Und ich gab ihm mein Versprechen. Rainer Stoerring
überstehen? Konnten sich alle seiner Familie, Freunde, Klassenkameraden und Klassenkameradinnen oder die Nachbarn ebenfalls in Sicherheit bringen? Hatten alle genug Zeit dazu? Welche Veränderungen werden sich einstellen? Werden sie, wird er, damit leben können? Immer und immer wieder brannte diese Angst in seiner Seele. Sobald sie den Keller wieder verlassen konnten, wäre er gerne geblieben. Hatte er ihm doch in den letzten Stunden die Sicherheit gegeben, die ihm draußen fehlen würde. Was sollte ihn nun mit seinen dicken Wänden schützen? Die Kriegsjahre waren seine Kindheit. Jahre in denen ein Mensch lernt zu leben. Die ihn vorbereiten auf das, was seine Aufgabe ist. Unbeschwerte Jahre sollten diese sein. Seine Erinnerungen daran sind überschattet von der allgegenwärtigen Angst in dieser Zeit. Angst davor, ob es ein Morgen geben wird.
Zum ersten Mal erzählte mein Vater in so vielen Worten davon. Ich hörte aufmerksam zu. Was zog mich in den Bann? Zum ersten Mal spürte ich das Gefühl, welches in seinen Worten lag. Waren es also doch nicht nur die lustigen Geschichten, die zu Geburtstagsfeiern über diese Zeit berichteten. Waren diese Erlebnisse ganz tief in ihrer Art. Meine Anschauung dieser Zeit begann sich aufzuklaren. Der Schleier der personifizierten Tapferkeit löste sich auf. Die Hauptdarsteller der Erzählungen bekamen ein Gesicht. Sie wurden mit Empfindungen ausgestattet. Die Worte meines Vaters gaben jedem Einzelnen etwas Besonderes. Sie verliehen ihnen Leben. Ein Leben, um welches sie Angst hatten, es zu verlieren. Dafür lohnte sich die Tapferkeit der Menschen, der Alten, der Jungen und der Kinder.
Wollte mein Vater mir damit sagen, dass er Angst hat? Genau dies wollte er. Ganz in seinen eigenen Worten teilte er mir dieses mit. Und ich verstand ihn.
Wir verließen die Klinik. Mit Professor D. hatten wir uns vereinbart. Mein Vater wird ihm innerhalb der nächsten Tage seine Entscheidung über die aufgezeigten Behandlungen mitteilen. Genug Informationen über die jeweiligen Prozesse hatten wir.
Noch einmal möchte ich betonen, mit wie viel Ausdauer Professor D. meinen Vater, meine Mutter und mich in dieser Zeit begleitet hat. Immer und immer wieder stand er zur Verfügung, wenn neue Fragen auftauchten. In all den fachlichen und medizinischen Gesprächen stand er als ruhender Pol. Zu keiner Zeit hätte man je das Gefühl gehabt, sich in einem Patientenraster zu befinden. Natürlich erwartet man dies von einem behandelnden Arzt. Ganz besonders in Zeiten wie diesen. Doch sein Invest war einfach mehr. Es war Menschlichkeit.
Eben hatten wir das Stadtschild passiert. Noch wenige Minuten und wir waren wieder zu Hause. Mein Vater schaute aus dem Seitenfenster. Sein Blick suchte. Selbst wenn es nur wenige Tage waren, die man weg war, sucht man immer nach Veränderungen, die in dieser Zeit stattgefunden haben. Auf eine wortlose Frage, folgt eine wortlose Antwort.
Irgendwie wollte ich ihn erreichen.
»Und, hat sich nichts verändert. Alles noch so, wie du es verlassen hast. Es ist doch immer wieder schön, wenn man nach Hause kommt.«
»Ja, ich bin froh wieder hier zu sein. Getan hat sich nichts. Alles noch so, wie es war. Nein, nicht alles. Innerhalb weniger Tage hat sich mein Leben komplett verändert. Sehen kann man dies nicht. Zu spüren ist es umso mehr. Was soll ich nur machen? Wie werde ich mich entscheiden? Würde ich doch nur wissen, wie es richtig ist.«
Diese Fragen kamen mehr rhetorisch. Beantwortet wollten sie in diesem Moment nicht sein. Er blickte weiter aus dem Fenster. Meine Mutter schaute ohne jedes Wort zu ihm. Eine Stille trat ein. Keiner von uns hätte diese unterbrechen wollen.
Ich stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab.
