Und ich gab ihm mein Versprechen. Rainer Stoerring
oder bei Bekannten von Bekannten Realität war, ist heute in sein Haus eingezogen. So nah ist es gekommen, dass man es quasi spüren und riechen kann. Er selbst hat ihn noch lange nicht angenommen. Das Wissen, er hat Krebs ist ihm noch fremd. Er braucht Zeit und Ruhe. Er muss vom täglichen Umfeld Abstand nehmen. Nur dann kann er die Geduld finden um ihn kennen zu lernen. Wie Sie sagen, der Krebs ist kein Feind. Er ist eine Tatsache, die beseitigt werden kann. Aus medizinischer Sicht haben Sie uns alles an Informationen gegeben, was möglich ist. Darüber macht mein Vater sich keine Gedanken mehr. Was er noch muss, ist den Krebs akzeptieren. Dann wird er Zufriedenheit mit sich selbst finden. Aus dieser Zufriedenheit speist sich die Kraft, die er jetzt benötigt. Oder ganz simpel gesagt, an was wir halbherzig gehen, wird uns nicht wirklich gelingen.«
»Erstaunlich. Nicht nur in ihren Worten sagen Sie das. Auch Ihr Ausdruck und Ihr Gesicht lassen erkennen, dass Sie es so meinen. Trotz der Tatsache, dass dieser Krebs nicht zu besiegen ist, geben Sie nicht auf. Wunderbar.«
»Danke. In einem unserer ersten Gespräche sagten Sie, dass wir von Fall zu Fall leben müssen. Wie lange die Zeit dazwischen sein wird, ist nicht zu bestimmen. Die Endlichkeit von Allem ist der Tod. Das war sehr ehrlich und richtig. Dies sage ich nicht nur mit meinen Worten. Ebenso empfinden dies mein Vater und meine Mutter. Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.«
»Ich wünsche Ihnen alles Gute. Informieren Sie mich bitte, sobald Ihr Vater eine Entscheidung getroffen hat. Sollte er dazu meine Hilfe oder meinen Rat benötigen, rufen Sie mich an oder senden Sie mir eine Mail.«
»Vielen Dank. In jedem Fall werde ich Sie darüber informieren, was er entschieden hat.«
Nach diesem Gespräch fühlte ich mich sehr gut. Meine Idee war die richtige gewesen. Mein Vater wird eine Entscheidung treffen. Darin war ich mir sicher.
Die ersten Tage in Florida vergingen. Mit keiner Silbe wurde das Thema Krebs angesprochen. Wie mein Vater mir später einmal sagte, genoss er die ersten Tage. Für ihn hatte es eine befreiende Wirkung, dass so viel Zeit vor ihm lag. Zwar wusste jeder von uns genau, welcher Auftrag zu erledigen war. Doch übten wir uns in Geduld. Ganz ohne Drang sollte eine Entscheidung getroffen werden. Eine Entscheidung trifft sich vermeintlich einfacher, wenn man das Drumherum mit angenehmen Dingen gestaltet. Die Tage starteten mit einem leckeren Frühstück. Auf dem Weg zum Meer noch einen Abstecher zu Starbucks. Meist zum Kaffee noch ein Cookie, ein Muffin oder sonst eine Süßigkeit. Am Strand tankten wir nicht nur Licht und Wärme. In unseren Spaziergängen auch Ruhe und Ausgeglichenheit. Der Atlantik um diese Jahreszeit verschafft dem Körper die benötigte Abkühlung. Mit der Zufriedenheit des Tages entschieden wir nachmittags, wie wir uns abends kulinarisch verwöhnen lassen. Mal war es das Steak im Roadhouse, die Chicken Wings bei Hooters, das abwechslungsreiche Buffet beim Chinesen oder wir kochten gemeinsam zu Hause. An einem Tag in der zweiten Woche saß mein Vater gedankenversunken in seinem Stuhl am Strand und blickte auf das Meer. Meine Mutter und ich saßen am Tisch dahinter.
»Heute gefällt mir dein Vater gar nicht. Er ist so ruhig. Was hat er nur? Willst du nicht einmal zu ihm gehen und ihn fragen, was mit ihm ist?«
»Was meinst du wohl, was er haben wird? Seinen Wunsch, eine Entscheidung zu treffen, nimmt er ernst. Damit wird er heute begonnen haben. Gib ihm einfach die Zeit dazu.«
»Vielleicht weiß er nicht, wie er sich entscheiden soll.«
»Und du denkst, dass du ihm die Entscheidung vorsagen kannst? Diese Entscheidung ist einzig und allein vom Vater zu treffen. Will er sich auf dem Weg dahin mit uns unterhalten, dann wird er das aus eigenen Stücken tun. Für dich ist es nicht einfach. Du möchtest nicht loslassen. Aber hier hast du keine andere Wahl.«
»Ich mache mir doch auch meine Gedanken. Es ist zum verrückt werden. Ich hätte nie gedacht, dass die Worte vom Professor D. mich so schnell einholen. Weißt du noch, nach dem ersten Gespräch sagte er doch zu mir, ich wünsche ihnen alles Gute und viel Kraft für die anstehende Zeit.«
»Ich weiß. Und genau dass hat er damit auch gemeint.«
Mit unserem Blick auf meinen Vater und ohne jedes weitere Wort vergingen die nächsten Minuten.
