Und ich gab ihm mein Versprechen. Rainer Stoerring
Man ließ sie mit dem Blut ihrer Seele dafür bezahlen, was ihre Mütter getan hatten. Viele Jahre wurde meine Mutter fremden Menschen vorgeführt und präsentiert. Keiner dieser entschied sich für sie. Für sie gab es auf der ganzen Welt niemanden, der sie liebt. Als sie acht Jahre war, kam sie zu Pflegeeltern. Wohlgemerkt Pflegeeltern, eine Adoption war ausgeschlossen. Wie man meiner Mutter viele Jahre später einmal sagte, wollte man damit ausschließen, dass sie einen Platz in der Erbfolge findet. Immerhin war sie nicht das eigene Fleisch und Blut. Bis zu ihrem 21. Lebensjahr lebte sie bei ihren Pflegeeltern. Auf ein Leben voller Zwang zum christlichen Glauben schaute sie zurück. Jeder Tag war durch das Wort Gottes bestimmt. Nicht einer verging ohne Gebete und Messen. War sie nicht eine, von der man verlangte, dass sie um Vergebung zu bitten hat. Um Vergebung dafür, welchen Ursprung sie hat. Ob Gott ihr vergeben hat, ist bis heute ungeklärt. Ebenso ist ungeklärt, ob Gott die unter Zwang geforderte Demut gewollt hat. Als Handwerker hatte mein Vater einen Auftrag in der Nachbarschaft der Pflegeeltern angenommen. Meine Mutter lernte meinen Vater kennen. Das Dorf sprach über diese Unsitte. Nicht, dass mein Vater als Mann das Thema war. Viel mehr war man darüber aufgebracht, dass er eine andere, falsche Konfession hat. Mein Vater gehörte dem evangelischen Glauben an. Unvorstellbar für die Gemeinde. Die Pflegemutter meiner Mutter sah keinen anderen Ausweg als die Beichte und die damit verbundene Bitte um Vergebung vor dem Herrn. Was anderes als dem nachzugeben, hätte meine Mutter tun sollen? Meine Mutter vollzog die Beichte ohne meinen Vater zu erwähnen. Am Ende der Beichte sprach der Pfarrer meine Mutter direkt auf ihre Sünde an. Hier war wohl der richtige Moment gekommen. Meine Mutter teilte dem Pfarrer mit, dass ihn dies in keinster Weise zu interessieren hätte und sie nicht im Geringsten daran denken würde für die Liebe zu diesem Mann um Vergebung zu bitten. Sie verzichtete auf den Segen, stand auf und verließ die Kirche. Nicht nur das, noch am selben Tag verließ sie das Dorf, in welchem sie die letzten dreizehn Jahre lebte. Sie ging als die, als die sie auch gekommen war. Sie ging als Fremde.
»Mutter, nun mache mal langsam. Du musst den Vater nicht weggeben. Er wird an der Prostata operiert. Diese Operation kann nicht zu Hause vorgenommen werden.«
»Ach, es ist doch wahr. Wer soll sich denn hier um ihn kümmern?«
Ihre Worte waren voller Resignation.
»Schaue mal, wir sind in einem Krankenhaus. Hier wird sich um die Patienten gekümmert. Wer sonst, als die Menschen hier kann das besser. Sei mal ein bisschen zuversichtlicher, sonst hat der Vater auch keine Lust mehr und wir müssen ihn gleich wieder mitnehmen.«
»Das wäre mir am liebsten. Ich habe ein schlechtes Gefühl.«
»Jetzt ist aber mal Schluss. Die Operation steht an. Sie wird vorgenommen. Spätestens morgen Abend wirst du dies ebenso sehen.«
Mit dem Versprechen an meinen Vater, ihn gleich anzurufen, verabschiedete sich meine Mutter von ihm. Tränen standen in ihren Augen. Dies war einer dieser besonderen Momente. Meine Eltern überschütteten sich nie mit übertriebenen Liebesbekundungen. Für beide stand fest, dass dem nicht sein muss, wenn man sich der Liebe für den anderen und des anderen sicher sein kann. An dieser Sicherheit gab es bei meinen Eltern nie einen Moment des Zweifels. Eigentlich ein schönes Paar. Meine Mutter suchte nach einem Mann wie ihm. Mein Vater war glücklich eine Frau wie sie gefunden zu haben. Sie ergänzten sich in sehr vielen Dingen. Jeder akzeptierte den anderen wie er ist. Gegenseitig überließen sie sich die jeweilige Aufgabe. Grundsätzliches entschieden sie gemeinsam. Wenn auch einer der beiden dem anderen den Weg dazu manches Mal ebnete. Nicht immer waren sie in allen Dingen einer Meinung. Fanden aber im Ergebnis immer eine gemeinsame Basis.
Ich stand neben ihnen und lächelte. Einen leicht gereizten Blick erntete ich dafür von meiner Mutter. Als sie mich anschaute, blinzelte mein Vater mir zu, machte einen Schmollmund und schüttelte leicht den Kopf. Seine ganz eigene Art zu sagen, »Lass’ sie mal, das wird schon wieder«. Ich lachte, mein Vater lachte, meine Mutter ebenso. Wir gingen.
