen, gegen ihn sind wir relativ machtlos. Wir nehmen die Hilfe der Ärzte in Anspruch. Wir erkennen, dass wir alleine nicht viel ausrichten können. Wir befassen uns mit den verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten. Wir erkennen, dass wir wenig darüber wissen. Wir akzeptieren die Therapie und übergeben uns in die Hände von Menschen, die uns bis dahin fremd gewesen sind. Mit all diesen Erkenntnissen ist es nicht leicht umzugehen. Zu der physischen Schwäche unseres Körpers kommt die psychische hinzu. Wir überlassen der Unwissenheit und der Angst die Macht über unsere Gedanken. Damit will ich nicht sagen, dass wir alles andere einfach vergessen sollen. Oder uns mit den gegebenen Empfindungen nicht auseinandersetzen dürfen. Mehr appelliere ich hier an das Erkennen der Teilerfolge die wir mit jeder Erkenntnis haben. Ungeachtet der Aussage eines Befundes macht er uns wissend. Wir wissen, wie bei meinem Vater, wir haben eine Krankheit. Wie alles andere auch auf dieser Welt hat sie einen Namen. Bei meinem Vater heißt die Krankheit Krebs. Nun wissen wir, mit wem wir es zu tun haben. Um uns diesem Thema gleichwertiger zu stellen, vertrauen wir uns Ärzten an. Warum auch nicht? Haben wir einen Schaden oder eine anstehende Reparatur am Haus, suchen wir den Rat bei einem Handwerker. Unser Wunsch etwas zu tun und das Wissen anderer Menschen vereinigen sich. Wir werden sicherer und stärker. Gemeinsam nehmen wir die anstehende Aufgabe in Angriff. Menschen, die sich bis dahin fremd waren, sind nun ein Team. Erst dann, wenn wir die Zufriedenheit, welche uns in die Lage versetzt, Entscheidungen zu treffen, erkennen, dann können wir das. Heißt es dann wirklich, der Unwissenheit und der Angst die Macht zu überlassen? Nein, ratsamer ist es, Vertrauen, Mut und Zuversicht walten zu lassen. Kein einfacher Akt, zweifelsohne. Doch damit kommt Licht ins Dunkle und lässt uns sehen.
»Ja, das sagte ich. Ich freue mich, dass du dies ebenso siehst. Lasse uns dies jetzt mal der Mutter mitteilen. Sie muss schon wissen, was du entschieden hast. Außerdem wollten wir nach deiner Entscheidung gleich wieder nach Deutschland fliegen.«
»Gebe mir noch ein bisschen Zeit. Die Wochen hier haben mir sehr viel gegeben. Mit meiner Entscheidung möchte ich mich jetzt noch etwas vertraut machen. Deiner Mutter werde ich es erst dann sagen, wenn ich einen festen Boden unter den Füssen habe. Ihr gegenüber möchte ich gefestigt auftreten. Wenn es dir nichts ausmacht, überlasse mir die Entscheidung, wann ich es ihr sage.«
»Kein Thema. Doch vergesse bitte nicht, sie hat ein Recht darauf deine Entscheidung zu wissen. Nehme dir die Zeit, die du brauchst. Darum sind wir doch hier. Gebe mir einfach Bescheid, wenn du zurück willst und ich organisiere alles Nötige. Ich freue mich für dich und denke, wir schaffen das.«
»Deine Zuversicht ist enorm. Woher hast du die nur?«
Noch am selben Abend sprach mein Vater mit meiner Mutter. Wie er es schon prophezeite, wollte sie sofort zurück nach Deutschland. Mein Vater bat sie um ein paar Tage mehr. Er erklärte ihr warum und wofür. Dies hatte sie dann eingesehen und verstanden. Sie einigten sich darauf eine weitere Woche in Florida zu bleiben.
Die letzte Woche gestaltete sich freier als die anderen zuvor. Es war förmlich zu spüren, dass mein Vater mit seiner Entscheidung vertrauter wurde. Meine Mutter knüpfte an das Vertrauen meines Vaters an. Beide waren zufrieden. Ein Teilerfolg war errungen. Der Tag der Abreise stand an. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Unser Flug ging über New York. Beim Einstieg in die Maschine tätigte mein Vater eine zukunftsweisende Aussage. Noch heute denke ich darüber nach, ob ihm damals schon bewusst war, dass sie genau so eintreten würde. Mit recht traurigen Worten sagte er, dass er noch nie in New York gewesen sei und diese Stadt wohl niemals mehr sehen wird.
