Vom Glück zu leben. Titus Müller
sage ich – kein Bild, ein Film!
Ihnen ist nicht nach Gesellschaft? Dann nehmen Sie sich ein Fotoalbum zur Hand und schauen sich Ihre Kinderfotos an. Blättern Sie nicht gleich um, sehen Sie genauer hin! Können Sie sich an die Tapete erinnern? Sehen Sie altes Spielzeug im Hintergrund? Warum weinen Sie auf diesem Bild? Warum lachen Sie auf jenem? Schauen Sie mal, das müssen noch Milchzähne sein. Und diesen Pullover würden Sie um nichts in der Welt heute noch anziehen (wenn er Ihnen passen würde). Ist es nicht großartig, wie Ihre Mutter Sie hier hält? Sie durften Liebe auftanken damals.
Können Sie sich an das Gefühl erinnern, wie es war, am Morgen aufzuwachen und zu wissen: Das Programm für heute lautet: spielen, spielen, spielen? Ich erinnere mich gut. Es war ein Vergnügen, bei Sonnenaufgang aufzustehen. Kein Herumlungern im Bett, kein gequälter Blick auf den Wecker. Endlich war die Nacht vorüber, es war wieder Tag, das Spielzeug wartete!
Natürlich kann eine Zeitreise nicht mit einem echten Urlaub mithalten. Aber probieren Sie es aus, sie hat eine ähnlich erholsame Wirkung. Das liegt daran, dass es dankbar macht, positive Erinnerungen aufzufrischen. Eines der Geheimrezepte der Bibel für ein glückliches Leben lautet: „Seid dankbar in allen Dingen!“
Mahnungen am Kühlschrank
Sie schreiben sich Listen. Sie kleben Zettel an den Spiegel, haften Mahnungen an den Kühlschrank, schreiben mit Rot in den Kalender. Was zu tun ist, ist in der ganzen Wohnung präsent. Im Flur stehen die Druckerkartuschen, die Sie wegbringen wollen. Auf dem Kalender sind die Geburtstage der Freunde markiert, denen Sie unbedingt schreiben müssen. Die Gläser wollten Sie in den Keller räumen, die Inliner mahnen Sie, doch mehr an die frische Luft zu gehen und sich zu bewegen. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem Sie vierundzwanzig Stunden am Tag von dieser dunklen Kraft gelenkt werden, die wir „schlechtes Gewissen“ nennen.
Im Religionsunterricht haben wir gelernt, dass Gott durch das Gewissen zu uns spricht. Aber über diesen Kanal dringt er längst nicht mehr zu uns durch, denn er ist dauernd besetzt. Mach dies! Mach das! Hast du nicht endlich jenes erledigt? Wenn das Gottes Stimme wäre, dann hätte er sich Marionetten erschaffen. Gott ist sicher nicht derjenige, der uns durch den Tag scheucht wie ein Sklaventreiber.
Das Absurde ist, dass wir unter der Wirkung des schlechten Gewissens bald auch die Dinge, die uns Freude bereiten, wie ein Pflichtprogramm absolvieren. Freundschaften werden zu belastenden Sorgen: Ich habe mich viel zu lange nicht gemeldet, er denkt sicher, er sei mir nicht wichtig. Und der Geburtstag, wenn ich den vergesse! Er hat mir doch letztes Jahr die DVD geschenkt. Da, die Postkarte, wollte ich die nicht längst beantworten?
Selbst in der Freizeit haken wir Pflichtprogramme ab: Schwimmen ist gut für den Rücken. Wollte ich nicht Spanisch lernen? Wozu habe ich die teuren Kassetten gekauft, wenn ich jetzt nicht Vokabeln büffle? Mist, heute war ich überhaupt nicht an der frischen Luft. Esse ich gesund genug? Ich sollte mehr Obst essen. Ich sollte … Ich müsste … Wann fange ich endlich damit an …?
Es gibt eine Frage, die unser Schlechtes-Gewissen-Monster in null Komma nichts besiegt. Sie lautet: Warum mache ich das? Unterschätzen Sie diese Frage nicht. Sie ist ein mächtiges Instrument.
Probieren Sie es aus! Sie erledigen den Ich-sollte-mal-an-der-frischen-Luft-gewesen-sein-Spaziergang, rasche Schritte einmal um den Block, das muss reichen. Die Laune ist unten, richtige Entspannung will sich nicht einstellen. Fragen Sie sich: Warum mache ich das? Warum gehe ich spazieren? Weil der Arzt gesagt hat, ich muss häufiger an die Luft? Gehe ich für den Arzt spazieren? Nein. Atmen Sie tief ein. Merken Sie etwas? Kühle Luft strömt in Ihre Lungen. Sie streicht Ihnen über das Gesicht. Sand knirscht unter den Füßen, der weite Himmel entspannt die Augen. Sie gehen spazieren, weil Sie es gern tun. Weil Sie sich wohlfühlen dabei.