Die Operation verlief sehr gut. Meine Mutter und ich erkundigten uns beim diensthabenden Arzt. Genau so, wie es Professor D. befunden hatte, musste die Prostata meines Vaters geschält werden. Er erklärte uns in verständlichen Worten, was alles gemacht wurde und was für die nächsten Tage ansteht. Wir verspürten eine Zufriedenheit. Professor D. war an den nächsten zwei Tagen nicht zu erreichen. Er war zu einer Tagung gefahren. Sobald er zurück sein wird, würde er sich mit uns in Verbindung setzen. Diese Aussage verwunderte uns nicht. Nach dem Gespräch gingen wir zu meinem Vater. Er lag in seinem Bett. Seine Augen waren geschlossen. Eine Doppelkanüle war an seiner linken Hand angebracht. Eine weitere Einzelkanüle an seiner rechten. An der Seite seines Bettes hing ein Urinbeutel. Durch einen Katheter floss ein Gemisch aus Urin und Blut hinein. Nicht ungewöhnlich nach einer solchen Operation. Mein Vater vernahm uns. Er öffnete die Augen und blinzelte uns zu. Er versuchte sich ein bisschen aufzurichten. Meine Mutter half ihm. Mit seinen eigenen Worten sagte er uns, dass alles gut gelaufen sei und er jetzt nur noch ein paar Tage bleiben muss. Sobald der Katheter entfernt werden kann, würde er das Krankenhaus verlassen. Zuversicht und Freude waren bei ihm zu erkennen. Meine Mutter war erleichtert. Die nächsten zwei Tage verliefen bestens. Mein Vater erholte sich gut. Die am ersten Tag notwendigen Schläuche waren entfernt worden. Mein Vater fasste sogar den Mut aufzustehen und mit seinem Urinbeutel auf den Gang zu gehen. War es für ihn am ersten Tag noch ein Ding der Unmöglichkeit dies zu tun. Allerdings registrierte er schnell, dass nahezu alle anderen Patienten dieser Station ebenso mit einem Urinbeutel ausgestattet waren. Meine Mutter hatte Torte mitgebracht. Als mein Vater diese sah, verschwand alles um ihn herum. Weder der Urinbeutel, noch die Operation oder das Krankenhaus selbst konnten seine Stimmung jetzt trüben. Ein Stück Buttercremetorte war angesagt. Dazu eine Tasse Kaffee. Was kann es besseres geben.
Am nächsten Tag bekam meine Mutter einen Anruf von Professor D. Er bat uns, meine Mutter und mich, zu einem Gespräch in seine Praxis. Noch am selben Tag sollte das Gespräch stattfinden. Meine Mutter rief mich an.
»Professor D. hat mich angerufen. Er möchte sich mit mir und dir unterhalten. Heute Nachmittag sollen wir zu ihm kommen. Ich bin fix und fertig. Was will er von uns? Garantiert ist etwas Schlimmes passiert.«
»Moment mal. Das weißt du doch gar nicht. Was hat der Professor dir denn gesagt? Ist ein Problem während der Operation aufgetreten? Ist jetzt in der Nachbehandlung etwas eingetreten, was nicht vorhersehbar war? Überlege mal, was genau hat er dir gesagt?«
»Er rief an. Er sagte, dass die Operation gut verlaufen war. Jetzt würde er sich gerne mit uns darüber unterhalten.«
»Also, wie kommst du dann gleich auf das Schlimmste? Nach der Operation war er ein paar Tage auf einem Meeting. Zeit mit uns zu sprechen gab es noch nicht. Vielleicht ist das ganz normal. Wann sollen wir denn bei ihm sein?«
Ich wusste nicht genau, ob ich meine Mutter mit meinen Worten erreichen konnte. Viel mehr verspürte ich eine Ungewissheit in mir. Hatte sie mich mit ihren Worten der Angst mehr erreicht als ich sie mit meinen? Um was würde es in dem Gespräch mit Professor D. gehen? War es der normale Prozess nach einer OP? Wie sollte ich mich darauf vorbereiten? Die Ungewissheit ließ mich nicht mehr los. Ich holte meine Mutter pünktlich ab. Sie war aufgeregt und hätte am liebsten laut geweint. Ich wiederholte meine Worte aus unserem Telefongespräch. Andere wären mir auch nicht eingefallen. Wir betraten die Praxis, meldeten uns am Empfang und warteten bis uns der Professor abholte. Er begrüßte uns freundlich und bat uns ihm zu folgen. Voller Erwartung taten wir das. In seinem Zimmer nahmen wir Platz. Er schloss die Tür und setzte ich zu uns.
»Schön, dass unser Termin so kurzfristig möglich war. Möchten Sie etwas trinken?«
Meine Mutter und ich verneinten. Die Augen meiner Mutter klebten an ihm, folgten jeder Bewegung. Ungeduld zeichnete ihr Gesicht.
»Bitte sagen Sie uns, was los ist. Welches Problem ist aufgetreten?«
Ihre Aufregung war bei diesen Worten zu spüren.
»Wie ich Ihnen schon sagte, verlief die Operation bestens. Die Prostata Ihres Mannes war sehr verengt. Grosse Ablagerungen hatten sich gebildet. Wir mussten ein bisschen mehr abschälen als zuvor befunden. Durch die Prostata verläuft die Harnröhre. In diesem Teil der Harnröhre haben wir einen Knoten festgestellt. Nach den Untersuchungen ergab sich für uns ein abgeschlossenes