»So, da sind wir. Geht ihr schon einmal vor. Ich komme mit dem Gepäck nach.«
Kaum, dass mein Vater wieder zu Hause war, klingelte das Telefon. Wenn mein Vater eines nicht gerne machte, dann war es ans Telefon zu gehen. Warum auch immer, wenn es klingelte, rief er nach meiner Mutter. Zum einen, weil die Gespräche für sein Befinden immer für meine Mutter waren. Zum anderen wohl, weil er der Bellschen Erfindung nicht traute. Jahrelang konnte ich dies nicht nachvollziehen. Irgendwann war mein Spürsinn so geschärft, dass es mir auffiel, auch in anderen Familien ist dies so. Scheinbar eine väterliche Antihaltung zur Telekommunikation. Wie gesagt, kaum war er angekommen klingelte das Telefon. Schon der erste Anrufer wollte sich erkundigen, wie es ihm geht. Zwei Dinge trafen aufeinander. Zum einen das Telefonieren, zum anderen offen über die Geschehnisse der letzten Tage sprechen. Schon nach dem ersten Gespräch bat mein Vater meine Mutter die Gespräche entgegenzunehmen und ihn zu entschuldigen, er würde schlafen. Diese Haltung gegenüber seiner Krankheit war mir an meinem Vater bereits im Krankenhaus aufgefallen. Nur schwer kamen seine Besucher bei ihm auf das Thema Krebs. Er war zu einer Prostata-Operation im Krankenhaus und fertig. Viele Worte brauchte mein Vater ohnehin nicht über seine Krankheit. Für ihn war es mehr eine Ehrbekundung einen Menschen im Krankenhaus zu besuchen als eine Informationsveranstaltung. Langsam drängte sich mir allerdings der Verdacht auf, dass er beginnt vor der Krankheit zu fliehen. Stand für ihn fest, wenn ich mich damit nicht auseinandersetze, dann habe ich es auch nicht? Selbst in den Gesprächen mit Professor D. verhielt er sich introvertiert. Meist übergab er meiner Mutter und mir das Wort. Damit will ich nicht sagen, dass er sich der Krankheit gegenüber verschlossen hatte. Vielmehr wollte er sich nicht aktiv damit befassen. War dies seine Art sich mit etwas vertraut zu machen? Lag ihm die Rolle des reagierenden Menschen eher als die des agierenden?
Solange ich auch in meine Vergangenheit als Sohn meiner Eltern zurückschaue, ein anderes Bild gewinne ich nicht von meinem Vater. Zwar wusste er immer genau, was er will und welche Entscheidung zu treffen ist. Doch ließ er meine Mutter immer die Entscheidung treffen und die entsprechende Umsetzung vornehmen. Sein wichtigstes Empfinden dabei war seine Zufriedenheit. Hier lässt sich die Frage nicht umgehen, ob er ein egoistischer Mensch gewesen ist. Dies war er nicht. Nur seine eigenen Vorteile, hätte er nie in den absoluten Vordergrund geschoben. Der einfache Weg war für ihn der angenehmste. Vielen Dingen ging mein Vater ohne großen Aufwand aus dem Weg. Nicht nur das, er ging ihnen auch gerne aus dem Weg. Im Laufe der Jahre erkannte ich, dass mein Vater doch Entscheidungen trifft. Er entschied, nicht zu entscheiden. Bei meiner Mutter, also der Frau, mit der er sein Leben lebt, konnte er sich darauf verlassen, dass sie seine Belange in jeder Entscheidung berücksichtigt. Für mich ein Grundprinzip, welches Achtung verdient. Denn uns ist allen klar, wenn ich etwas abgebe, darf ich mich nicht darüber ärgern, dass ich es nicht mehr habe. Doch genau darin haben wir Menschen unser Problem. So lange wie möglich wollen wir nichts aus der Hand geben. So aktiv wie es nur irgend geht, wollen wir an allem teilhaben. Gehen wir nicht grundsätzlich davon aus, dass nur wir alleine alles richtig machen. Wir nur darin unsere Zufriedenheit finden. Etwas abzugeben um andere etwas zu Ende führen zu lassen, ist nicht so einfach für uns. Mein Vater gab ab und vertraute in das Ziel. Auch wenn er sich manches Mal mit dem Ergebnis arrangieren musste, wusste er doch, es war richtig entschieden. Eine doch beneidenswerte aber viel zu seltene Art, über die wir Menschen verfügen.
Abends saßen wir zusammen beim Abendessen.
»Hier schmeckt das Essen wenigstens. Im Krankenhaus hatte ich oft das Gefühl, immer das gleiche Essen zu bekommen. Nicht, dass es schlecht gewesen wäre. Es schmeckte nur immer alles gleich.«
»Kann ich mir gut vorstellen. Als ich deinen Speiseplan gesehen habe, konnte da auch nichts von schmecken.«
»Jetzt macht aber mal langsam. Keiner kocht so gut wie Mutter, das ist ja klar. Und keiner hat so sensible Geschmacksnerven wie der Vater.«, gab ich mit dementsprechend lustigen Unterton von mir.
Ich hoffte, dass dies die schwere Stimmung etwas auflockern kann, die seit Stunden herrschte. Seit wir an diesem Vormittag zurück waren, wurde das Thema »Wie geht es weiter?« nicht mehr in Angriff genommen. Unvorstellbar für mich, dass man sich so zurückziehen kann. Ich sollte wohl eines Besseren belehrt werden. Dinge treten in unser Leben. Sie wollen nicht nur registriert werden. Sie fordern nach Erledigung. Um dies zu können, muss man sich im Vorfeld mit ihnen auseinandersetzen. Nur so kann man einen Weg finden. Verschweigen ist immer eine sehr ungute Vorgehensweise und bringt einen keinen Schritt weiter.
»Vater, was hast du dir denn überlegt? Konntest du dich mit einer der vorgeschlagenen Behandlungen anfreunden? Anfreunden, ein blödes Wort, ich weiß. Du weißt aber, wie ich das meine. Natürlich sollst du Zeit haben, um zu entscheiden. Doch vergesse bitte nicht, damit anzufangen.«