Für hartnäckige Fälle gibt es die Steigerungsform: Warum habe ich das früher gemacht? Sagen wir, Sie schreiben einem Freund eine Karte. Auf die Frage: Warum mache ich das? fällt Ihnen nur ein, dass der Freund Ihnen ja auch geschrieben hat, und dass es sich so gehört, Post zu beantworten; dass Sie die Freundschaft erhalten wollen, dass die blöde Karte schon seit Wochen herumliegt und Sie das endlich erledigen wollen, basta! Überlegen Sie mal: Warum haben Sie früher Karten geschrieben?
Oh, früher! Da war es ein Abenteuer, eine Karte zu schreiben und sich vorzustellen, wie sie die weite Reise macht, wie der Freund sie schließlich aus dem Briefkasten nimmt und liest. Früher hat man neckische Dinge geschrieben, Kleinigkeiten. Man hat ein Strichmännchen an den Rand gemalt, um den anderen zum Schmunzeln zu bringen. Man hat jeden Tag auf seine Antwort gewartet und schließlich die Antwortkarte wie einen Schatz in die Wohnung getragen, um sie in einer Art Zeremonie dreimal zu lesen. Früher waren Postkarten Botschaften aus einer fernen Stadt, die auf abenteuerlichem Weg zu einem gefunden hatten. (Auf E-Mails ähnlich anzuwenden: allein die Vorstellung, wie sie durch die Kabel in die Ferne flitzen …)
Wenn Ihnen das schlechte Gewissen den Tag vermiesen will, halten Sie einmal inne und fragen Sie sich, warum Sie das tun, was Sie gerade tun. Und ob es nicht auch einfach eine Freude sein kann.
Du hast Zeit
Neulich erhielt ich die folgende E-Mail: „Was sich Millionen Menschen auf der ganzen Welt schon immer gewünscht haben, ist jetzt Wahrheit geworden. Es gibt jetzt ein revolutionäres, konkurrenzloses Produkt, mit dem Sie in nur 30 Minuten jünger aussehen. Sie haben richtig gelesen, in 30 Minuten erzielen Sie ein unglaubliches Resultat. Und der wirkliche Beweis ist, Sie können es vollkommen kostenlos testen und die Wahrheit sofort im Spiegel sehen. Doch das Beste ist: Produkt xy muss nur einmal gekauft werden und hält ein Leben lang. Und der Preis ist ein Geschenk!“
Weil ich mich amüsieren wollte über die neue Masche, Leuten Geld abzunehmen, sah ich mir die Website der Firma an. Die Verjüngungsmethode, die sie verkauft, ist verblüffend einfach:
„Egal zu welcher Tageszeit, mit xy können Sie in wenigen Minuten Ihr Aussehen verjüngen. Nehmen Sie sich eine halbe Stunde Zeit, legen Sie die CD ein und entspannen sich auf dem Bett oder Sofa.“
Kein Wunder, dass die Firma mit kostenlosem Ausprobieren werben kann. Ihr Produkt funktioniert wirklich. Nicht wegen der CD, die beruhigende Einflüsterungen abspielt, sondern wegen der Ruhepause, die sich die Käufer sonst nicht gegönnt hätten.
In früheren Jahrhunderten wurde viel über die Faulheit geschrieben. Da gab es in den Märchen den Faulpelz, der es sich auf der Ofenbank bequem macht, anstatt zu arbeiten, oder den Reichen, der sich nicht die Finger schmutzig machen will. Jungen Männern wurde empfohlen, sich eine fleißige Frau zu suchen, und umgekehrt. Müßiggang war aller Laster Anfang.
Heute, denke ich, ist übermäßiger Fleiß bei vielen das Laster. Wir rattern wie kleine Aufziehpuppen durch den Tag, ständig überdreht, hastig, aufmerksam. Leistung ist Arbeit pro Zeit, pflegte mein Physiklehrer zu sagen, wenn wir die Klassenarbeiten abgeben sollten und jemand noch weiterschreiben wollte. Und Leistung wird heute sehr ernst genommen. Arbeite möglichst viel in möglichst kurzer Zeit, heißt die Maxime.
Das Merkwürdige ist, dass wir auch nach Arbeitsschluss nicht zur Ruhe kommen. Wir haben regelrecht ein schlechtes Gewissen, uns hinzusetzen und auszuspannen. Da muss erst für teures Geld eine CD erworben werden, die das Ausruhen zum medizinischen Ereignis macht. Wer setzt sich vor das Aquarium und schaut seinen Fischen zu? Wer legt sich auf eine Wiese und betrachtet die Wolken? Wer kennt noch Dämmerstündchen mit gegenseitigem Geschichtenerzählen?
Ein Wirt sagte mir vergangene Woche zu einem Lebensstil mit Saufen, Frauen und viel Geld: „Die Fackel, die hell brennt, ist schneller runtergebrannt. Aber dafür brennt sie eben heller.“
Wir wollen hell brennen heutzutage. Wir wollen intensiv leben, dem Leben sozusagen das Mark aus den Knochen saugen. Neben die Formel „Leistung ist Arbeit pro Zeit“ stellen wir den Grundsatz „Leben ist Vergnügen pro Zeit“. Das Ziel ist, so viel Spaß wie nur irgend möglich in die kurze Lebenszeit hineinzupressen, die wir vor uns sehen.
Nun