Und ich gab ihm mein Versprechen. Rainer Stoerring
und bösartig. Das waren die Worte, welche weder meine Mutter noch ich hören wollten. Mit allem hätten wir gerechnet, damit nicht. Keine, auch noch so kleine Schwingung in unseren Gedanken, wäre in diese Richtung gegangen. Mein Vater hat Krebs. Dieses Wort raste durch meinen Kopf. Und manifestierte sich irrsinnig tief in meinem Inneren. Meine Mutter saß neben mir mit einem Blick voller »Das kann nicht sein« schaute sie Professor D. an. Sie schüttelte ihren Kopf als wollte sie die Worte noch einmal sortieren, die eben zu ihr kamen.
»Sie müssen sich irren. Mein Mann ist wegen seiner Prostata hier und operiert worden.«
Tränen stiegen in ihre Augen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte in Fassungslosigkeit. Ihr Blick war voller Hoffnung mit dem Schatten der Hilflosigkeit. Beide schauten wir zu Professor D.
»Nein, es tut mir leid. Ihr Mann hat Krebs. Diese Art des Krebses ist relativ unbekannt. Über wenig Kenntnis verfügt die Medizin darin. Wie gesagt, es handelt sich um eine sehr aggressive, schnellwuchernde und bösartige Art. Es tut mir leid, Ihr Mann hat Krebs.«
Meine Mutter konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie ließ ihrer Betroffenheit freien Lauf. So, wie in diesem Moment habe ich sie bis zu diesem Tag lediglich nur einmal erlebt. Aufgelöst in Tränen der Bestürzung und Verzweiflung saß sie da. Dies war vor knapp 20 Jahren. Damals kamen meine Eltern nachts aus dem Krankenhaus zurück und kämpften mit dem, was ihnen der Arzt nur kurz zuvor mitgeteilt hatte. Mein Bruder war in dieser Nacht verstorben. Sah sie sich nun wieder konfrontiert mit dem Verlust eines Menschen? Überging sie das, was uns Professor D. eben sagte und sah sie schon in diesem Moment die Letztendlichkeit dieser Krankheit? Ihre Augen fokussierten mich. Die Tränen liefen auf Ihren Wangen herunter.
»Warum muss das sein? Dein Vater ist ein so liebevoller Mensch. Er hat noch nie etwas Böses getan. Alle kommen so gut mit ihm aus. Wieso muss er das haben?«
»Mutter, darum geht es nicht. Was du als »das« bezeichnest, heißt Krebs. Es ist eine Krankheit. Mein Vater, Dein Mann hat Krebs. Jetzt müssen wir sehen, was wir tun können. Die Frage nach der Gerechtigkeit wird dir keiner beantworten. Bei einer Krankheit sollte diese Frage sowieso nicht gestellt werden«
Sie schüttelte den Kopf. Ihre Verzweiflung schwächte sie.
»Dein Vater, mein Ehemann wird sterben. Muss ich denn schon wieder einen Menschen verlieren? Womit habe ich das verdient?«
»Du denkst bereits jetzt über seinen Tod nach. Jetzt schon betreibst du Trauerarbeit. Du, wir haben noch nichts verloren. Jetzt ist nicht die richtige Zeit. Du hast das Recht zu weinen. Du sollst weinen, das ist gut. Trauern brauchst du noch nicht. Erst müssen wir sehen, was wir tun können. Wenn es irgendwann soweit ist, dass der Vater sterben wird, dann kannst du trauern. Nicht nur du, alle werden wir dann trauern. Doch jetzt ist effektiv nicht die richtige Zeit.«
Professor D. schaute mich voller Bewunderung an. Was genau hatte ich gesagt, was ihn dies tun ließ? Hatte ich etwas Falsches aufgenommen oder wiedergegeben? War es mir nicht selbst zum weinen. Am liebsten hätte ich laut geschrieen? Meinen Tränen freien Lauf gelassen.
»Ihr Sohn hat Recht. Momentan überwältigt Sie das alles. Es ist nicht einfach einen Befund wie diesen zu bekommen. Sie müssen es annehmen. Nachdem wir das Karzinom gefunden haben, müssen wir überlegen, welche die richtige Behandlung ist. Die Art dieses Krebses ist recht selten. Viele medizinische Erkenntnisse darüber gibt es leider noch nicht. Was allerdings nicht heißt, dass wir gar nichts tun können. Mit Ihrem Mann habe ich bereits gesprochen. Ich denke, Sie sollten jetzt zu ihm gehen und wir sehen uns die nächsten Tage um alles weitere zu besprechen. Seinen Aufenthalt werde ich um zwei Tage verlängern. Diese Zeit benötigen wir, um noch eine weitere Untersuchung vorzunehmen.«
Meine Mutter schaute zu Boden. Sie schüttelte ihren Kopf. Diesen Gedanken wollte sie einfach wieder loswerden. Was ging in diesem Moment in ihr vor? Professor D. verabschiedete uns. Sein Blick war verständnisvoll und empfindend zugleich. Wir standen am Aufzug und warteten bis er kam. Noch nie war mir das Warten so lange vorgekommen wie in diesem Moment. Meine Mutter war absolut in sich gekehrt. Ich legte meinen Arm um sie.