Wieder zu Hause vereinbarten wir sogleich einen Termin bei Christiane B., seiner Hausärztin. Sehr entschlossen und ohne viele Worte teilte mein Vater ihr mit, was er möchte. Dass mein Vater eine Entscheidung getroffen hatte und seine Zuversicht freuten sie. Eine klare Zustimmung fand die Entscheidung gegen eine totale Operation. Eine solche kann ohne weiteres bis zu sechs Stunden in Anspruch nehmen. Während dieser steht der Patient unter Vollnarkose. Aufgrund des Allgemeinzustandes meines Vaters könnte diese Belastung seinen Körper überfordern. Zu der gewünschten Untersuchung gab sie uns weitere Informationen. Unter drei Krankenhäusern konnte mein Vater wählen. Alle entsprechend gut im Fachbereich Urologie. Mein Vater entschied sich für das Krankenhaus am Ort. Mit dieser Wahl stieß er bei meiner Mutter auf absolute Abneigung. War es doch das Krankenhaus, welches sie bisher immer in Trauer verlassen musste. Als Letztes wurde ihr dort der Tod meines Bruders mitgeteilt. Nachts, mit meinem Vater an ihrer Seite, standen sie einsam und allein am Anfang eines langen Ganges. Die Tür der Notaufnahme öffnete sich. Zwei Ärzte kamen auf sie zu. Der Klang der nähernden Schritte löschte sich nie wieder aus ihren Erinnerungen. Geprägt durch diese Erfahrung konnte dieses Krankenhaus ihre Zustimmung nicht mehr finden.
Seinen rationellen Argumenten für dieses Krankenhaus musste meine Mutter letztendlich zustimmen. Weniger als zwanzig Minuten brauchte man selbst mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht. Einer der Ärzte der Urologie war ein Bekannter meines Vaters. Dies und meine Befürwortung ließen keine andere Entscheidung zu. Nach kurzer Rücksprache mit dem Krankenhaus wurde für drei Tage später ein Termin vereinbart. Ich kann nicht sagen, dass meinem Vater die Kurzfristigkeit dieses Termins unangenehm gewesen wäre. Wollte auch er einen schnellen Befund als Grundlage für alles Weitere. Schon am Tag der Aufnahme wurden sämtliche vorbereitenden Untersuchungen vorgenommen. Nach Rücksprache mit dem Anästhesisten ergab sich die Übereinstimmung zur Aussage von Christiane B. Die Auswertungen seiner Untersuchungen zeigten, dass die gesundheitliche Verfassung meines Vaters eine Vollnarkose von sechs Stunden nicht zugelassen hätte. Somit stände die Überlebenschance auf Messers Schneide. Eine Bestätigung mehr für die Entscheidung meines Vaters von der Totaloperation abzusehen. Schon am späten Nachmittag des auf die Operation folgenden Tages fand das Gespräch mit dem Oberarzt statt.
Um eine präzise Diagnose des Karzinoms stellen zu können, war eine erneute Schälung der Prostata erforderlich. Bei dem festgestellten Knoten handelte es sich definitiv um das in der Histologie befundene Karzinom. Im Vergleich zum vorherigen Entlassungsbericht wurde eine Verdoppelung der Größe gemessen. Darin bestätigten sich die Aggressivität und das Schnellwachstum dieser Krebsart. Eine kurzfristige Therapie muss eingeleitet werden. Dazu empfiehlt sich als erste Wahl eine radikale Cystoprostektomie, Totaloperation. Auch der Oberarzt bestätigte noch einmal, dass diese aufgrund der unumgänglichen Vollnarkotisierung über den Zeitraum von ca. sechs Stunden nicht zu empfehlen sei. Alternativ der operativen Therapie besteht eine kombinierte Radio-Chemo-Therapie.
Ein kurzes und klares Gespräch. Der Befund des Oberarztes glich dem von Professor D., jedoch mit dem dringenden Hinweis, dass Eile geboten sei. Dies war also die Bestätigung die meinem Vater fehlte. Nach diesem Befund stellte er seine Krankheit nicht mehr in Frage. Meine Mutter resignierte in der Hoffnung, dass sich alles als ein Irrtum herausstellen könnte. Mein Befinden in diesem Moment war eher neutral, hatte ich doch genau dieses Ergebnis erwartet. Nachdem der Oberarzt den Raum verlassen hatte, trat Stille ein. Meine Mutter blickte nach unten, schüttelte den Kopf und fing an zu weinen. Mein Vater nahm ihre Hand.
»Jetzt wissen wir es definitiv. Ich habe Krebs.«
Da war sie nun, die Gewissheit. Mein Vater sprach zum ersten Mal aus, was er bis dahin als unausgesprochen dem Unwirklichen gleichsetzte. Mit diesen Worten erkannte mein Vater den Krebs an. Endlich bezog er Position zu diesem Thema. Es war zu erkennen, in ihm erwachte der Wunsch dem Feind