Vom Glück zu leben. Titus Müller
im Wald zirpen Rotkehlchen, Gelbspötter und Baumpieper.
Wir sind mit neuer Kraft ausgestattet worden, haben durch Träume die Wirrnisse des Vortags verarbeitet und sind bereit für ein weiteres Abenteuer mit Gott. Oder? Wäre da nicht der Morgenstress! Im Kopf gehen wir einen Termin nach dem anderen durch, verzweifeln, weil wir fürchten, nicht alles schaffen zu können. Wir horchen in uns hinein: Lauert da nicht eine Erkältung? Lähmt nicht Mattigkeit die Glieder? Wir sind beschäftigt, abgelenkt, gehetzt.
Wann haben Sie das letzte Mal bemerkt, welche zauberhafte Schönheit der Morgen besitzt? Ich versuche neuerdings, als Erstes – sogar noch vor dem Morgengebet – etwas zu finden, für das ich dankbar bin. Ich schaue aus dem Fenster und freue mich über den Himmel. Ich höre den Vögeln zu. Oder ich überlege, welche Aufgabe, welches Telefongespräch, welches Ereignis mir heute Freude machen wird. Es funktioniert. Der neue Tag wird für mich zum Geschenk. Und wer lächelt nicht, wenn er etwas geschenkt bekommt?
Dem Einerlei entkommen
Wenn wir das Gefühl haben, in einer endlosen Abfolge gleicher Tage festzustecken, dieser stumpfen Kette aus Schlafen, Arbeiten, Essen, Schlafen ausgeliefert zu sein, wenn wir uns kaum noch erinnern, was letzte Woche war, und denken, es ist auch völlig gleichgültig – dann können wir dem auf verschiedene Weise beikommen.
Wir können uns ein Gummiseil an die Fußknöchel knoten und von einer Brücke springen. Endlich ein Tag, den wir nicht so leicht vergessen. Das Adrenalin peitscht uns auf. Wenn wir Glück haben, hält das Gummiseil.
Wir können uns mit Schokolade abfüllen und vor dem Fernseher Kummer schieben. Viel hilft viel: Schokolade, bis wir sie wegräumen, weil der Anblick Brechreiz hervorruft, so etwa nach anderthalb Tafeln; Fernsehen, bis wir im Kopf die Filme durcheinanderbringen und das, was draußen vor der Haustür passiert, nicht mehr von dem unterscheiden können, was uns die Flimmerkiste vorspielt. Man weiß ja nie, vielleicht ist der nächste Film gut? Zumindest haben wir unser eigenes langweiliges Leben vergessen.
Wir können uns im Internet einem halben Dutzend Diskussionsforen anschließen und Lena, Sose und Rapse niederquasseln. Es gibt immer neue Beiträge; schweigt das eine Forum, wechseln wir rasch zum nächsten. Eine Unterhaltung, die nie endet. Seltsam nur, dass diese Auswege uns wieder zum Ausgangspunkt führen.
Ist das Problem womöglich gar nicht, dass wir zu wenig erleben, sondern zu viel? Könnte es sein, dass die intensiven Erlebnisse, nach denen wir uns sehnen, Tag für Tag stattfinden – wir spüren sie bloß nicht, weil wir auf „taub“ gestellt haben, um die Flut von Eindrücken zu verkraften? Das ist ein gesunder Vorgang, unser Gehirn braucht solche Filter. Allerdings lassen sie sich ausschalten, und das will gelernt sein. Haben Sie Lust auf ein Experiment? Es dauert etwa eine Minute.
Wann haben Sie das letzte Mal etwas gerochen? Wann haben Sie zuletzt bewusst einen Geruch wahrgenommen und ihn genossen? Kramen Sie eine Streichholzschachtel hervor, nehmen Sie ein Hölzchen heraus, zünden es an und pusten es aus. Können Sie den weißen Rauch sehen, der sich in weichen Kurven biegt? Riechen Sie ihn. Woran erinnert Sie dieser Duft?
Wenn ich den Rauch von Zündhölzern rieche, denke ich an Weihnachten, an Pfeffernüsse, bunt eingepackte Geschenke und Kerzen im Wohnzimmer. Ich denke an die Pyramidenflügel, die ein Schattenmuster an die Decke malen, während sich Tannen, Rehe und Holzhasen drehen.
Nähere ich mich dem Streichholz, ist es plötzlich der Geruch der selbst gebastelten Fackeln, mit denen wir in die Kanalisation geklettert sind (hoffentlich lesen meine Eltern das nicht). Ein Geruch, der noch Stunden in den Jacken nistete; man brauchte viel Deo, um ihn zu überdecken. Es ist der Geruch von Silvester und der Geruch des schlechten Gewissens beim Zündeln.
