Vom Glück zu leben. Titus Müller

Vom Glück zu leben - Titus Müller


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macht, wenn ich menschliche Wärme mit Unbekannten austauschen darf, lässt mich glauben, dass es anders besser wäre.

      Natürlich ist es nicht ohne Gefahr, sich der gesellschaftlichen Norm entgegenzustellen. Fremde vom anderen Geschlecht könnten meinen, Sie wären an ihnen als Partner interessiert; Unbekannte Ihres Alters könnten sich verspottet fühlen. Ich will keinesfalls Verwirrung stiften. Ich glaube allerdings, dass es eine Art von Lächeln gibt, die entwaffnet, entwirrt, Freude macht und vor allem daran erinnert, dass wir alle Geschöpfe des einen Gottes sind. Nicht Rivalen, die um ein paar Euro kämpfen oder um die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen, sondern Gefährten, die sich an ähnlichen Dingen erfreuen.

      Vor einem Bewerbungsgespräch hört man von seinen Freunden oft den Rat, man soll sich den strengen Herrn oder die strenge Dame vorstellen, wie sie gerade die Toilette aufsuchen, damit einem klar wird, dass auch sie nur gewöhnliche Menschen sind. Ich stelle mir lieber etwas anderes vor. Im Seminar für mittelalterliche Geschichte bemerkte ich einen Ring am Finger meines Professors. Er ist verheiratet? dachte ich. Womöglich hat er sogar Kinder? Ich malte mir aus, wie zwei kleine Jungen an seinen Beinen heraufspringen, wie er seiner Frau einen Begrüßungskuss gibt und das Jackett auf einen Stuhl wirft. Was denken sie von ihrem Vater, der so viel über das Mittelalter weiß? Ist seine Frau stolz auf ihn? Vielleicht haben sie geheiratet, als er noch ein einfacher Student war. Und nun ist er Professor.

      Im Zug sehe ich manchmal jemanden weinen. Ich frage mich: Musste sie gerade Abschied nehmen von ihrem Freund? Oder für lange Zeit fortgehen von zu Hause? Wenn ein Kind quengelt, schiebe ich den Ärger beiseite und denke stattdessen darüber nach, wo Mutter und Kind wohl eingestiegen sind, wie lange sie schon fahren, wie sehr sich die Mutter auf die erlösende Ankunft freut. Sie hat vielleicht noch einen Apfel in der Tasche, der das Kind beschäftigen würde, hebt ihn aber für die letzte Stunde auf. Es ist ihr unangenehm, dass ihr Sprössling so laut ist, sie weiß, dass das Geschrei den anderen Reisenden auf die Nerven fällt. Ihre Körpersprache verrät, dass sie sich schämt. Ich lächele ihr zu, um zu sagen: Es ist alles in Ordnung. Sie Arme! Nicht leicht, oder? Und schon sind wir heimlich verbündet. Wie ein Vertreter der anderen Reisenden sage ich ihr durch das Lächeln: Wir halten Sie nicht für eine schlechte Mutter und Ihr Kind nicht für eine verzogene Göre. Ist doch alles verständlich bei einer so langen Zugfahrt. Sie schlagen sich tapfer.

      Probieren Sie das mal aus, nur mit einem Blick und einem Lächeln zu kommunizieren! Wagen Sie sich an einen fremden Menschen heran. Und gehen Sie ruhig davon aus, dass all die Leute in der U-Bahn, die Kollegen im Betrieb und die Wartenden an der Aldi-Kasse ähnliche Probleme haben wie Sie. Jeder Mensch ist anders, aber Menschen sind wir alle. Wesen, denen ein Lächeln heilsame Medizin sein kann.

       Kleine bunte Zettel

      Wofür strampeln wir uns vom Morgen bis zum Abend ab? Es ist lachhaft. Für kleine Zettel, vierzehn mal acht Zentimeter groß, in hässlichen Farben bedruckt. Kleine bunte Zettel, die wir in unserem Portemonnaie sammeln, Papierfetzen, die wir immer wieder nachzählen und der Bank zum Hüten geben.

      Moment, wenden Sie ein, diese Papierfetzen kann man gegen eine Menge eintauschen: ein neues Auto, einen Flug dahin, wo es warm ist, einen Hamburger Royal TS bei McDonald’s. Sie haben recht. Und es ist nichts einzuwenden gegen ein neues Auto, eine Reise oder einen Hamburger Royal TS. Gefährlich wird es, wenn wir uns von diesen bunten Zetteln niederdrücken lassen. Einem gesunden Menschen – und die sind selten geworden – wiegt ein solcher Zettel nur wenige Gramm. Den meisten wiegen sie etliche Kilogramm, nicht wenigen wiegen sie Tonnen. Wird das Portemonnaie gestohlen, vergießen wir mehr Tränen als über einen traurigen Brief. Kostet das Benzin einige Cent mehr, reden wir inbrünstiger und häufiger darüber als ein Frischverliebter von seiner neuen Verehrten. Die bunten Zettel kleben an uns wie Blutsauger. Sie verstopfen uns die Ohren, die Augen und den Mund.