»Was soll ich nur ohne deinen Vater machen? Wie soll das alles weitergehen?«
»Diese Gedanken brauchst du dir jetzt noch nicht machen. Wir müssen erst einmal sehen, was Professor D. an Behandlungsmethoden aufzeigen kann. Die Medizin ist heute schon recht weit auf dem Gebiet des Krebses. Ich gehe davon aus, dass er einen Weg, eine Behandlung finden wird. Mache dir jetzt nicht zu viele Gedanken.«
»Dieser Krebs ist selten, hat er gesagt. Was soll er da an Möglichkeiten finden?«
»Diese Form des Krebses ist selten, das ist richtig. Darüber hinaus aggressiv und schnellwachsend. Vom Grundsatz ist es aber Krebs. Das heißt, es kann keine Symptombehandlung geben. Es muss an der Basis etwas getan werden. Weder du noch ich verfügen über ein umfassendes Wissen in diesem Thema. Wir müssen uns auf das verlassen, was uns die Ärzte sagen. Wenn wir jetzt zum Vater kommen, schauen wir erst einmal, was er sagt, und wie er reagiert.«
»Was soll er denn sagen. Er ist ebenso geschockt wie wir auch.«
»Eben, damit hast du Recht. Auf was es jetzt ankommt, ist das Wir. Nicht nur ich, du, er oder sie. Das Wir ist die richtige Einstellung. Wir schaffen das. Habe ein bisschen Hoffnung.«
Meine Mutter schaute fragend zu mir.
»Wie soll die uns denn helfen? Bisher hat sie mir noch nie etwas gebracht. Hoffnung, mit so einem Mist kann ich nichts anfangen.«
Damit war unser Gespräch beendet. Wir kamen aus dem Aufzug. Der lange Gang der Station lag vor uns. Ich erkannte meinen Vater am Ende dessen, vor seiner Tür. Auch er sah uns. Mit schweren Schritten gingen wir aufeinander zu.
Ohne viele Worte sahen wir uns an. Mein Vater wirkte hilflos. Meine Mutter war gefasst. Einen ganzen Moment hielten wir inne. Keiner von uns hatte gewusst, was er sagen soll. Mein Vater eröffnete das Gespräch.
»Es wird schon wieder. Macht euch mal keine Gedanken.«
Meine Mutter brach in Tränen aus.
Die zwei nächsten Tage wurden verschiedene Gespräche mit Professor D. geführt. Er zeigte uns auf, welche Behandlungsalternativen gegeben sind. Die Informationen waren umfangreich. Die jeweiligen Für und Wider fanden ebenso ihren Platz darin wie die Darstellung des medizinischen Hintergrundes. Immer wieder stießen wir an die Grenzen unserer Auffassungsgabe. Doch wollten wir nie das Gefühl haben etwas nicht gesagt bekommen zu haben bzw. etwas an Wissen missen zu müssen. Wir hörten zu. Wir nahmen alles auf, was uns über die Krankheit erzählt wurde. Sie drang so plötzlich in unser Leben ein. Völlig unvorbereitet mussten wir uns mit ihr auseinander setzen. Gerne hätten wir darauf verzichtet. Doch was anderes als sie kennen lernen sollten wir tun? Je besser man sie kennt, umso besser sehen wir auch ihre Schwächen. Jede dieser wollten wir zu unserem Vorteil nutzen. Dieser Vorteil für meinen Vater und uns war nur temporär zu sehen. Darüber waren wir uns im Klaren. Auch heute noch sind wir dankbar dafür, dass mit uns in klaren Aussagen kommuniziert wurde. Diese Art des Krebses, wie sie sich bei meinem Vater darstellte, war nicht zu besiegen. Alles, was angewandt werden würde, konnte diesen Krebs und seine Auswirkungen nicht heilen. Bewusst dieser Tatsache war uns von Anfang an klar, dass wir Abschied nehmen müssen.
Zwei Tage später wurde mein Vater aus der Klinik entlassen. Diesem Tag fieberte er seit seiner Ankunft entgegen. Nun war er da. Geprägt durch die Geschehnisse der letzten Tage fiel ihm das Verlassen der Klinik nicht einfach. Ein Wandel in seiner Empfindung war eingetreten. Empfand er ein Krankenhaus doch immer als Gefängnis, wollte er diesem jetzt nicht den Rücken kehren. Was würde ihn außerhalb dieses Schutzes erwarten. Er erzählte mir aus seiner Kindheit.
Sobald die Aufklärungsflugzeuge am Himmel zu erkennen waren, mussten sie in den Keller. Einen Bunker gab es nicht in der Nähe seines Elternhauses. Bei einer Tante mussten sie Unterschlupf finden. Ihr Haus befand sich nur einige Meter über die Strasse. Jedes Mal, wenn er die Kellertreppen hinunter steigen musste, befiel ihn eine Beklemmung. Ihm wurde bewusst, dass er dort nun wieder viele Stunden verbringen musste. Abgeschlossen von der Außenwelt, seiner Welt, in der er lebte. Würde er danach noch