Haben Sie noch ein Holz? Machen Sie einmal das Licht aus. Schließen Sie die Vorhänge. Keine Musik soll spielen, kein Bildschirm das Zimmer erhellen, es soll ganz dunkel sein. Nun zünden Sie das Streichholz an. Es ist anders, nicht wahr? Ihre Sinne nehmen mehr wahr als zuvor. Sie spüren die Flamme nahe beim Gesicht: Sie wärmt die Wange. Machen Sie einige Schritte, leuchten Sie ins Zimmer! Wie klein das Licht ist; es wirkt verloren. Blasen Sie es aus. Sehen Sie die Glut am Streichholzkopf glimmen? Riechen Sie noch einmal den weißen Rauch! Ist er nicht klarer geworden?
Das Leben ist nicht langweilig. Gott hat für alles gesorgt. Es lohnt sich, die Augen aufzumachen: für Käfer, die über den Fußweg krabbeln, für Menschen mit einem netten Gesicht, für das Himmelsblau. Schalten Sie ab und zu Ihre Filter aus.
Zeitreise
Ich habe einen alten Nachbarn, der mich häufig mit seinem Humor überrascht. Kaum ein Zusammentreffen, bei dem er nicht einen Scherz macht. Ein glücklicher Mensch. Es ist ein Vergnügen, mit ihm im gleichen Haus zu wohnen.
Vor einigen Wochen traf ich ihn auf der Straße. Er ging mit seiner Frau spazieren und tat so, als würde er mich nicht erkennen. Seine Frau grüßte mich und ich grüßte zurück. Augenblicklich blieb er stehen, hielt sie fest und tadelte sie: „Was grüßt du junge Männer!“ Er sah mir nach: „Wer ist das?“ Grinsend lief ich weiter. Es war einfach köstlich, wie er den Eifersüchtigen spielte.
Seit vergangener Nacht denke ich anders über die Begebenheit. Kurz vor Mitternacht klingelte es. Über die Gegensprechanlage meldete sich niemand. Ich öffnete und lauschte im Treppenhaus auf Schritte. Es blieb dunkel – wer auch immer die Treppe hinaufkam, lief offensichtlich gern so, dass er die Hand vor den Augen nicht sah. Dann erspähte ich meinen Nachbarn. Ich machte Licht. Etwas in seinem Gesicht war anders. Wir blickten uns an wie Fremde, mit reservierter Höflichkeit.
„Entschuldigen Sie“, sagte er, „man hat mir gesagt, dass ich in diesem Haus wohne.“
Ich lächelte. Wie gut er seine Rolle spielte! Aber das humorvolle Funkeln in seinen Augen blieb aus. Als ich nicht antwortete, lief er weiter die Treppe hinauf, obwohl er ein Stockwerk unter mir wohnt. Ich hielt ihn auf.
„Sie wohnen dort unten, ich kann sie hinführen.“ Langsam dämmerte mir, dass er nicht scherzte.
Die Wohnungstür stand offen. Aus dem Wohnzimmer drang Licht. Beim Betreten der Wohnung bedankte er sich höflich und erklärte mir, dass er erst gestern hier eingezogen sei.
„Jetzt erkenne ich Sie“, sagte er, „vielen Dank.“
Was ist ihm entrissen worden durch die Unfähigkeit, sich zu erinnern! Wir scherzen über die Alzheimerkrankheit, wenn uns ein Name entfallen ist oder eine Telefonnummer, und drücken damit eine Angst aus – die Angst, uns eines Tages überhaupt nicht mehr erinnern zu können.
Es ist kostbar, dass wir in der Lage sind, uns Dinge zu merken. Wir können über Jahrzehnte, ja unser ganzes Leben lang Erinnerungen im Kopf behalten. Welches Geschenk!
Sie wissen nichts damit anzufangen, was Sie jetzt im Moment glücklich machen würde? Lassen Sie mich ein paar Dinge vorschlagen.
Vielleicht geht es Ihnen ähnlich wie mir und Sie sind noch nicht sicher, ob Sie sich dieses Jahr leisten können, in den Urlaub zu fahren. Wie wäre es mit einer Urlaubsreise in die Vergangenheit? Waren Sie in den zurückliegenden Jahren irgendwann im Ausland? Kochen Sie sich das Essen, das Sie dort geliebt haben. Laden Sie Freunde oder die Familienangehörigen ein, die Sie begleitet haben, und schauen Sie mit ihnen gemeinsam die Fotos der Reise an. Lachen Sie über die lustigen Erlebnisse, erzählen Sie sich Geschichten!
Es muss keine Urlaubserinnerung sein. Schulerinnerungen tun es auch. Haben Sie noch Kontakt zu alten Klassenkameraden? Verabreden Sie sich! Versuchen Sie, auf die Namen der Lehrer zu kommen, versuchen Sie, sie nachzuahmen in ihren Gesten, ihrer Art zu sprechen. Wissen Sie noch, damals, als Kalle im Schrank einen Wecker versteckt hatte, der zehn Minuten vor der Pause losschrillte und das Signal gab, dass die ganze Klasse aus dem Raum zu stürmen hatte? Erinnern Sie sich daran, wie Frau Elias das Zettelchen abfing, das Sie in die andere Ecke des Klassenzimmers geschickt hatten, und wie sie es laut vorlas? Jeder Ihrer Gefährten wird