ENTFÜHRT IN PARIS (Die Ritter des Vatikan 5). Rick Jones
Cognac eingeschenkt hatte, ging Majors auf den Balkon seiner Wohnung in vierten Stockwerk hinaus, von dem aus man einen freien Blick auf den Hyde Park in einiger Entfernung genoss. Von hier oben konnte man ein paar der Bäume und offene Rasenflächen sehen. Aber der eigentliche Grund, warum er den Hyde Park so liebte, waren die Podien entlang der Gehwege. Er kam oft hierher, um sich die Leute anzuhören, die aktuelle politische Themen von Bedeutung besprachen; Dinge, die die eigene Meinung oder die persönliche Weltsicht verändern konnten. In letzter Zeit aber, zumindest seiner Ansicht nach, wurden die Podien mehr und mehr von Wirrköpfen und Spinnern bestiegen, die irgendwelchen unsinnigen Stuss in die Welt posaunten.
Die Zeiten hatten sich geändert.
Majors kippte sich den Rest seines Drinks hinunter und ging ins Badezimmer, wo er sein Spiegelbild betrachtete. Seine Augen waren gerötet und die Falten in seinem Gesicht wurden länger und tiefer.
Als er noch der Chef der britischen Special Forces gewesen war, schienen die Dinge noch ganz anders gewesen zu sein, denn es gehörte zu den Segnungen der Jugend, dass sich zu dieser Zeit sein Geist und sein Körper noch im Einklang befanden. Doch nun war er älter und sein Körper signalisierte ihm, dass er sich dem Ende seiner Dienstzeit als Leiter der Taskforce näherte. Die ständigen Schmerzen in seinen Knien und seiner Schulter waren der Beleg für das, was sein Verstand bereits zunehmend zur Kenntnis nahm: Du wirst langsam zu alt.
Aber eine Sache wollte er in seinem Leben noch beenden, die etwas Gutes bewirken würde – jene Sache, die ihn zu einer Legende machen würde. Er wollte als der Mann in die Geschichte eingehen, der Jadran Božanović zur Strecke gebracht hatte.
Er stöhnte auf, als die Schmerzen in seinen Knien so stark wurden, dass selbst der Cognac sie nicht mehr betäuben konnte. Also öffnete er die Spiegelschranktür und nahm ein Fläschchen mit einem Schmerzmittel heraus. Als er die Tür wieder schloss, waren plötzlich zwei Gesichter in dem Spiegel zu sehen: sein eigens und das von Jadran Božanović.
Majors Augen blinzelten nicht einmal, und er drehte sich auch nicht, um sich dem Eindringling entgegenzustellen. Es war, als hätte er schon die ganze Zeit nur auf diesen einen Moment gewartet.
Im Spiegel sah er, wie das narbige Gesicht Božanovićs ihn musterte, mit einem ausdruckslosen Blick, der keinerlei Emotionen verriet. Seine Augen aber bargen etwas Tiefes und Kaltes und ihre Schwärze schien undurchdringlich.
Dann wurde Majors klar, dass Božanović ein Mann war, der nur mit Mühe seinen ungeheuren Zorn bändigen konnte und nun zu ihm gekommen war, um seinen Tribut zu fordern – dafür, dass er seine Operation auf der Aleksandra vereitelt hatte.
Božanović hob ein Messer. Die Spitze war beinahe frevelhaft scharf und die polierte Klinge reflektierte das grelle Licht der Glühbirne über ihnen. Er spielte auf eine bösartige Weise damit, indem er das Messer in seiner Hand langsam kreisen ließ, sodass Majors es sich von allen Seiten sehen konnte.
Und Majors gab sich mit einem Kopfnicken geschlagen, denn er wusste, dass er allein nichts gegen diesen Mann würde ausrichten können.
Drei Tage später, als man die Leiche von Colonel Majors entdeckte, sollte die London Times den Mord mit den Taten eines Jack the Ripper vergleichen.
Kapitel 2
Das Büro des Monsignore, Vatikan
»Ich töte Menschen. Das ist es, was ich tue. Worin ich gut bin.«
Monsignore Dom Giammacio war der vatikanische Berater für Geistliche, die mit Selbstzweifeln und schwindender Überzeugung zu kämpfen hatten. Aber an diesem Tag lauschte er nicht den Worten eines Priesters. Er hörte einem Soldaten des Vatikan zu, einem erfahrenen Kämpfer, der dafür gefochten hatte, die Souveränität der Kirche, deren Interessen und den Wohlstand seiner Bürger zu bewahren.
An diesem Morgen widmete er sich jemandem, der schlicht bekannt war als der Priester, der kein Priester ist.
Er befand sich in einer Sitzung mit Kimball Hayden, dem Teamleiter der Ritter des Vatikan, der stets nach seiner eigenen Erlösung und Vergebung für seine dunkle Vergangenheit suchte, die wie ein Krebsgeschwür in ihm wucherte.