Ich stand auf, nahm einen Vanillejoghurt aus der Kühlbox und ging zu ihm.
»Magst du einen Joghurt? Vitamine kommen bei Kopfarbeit immer ganz gut.«
Mein Vater schaute mich an und grinste. Ein leichter Ausdruck erwischt worden zu sein, legte sich in seinen Blick.
»So du denkst also, ich arbeite mit dem Kopf.«
»Ja, anderes Werkzeug sehe ich im Moment nicht.«
Eine Welle schlug an den Felsen.
»So wie diese Welle auf den Felsen schlug, schlug der Krebs in mein Leben.«
Bei diesen Worten starrte mein Vater auf das Meer hinaus. Über uns zogen fünf Seemöwen. Beide schauten wir nach oben.
»Doch die Gewissheit, dass du Krebs hast, schlug wesentlich heftiger in unser Leben als die Welle an den Felsen. Das Aufbrausen des Meeres ist vergänglich. Was es mit sich bringt, regelt sich von selbst. Gegen den Krebs und seine Beschwerlichkeiten, die er mit sich bringt, muss etwas getan werden. Was getan werden kann, wissen wir. Du siehst die fünf Vögel am Himmel. Sie sind auf der Reise und ziehen weiter. Auch dein Leben ist noch in Bewegung. Wo deine Reise hingehen soll, kannst du entscheiden.«
Meine Hand lag auf seiner Schulter und drückte ihn leicht. Ich gab ihm das Joghurt und ging zu meiner Mutter zurück. Sie schaute mich fragend an. Ich nickte ihr zuversichtlich zu.
An diesem Abend gingen wir in das Roadhouse. Meinen Eltern gefiel es dort sehr gut. Ein ganz typisch amerikanisches Restaurant. Dielenboden, ein großer Holztresen in der Mitte des Raumes, Country Musik und Off Road Bilder an der Wand. Freundliches und serviceorientiertes Personal. Bei den meisten Bedienungen hatte man sofort ein vertrauensvolles Gefühl. Man wusste, das ist Mary Ellen. Eine, die aus vielen Geschichten, die man ihr bereits erzählt hat, das eigene Leben fast besser kennt, als man selbst. Mit einem offenen »Hallo, wie geht’s?« nimmt sie die Speisekarten und die Bestecke in die Hand und bittet einen, ihr zu folgen. Wie immer saßen wir an einem Fensterplatz. Draußen zog ein Gewitter auf. Untypisch für diese Jahreszeit. Doch die Hitze des Tages hatte nichts anderes versprochen.
»Haben wir im Haus alle Fenster zu? Haben wir alles ausgemacht? Sind die Antennenstecker gezogen?«
Meine Mutter stellt immer die gleichen Fragen bei einem aufziehenden Gewitter. Woher diese panische Angst stammt, konnte sie noch nie erklären. Schätzungsweise war ihr das selbst nie bewusst.
»Mache dir mal keine Gedanken. Hier ist alles flach. Durch die Wände des Hauses leitet sich nichts weiter. Und anstatt Antennen sind hier alle verkabelt. Außerdem glaube ich nicht, dass das Gewitter es sich zum Ziel gesetzt hat, uns im Freien übernachten zu lassen.«
»Ich habe halt immer Angst, wenn ein Gewitter aufkommt.«
Mein Vater lächelte.
»Und Vater? Du warst heute so ruhig am Strand. Hast du ein bisschen nachgedacht?«
Meine Mutter schaute erst zu mir und dann zu meinem Vater. Ihre Angst vor dem aufziehenden Gewitter schien der vor den Worten meines Vaters zu weichen. Dachte sie, das Jüngste Gericht würde sprechen? Mein Vater sagte einen kurzen Moment gar nichts. Er räusperte sich.
»Lasst uns erst einmal essen.«
Eine unzufriedene Stille trat ein. Es blitzte hell. Ein lautes Grollen folgte.
»Wie du möchtest«, gab ich ihm zurück.
Meine Mutter zog ihre Augenbraue hoch. Immer ein Zeichen dafür, dass sie mit etwas anderem gerechnet hat.
»Naja, es sind so viele Gedanken in meinem Kopf. Professor D. hat uns so viele Informationen gegeben. All die Therapien, die er vorgeschlagen hat. Was wird die richtige Entscheidung sein?«
»Zum einen besteht die Möglichkeit der Totaloperation. Das heißt in deinem Fall muss ein künstlicher Ausgang gelegt werden. Zum anderen eine Injektion in das Karzinom. Dadurch wird der abgeschlossene Mantel des Gebildes