Vom Glück zu leben. Titus Müller

Vom Glück zu leben - Titus Müller


Скачать книгу
oder die Butter schmackhaft sind.

      Ich hoffe, dass diese Zeiten vorübergehen. Dass Sie am Wegrand einen Stein aufheben, weil er Ihnen gefällt, und ihn sich neben das Bett legen, damit Sie ihn vor dem Einschlafen noch mal in die Hand nehmen können (Steine sind auch im Dunkeln schön). Dass Sie Ihren alten Rucksack behalten, auch wenn er kein Markenlogo trägt – einfach weil er Sie auf so vielen Reisen treu begleitet hat. Dass Sie kleine Schätze entdecken, ohne ihren Wert nach dem Preisschild zu beurteilen. Oder nach ihrer Seltenheit. Denn: Die Welt ist voll davon!

       Manchmal genügt ein Bahnhofsdach

      Der Bahnhof Berlin-Spandau ist ein Wunder. Zumindest heute Abend. Im gläsernen Dach spiegeln sich die Lichter der Autos: Sie fahren vorbei über mir, fliegen durch den Abendhimmel, eines, und noch eines, wie im Märchen. Ich hätte es nicht bemerkt, hätte mein Zug nicht Verspätung, würde ich nicht hier stehen und in der Kälte warten.

      Natürlich könnte ich mich ärgern, könnte mir Sorgen machen um den Anschluss in Neustrelitz. Jetzt schon fürchten, zu spät zur Lesung zu kommen. Würde es mir nützen? Nein. Und über den Himmel fliegende Autos sind mir lieber als sorgenschwere Gedanken, die mich nicht weiterbringen. Also lächle ich und beobachte das Bahnhofsdach-Wunder.

      Oft ist Ärger eine Frage der Perspektive. Oder eine Frage der Entscheidung. Gestern hatte eine Freundin einen Autounfall, und ich habe sie ins Krankenhaus gefahren, damit ihr schmerzendes Genick geröntgt würde. Trotz des kaputten Autos, trotz der Schmerzen hat sie mit dem Arzt gescherzt, war freundlich. Dann, plötzlich, kam eine Schwester in das Zimmer gestürmt, rief etwas von einem Notfall und riss den Arzt mit hinaus. Es wurde still in der Notaufnahme.

      Wir warteten zehn Minuten, fünfzehn Minuten. Nebenan fing eine alte Frau an zu schimpfen. Warum man nicht auf ihr Rufen reagiere, rief sie. „Noch nie habe ich ein Krankenhaus mit so schlechtem Service erlebt!“ Ich versuchte sie zu beruhigen und erklärte, dass es wohl einen Notfall gebe, sie müsse sich noch ein wenig gedulden. Doch sie ließ sich nicht besänftigen. Es solle gefälligst jemand kommen! Als der Arzt schließlich zurückkehrte und ihr mitteilte, dass man versucht habe, einem Menschen das Leben zu retten, schimpfte sie weiter. Sie konnte ihren Ärger nicht ins Verhältnis zur wirklichen Lage setzen.

      Geht es uns nicht oft genauso? Wir wettern über Kleinigkeiten und nebenan ringt jemand mit dem Tod. Wir beschweren uns über einen missglückten Tag und vergessen, dass es Menschen gibt, die ein missglücktes Jahrzehnt durchleiden.

      Jetzt rollen Sie die Augen. Das klingt Ihnen verdächtig nach dem Spruch Ihrer Eltern, wenn Sie Ihren Teller nicht leer gegessen hatten: „Die Kinder in Afrika hungern!“ Ja, ich habe ihn früher auch gehört. Und ich fand ihn ebenso an den Haaren herbeigezogen. Half es den Kindern in Afrika denn, wenn ich mein Essen aß? Nein. Und macht es irgendeinen Unterschied, ob es jemand anderem schlecht geht – Tausende Kilometer entfernt?

      Es macht einen Unterschied.

      Erstens: Statt am Essen herumzunörgeln, sollte ich ihm helfen. Und zweitens: Abgesehen von meinem eigenen kleinen Leben bin ich ein Teil der Menschheit, und wenn es den Menschen in so vielen Gebieten der Erde schlecht geht, habe ich kein Recht darauf, für mich noch mehr Luxus einzufordern.

      Natürlich will ich niemandem das Recht absprechen, sich zu ärgern. Ich möchte nur daran erinnern, dass wir in einem Zusammenhang leben und nicht allein wie ein Prinz oder eine Prinzessin in einem riesigen Zimmer voller Spielsachen. Sich diesen Zusammenhang zu vergegenwärtigen, kann in schwierigen Zeiten helfen, die zerstörerische Wut einzudämmen.