»Kimball, was Sie mir da erzählen, hört sich immer mehr wie ein inhaltsloses Mantra an. Wir haben schon so oft darüber gesprochen.«
Kimball ließ sich in einen Sessel sinken. Seine hellblauen Augen musterten die kupferfarbenen Augen des Monsignore. »Worüber sollen wir uns dann noch unterhalten?«
Der Monsignore sah auf die Rauchkringel hinab, die von der Zigarette aufstiegen, die er zwischen seinen langen, dünnen Fingern hielt; beobachtete, wie die zarten Ringe aus Rauch in die Luft stiegen und sich verflüchtigten. »Wir müssen über Ihren Unwillen sprechen, den Fakt anzuerkennen, dass Sie mit Ihrem Dienst als Ritter des Vatikan Gottes Gnade erfahren haben.«
Kimball beugte sich nach vorn. Deutlich zeichneten sich die Muskeln an seinen Unterarmen ab. »Kann Gott einem Mann verzeihen, der aus reinem Pflichtgefühl unschuldige Frauen und Kinder tötete?«
»Das hängt ganz davon ab. Sind Sie ein bußfertiger Mann? Empfinden Sie Reue für Ihre Taten?«
»Reue?« Kimball lehnte sich wieder zurück. »Das Schwerste im Leben eines Menschen ist, sich selbst zu vergeben, Monsignore. Das wissen Sie.«
»Also geht es im Endeffekt darum, Kimball? Sie können sich nicht vergeben?«
Kimball seufzte. »Nein … aber wahrscheinlich muss ich nur lange genug warten, bis ich meine Taten vor mir selbst rechtfertigen kann, wie abscheulich sie auch gewesen sein mögen. Nach einer Weile werde ich lernen, damit zu leben, wenn ich mir einrede, dass ich das Richtige getan habe, dass meine Handlungen vertretbar waren. Mit der Zeit kann man sich beinahe alles einreden.«
»Was Ihnen aber offensichtlich nicht gelingt. Nicht, wenn Sie zu mir kommen und mir erzählen, dass Gott Ihnen weiterhin die Erlösung verwehrt. Sie können nicht auf der einen Seite Ihre Taten rechtfertigen, aber gleichzeitig andauernd Schuld für sie empfinden. Entweder fühlen Sie sich von der Last Ihrer Taten befreit oder nicht. Also verraten Sie mir, was davon trifft auf Sie zu?«
Kimball schloss die Augen und erinnerte sich augenblicklich an jenen Moment, als er im Irak zwei Kinder tötete. Er sah die Bilder klar und deutlich vor sich. Er hatte sie aus reinem Pflichtgefühl heraus getötet. Und damit hatte er sich nicht nur des Mordes, sondern auch des Diebstahls schuldig gemacht. Denn er hatte eine Mutter ihrer zwei Söhne beraubt, den Brüdern die Geschwister gestohlen, einem Vater die Chance genommen, mit seinen Kindern die Abstammungslinie fortzusetzen, und damit künftige Generationen der Getöteten ausgemerzt. Vor seinem geistigen Auge lief alles wie in Zeitlupe ab, wie in einem bösen Traum – die Kugeln, die ihre Körper zerfetzten und die Luft um sie herum für einen kurzen Moment die Farbe von rotem Nebel annehmen ließen.
Es war jener Moment gewesen, an dem er die Erleuchtung erfahren hatte, ihn Gewissensbisse, Schuld und Bedauern ereilten, während er die Jungen im Wüstensand begrub. In jener Nacht lag er auf dem kargen Wüstenboden, starrte zu den unzähligen funkelnden Nadelstichen am Nachthimmel hinauf, suchte nach dem Antlitz Gottes, fand aber nichts als die glitzernden Sterne.
In jenem Moment wusste er, dass Gott sich von ihm abgewendet hatte.
Er schlug die Augen auf. Seit diesen Morden waren mehrere Jahre vergangen. Und doch sah er noch immer ihre Gesichter in seinen Träumen, erlebte diesen letzten Moment immer und immer wieder, als er die Unschuld in den Augen der Kinder für immer verlöschen sah. Der Moment, in denen er ihre Leben ausgelöscht hatte.
»Ich kann mir meine Taten noch nicht vergeben«, antwortete er. »Noch nicht. Nicht nach dem, was ich diesen Jungen angetan habe.«
»Nach so vielen Jahren, Kimball«, entgegnete der Monsignore und drückte hastig seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, »können Sie sich diese eine Tat nicht vergeben, weil es genau so ist wie Sie sagen: Das Schwerste im Leben eines Menschen ist es, sich selbst zu vergeben. Und Sie müssen einen Weg finden, genau das zu tun. Ihr Ringen um Vergebung