      Sie glauben das nicht? Dann machen Sie sich für ein paar Minuten frei von ihnen. Es wird ein Erlebnis sein, das Sie so schnell nicht wieder vergessen. Verschenken Sie Geld. Nicht einen Euro. Mehr. Ein Schein sollte es sein, wenn Sie mögen, ein größerer. Gehen Sie in die Stadt, irgendwo wird jemand betteln oder so aussehen, als hätte er es nötig, dass man ihm zeigt, dass die Menschheit doch noch nicht so tief gefallen ist, wie es immer den Anschein hat.

      Sie denken, dass es wehtun wird, wenn Sie so viel Geld verschenken? Beobachten Sie sich. Es tut nicht weh. Es gibt Ihnen ein Gefühl der Freiheit. Geld beherrscht Sie nicht. Besitz beherrscht Sie nicht. Sie sind nicht wertvoll, weil Sie viel haben, sondern weil Sie selbst – ob nackt oder im Nadelstreifenanzug, ob in Lumpen oder im Versace-Kleid – ein kostbares Wesen sind.

      Nebenbei bemerkt, der Beschenkte wird sich wundern. Der, den ich ausgewählt habe, bettelte in der U-Bahn. Als ich ihm den Geldschein gab, blieb er stehen und starrte mich an. Fassungslosigkeit im Gesicht. „Das ist ein Wort“, sagte er, wollte weitergehen, blieb dann noch einmal stehen und schaute. Es hat ihn offensichtlich verwirrt. Mir war es peinlich. Dann, als ich ausstieg und durch die Stadt lief, fühlte ich mich frei, als könnte ich fliegen.

      Auch John D. Rockefeller musste lernen, den Wert des Geldes richtig einzuordnen. Jahrzehntelang führte er Buch über seine Ausgaben wie ein Schatzhüter. (Die 118 Dollar, die er für den Verlobungsring seiner zukünftigen Frau ausgab, verbuchte er in der Rubrik „Diverse Ausgaben“.) Ihm, dem damals reichsten Mann der Welt, fiel es schwer, Geschenke zu machen. Er schrieb einmal an einen Mitarbeiter: „Ich stecke in Schwierigkeiten, Mr Gates. Der Druck dieser Anfragen um Geschenke ist zu groß geworden, um ihn ertragen zu können. Ich bin so gebaut, dass ich unfähig bin, Geld wegzugeben, bis ich nicht genauestens festgestellt habe, ob der Zweck es wert ist. Diese Untersuchungen kosten mich inzwischen mehr Zeit und Kraft als Standard Oil selbst.“

      Schließlich, mit 53 Jahren, war Rockefeller so krank, dass die Ärzte bezweifelten, dass er seinen 54. Geburtstag noch erleben würde. Er litt unter Nervenzusammenbrüchen, verlor alles Haar, selbst die Augenbrauen, und konnte weder richtig essen noch schlafen. Da entschied er sich, anders mit seinem Geld umzugehen. Er gründete die Universität von Chicago, baute Kirchen, spendete an zahlreiche Organisationen. Er rief die Rockefeller-Stiftung ins Leben, der wir die Entdeckung des Penizillins verdanken. Bald ging es mit seiner Gesundheit bergauf. Rockefeller wurde 98 Jahre alt. Von seinem Reichtum, der auf dem Höhepunkt 900 Millionen Dollar umfasst hatte, gab er bis 1929 allein an die Rockefeller-Stiftung 235 Millionen Dollar ab. Als er 1937 starb, besaß er nur noch 26.410.837 Dollar. Er hatte seine Lektion gelernt.

      Ist unser Weg nicht kürzer als seiner?

       Kopfrechnen und Schuhe zubinden

      Alles wird teurer! Die Zeit reicht für nichts mehr! Es geht einfach nicht voran! Unzufriedenheit ist zum Dauerzustand geworden. Wir klagen über alles und jedes. Nun kann Meckern ja durchaus Spaß machen. Man lässt so herrlich Dampf ab dabei – für eine Weile. Auf die Dauer macht uns Missmut allerdings blind und undankbar. Schon gemerkt? Denken Sie mal darüber nach: Wann sind Sie das letzte Mal mit einem Lächeln aufgewacht?

      Der hartnäckigste Grund, um unzufrieden zu sein, ist die Enttäuschung über sich selbst. Vielleicht sind Sie durch eine Prüfung gefallen. Oder Sie kommen sich schwach und unbegabt vor, weil Ihnen nicht gelingen will, was Sie sich erträumt haben. Dann probieren Sie es doch mal mit diesem alten Wanderertrick: Wenn ein Bergsteiger müde wird und der Gipfel unbezwingbar erscheint, blickt er zurück. So viel ist schon geschafft! So weit ist er schon gelaufen.

      Manchmal ist es einfach an der Zeit, dass man sich lobt, dass man sich freut über das bereits Erreichte – und neues Vertrauen in die eigenen Kräfte gewinnt. Diesen Blick zurück haben wir verlernt, die Zufriedenheit vergessen, die einen dabei durchströmt. Es ist für einen modernen Menschen befremdlich, sich von seinen Zielen abzuwenden und rückwärts zu schauen. Unsere schwächlichen Rettungsversuche lauten: Das wird schon wieder. Nur nach vorn schauen. Dabei liegt die Lösung oft hinter einem, da nämlich, wo die eigene Kraft eine sichtbare Spur hinterlassen hat und Mut machen kann.

      Versuchen Sie einmal den Blick in Ihre


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