      In guten Zeiten genügt ein Bahnhofsdach, das Autolichter über den Himmel fliegen lässt.

       Geschlossene Augen

      Bei meinen Lesungen geschieht es mitunter, dass die Zuhörer die Augen schließen. Zu Anfang war mir das sehr unangenehm. Ich dachte: Entweder schlafen sie oder sie wünschen sich weit fort, weil sie sich langweilen. Mir ist der Schweiß ausgebrochen, und ich habe immer schneller gesprochen, damit die Qual für die Zuhörer rasch zu Ende geht.

      Mit der Zeit bemerkte ich, dass nach den Lesungen häufig genau jene „Schläfer“ zu mir kamen und sich bedankten. Sie sagten, sie hätten sich alles so wunderbar vorstellen können. Ich habe begriffen: Wer die Augen schließt, hört besser zu. Er schaltet ein Sinnesorgan aus, um das andere zu stärken. Er gibt seiner Vorstellungskraft Raum.

      Wir sehen den ganzen Tag. Bis zum Zubettgehen sind unsere Augen geöffnet und nehmen Eindrücke auf. Wir erkennen andere Menschen, lesen Werbeanzeigen und Straßenschilder, koordinieren unsere Bewegungen. Es ist fast unmöglich, sich die Welt ohne das Sehen vorzustellen.

      Wie stellt sie sich einem Blinden dar? Sind für ihn Geräusche wichtiger und die Tastempfindungen, die ihm die Fingerspitzen melden? Baut sich seine Welt anders auf, fühlt sie sich anders an als unsere?

      Ich hoffe, dass ich damit keinen blinden Menschen beleidige: Manchmal wandere ich mit geschlossenen Augen die Straße hinunter. (Ich gucke selbstverständlich vorher, ob ein Briefkasten oder ein Laternenpfahl im Weg stehen.) Es ist eine kleine Mutprobe für mich. Wie viele Schritte wage ich? Mein Herz schlägt dabei kräftig gegen die Rippen, und ich muss große Selbstbeherrschung aufwenden, um nicht die Augen aufzureißen. Gleichzeitig werden meine Ohren hellwach. Ich lausche nach Autos, nach anderen Fußgängern, nach dem Knirschen unter meinen Schuhen. Öffne ich dann die Augen wieder, bin ich unendlich dankbar, dass ich sehen kann.

      Manchmal, wenn ich spät in der Nacht nach Hause komme, schalte ich kein Licht an. Ich taste mich durch die dunkle Wohnung, versuche mich daran zu erinnern, wo welches Möbelstück steht. Ich erschrecke über etwas Weiches unter meinen Füßen (habe ich da einen Pullover liegen gelassen?), staune, weil ich die Entfernung zum Stuhl, Tisch oder Bett völlig falsch eingeschätzt habe. Die Hände strecke ich nach vorn, um nirgendwo anzustoßen.

      Warum tue ich das? Ich möchte mein Leben, meine Umgebung und mich selbst neu sehen. Die Wohnung ist so vertraut – um das Vertraute zu durchbrechen, schalte ich den Sehsinn aus. Eine neue Perspektive einzunehmen hilft mir, mich nicht von der Gewohnheit benebeln zu lassen.

      Haben Sie einmal Ihr eigenes Gesicht betastet? Schließen Sie die Augen! Ihre Fingerspitzen haben sehr feine Nerven, die „sehen“ können. Befühlen Sie Ihre Nase, Ihren Mund, die Stirn, die Wangenknochen. Sie „sehen“ sich auf diese Weise mit dem Tastsinn. Wer sind Sie? Wie viel macht das Äußere aus oder wie wenig spiegelt es Ihr Inneres?

      Das Gefühl, außerhalb seiner selbst zu stehen, einen Fremden neu kennenzulernen – es wird noch stärker, wenn Sie die linke Hand nehmen und sie von oben von der Stirn her abwärts wandern lassen. (Tun Sie das nur, wenn Sie allein sind. Es sieht albern aus.) Das ist Ihr Gesicht! Das sind Sie.

      Wenn Sie jetzt wieder ganz normal aus den Augen schauen, wird Ihnen sicher bewusst, welches Glück es ist, Farben wahrnehmen zu können, Entfernungen, Schönheiten. Es gibt Menschen, denen diese Freude entgeht. Die wären entrüstet, wenn sie wüssten, wie selbstverständlich uns die Fähigkeit ist, sehen zu können.

      Wer die Geliebte eine Weile entbehrt, lernt Sehnsucht kennen. Einmal die Augen zu schließen, hat den gleichen Effekt. Hinterher möchten wir Farben und Formen am liebsten umarmen.

      Конец ознакомительного фрагмента.

      Текст предоставлен ООО «ЛитРес».

      Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.

      Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со


Скачать книгу