Vom Glück zu leben. Titus Müller
pfiff, aber dem Charme dieses zischenden Ungetüms konnte ich mich trotzdem nicht entziehen. Öffnete man ein Fenster auf der Fahrt, zog Kohlengeruch ins Abteil. In den Kurven konnte man die Lok sehen, wie sie dem Zug voranstampfte. Und man konnte sie hören! Mit ihrem wütenden Schnaufen verriet sie die große Anstrengung, die es kostet, eine Kette von tonnenschweren Bahnwaggons zu ziehen. Und der Fernwehschrei? Nun, das laute Pfeifen, das durch die Landschaft hallte – es verkündete der Weite das Herannahen der Lokomotive wie ein Schlachtruf: Wir kommen!
Sind es nur die Erinnerungen an frühere Bahnfahrten, die mein Herz hüpfen lassen, wenn ich vom „Fernwehschrei einer Lokomotive“ lese? E. A. Rauter erklärte es einmal so: „Faszination und Schönheit von Texten entstehen nicht durch Wörter. Sie entstehen durch Übereinstimmung von Wörtern mit Dingen.“ Weil die Bezeichnung „Fernwehschrei einer Lokomotive“ so genau das trifft, was ich empfinde, verursacht sie bei mir Glücksgefühle. Es ist schön, wenn jemand ausdrücken kann, was ich selber schon immer gefühlt habe.
Manchmal ist die Treffsicherheit der Worte überraschend. Günter Grass hat einmal beschrieben, wie ein Hund frisst: „Mit gebeugtem Nacken steht er da und stößt beim Kauen den Kopf vor, indem er den Bissen gleichsam immer von Neuem fängt und ihn sich im Maule zurechtwirft.“ So fressen Hunde! Jeder hat das schon einmal gesehen.
Wenn wir lesen, vergleicht unser Gehirn die Formulierung mit den gespeicherten Empfindungen, Sinneseindrücken oder Bildern. Leo Tolstoi schrieb: „Der Mensch, der einen wirklich künstlerischen Eindruck empfängt, hat das Gefühl, dass er das, was ihm die Kunst enthüllt, bereits kannte, aber außerstande war, den Ausdruck dafür zu finden.“ Deshalb verursacht Lesen Glücksgefühle. Jemand hat Worte gefunden für unsere Erinnerungen.
Und selber zu schreiben?
Nun mal halblang, sagen Sie. Aber warum? Man hat uns Ehrfurcht vor dem Schreiben beigebracht in der Schule. Weil wir berühmte Autoren bewundern und beknien mussten, wagen wir es nicht mehr, selbst Worte aneinanderzureihen. Wie absurd! Es gibt begabte Sänger – sollten sich deshalb alle anderen Menschen verbieten, an einem sonnigen Morgen ein Lied zu trällern?
Also: Schreiben Sie! Das Glücksgefühl ist nämlich noch stärker, wenn Sie selbst die Formulierung gefunden haben, die Ihren Hund beschreibt, die Lokomotive oder was auch immer Ihnen wichtig ist. Und Niedergeschriebenes überdauert viele Jahre, ohne an Kraft zu verlieren. Schreiben Sie einen Brief, um ihn in zehn Jahren wieder zu lesen (oder dem Empfänger in zehn Jahren zu geben). Schreiben Sie eine Geschichte! Bringen Sie ein Erlebnis zu Papier, das Sie nicht vergessen möchten. Wer sich darauf einlässt, wird merken, dass Schreiben eine faszinierende Sache ist.
Als Kinder haben wir gelernt, Gedanken in Wörter zu verwandeln, und Wörter in Buchstabenketten und Buchstabenketten in Kringel auf dem Papier. Das war nicht umsonst, hoffe ich? Eine spannende Wunderwelt gilt es zu entdecken.
Besser eine Hand voll mit Ruhe
Das Leben ist eine Autofahrt, bei der man uns früh beibringt, das Gaspedal bis zum Bodenblech hinunterzutreten. Nicht jeder Körper gibt das Gleiche her: der eine bringt 190, der andere 140, wieder ein anderer kommt auf 220 Stundenkilometer. Die Langsamen blockieren „den Fluss“. Man ärgert sich über sie, ohne recht zu wissen, warum. Das Ziel sehnt man nicht herbei, und doch rast man darauf zu, alle machen es so.
Wir fürchten jede Rast, tanken nur, wenn es absolut notwendig ist, und dann zum billigsten Preis. Sehnsüchtig blicken wir zurück zur Autobahn. Dort fahren sie, und wir vergeuden unsere Zeit an einer Tankstelle. Schweißtropfen bilden sich auf der Stirn. Der Fuß tippt auf den Boden, die Finger spielen nervös am Zapfhahn. Endlich wieder auf die Straße!
Ab und zu fährt jemand gegen einen Brückenpfeiler. Keiner hält an, um zu trauern, wir bremsen ein wenig ab, weil uns der Schreck in die Glieder gefahren ist, aber nach der nächsten Brücke, die wir vorsichtig passieren, geben wir wieder Gas. Die Geschwindigkeit hilft uns, das Gesehene zu vergessen. Wir wollen nicht daran denken, dass wir am Ende der Fahrt sterben. Schon gar nicht wollen wir die Ewigkeit ertasten, die nach dem Tod kommen wird; es ist eine Freude, die uns fremd ist. Wir müssen rasen, nicht träumen, so hat man uns erzogen.
Wir sehen keine Blüte, kein Blatt, nicht einmal einzelne Bäume und Sträucher. Was wir wahrnehmen, sind bei diesem Tempo nur die Wälder als geografische Formation. Auch eine geografische Formation kann schön sein – bis zur nächsten Schallschutzwand. Dann wieder der Blick auf die Straße.
Fahren Sie auf den nächsten Parkplatz heraus. Strecken Sie sich, lassen Sie sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Setzen Sie sich auf eine Bank und essen Sie etwas, während Ihnen der Wind das Haar zaust.
Zu Hause: Nehmen Sie ein Bad. Belauschen Sie den Schaum, der wie ein Kaminfeuer knistert. Tauchen Sie unter und halten Sie die Luft an. Sie werden Ihr eigenes Blut rauschen hören. Begreifen Sie, wie fein Sie gearbeitet sind? Hören Sie auf Ihr Herz! Es pumpt regelmäßig, verlässlich. Durch das Wasser können Sie es wahrnehmen. So kostbar ist das Leben! Jeden Augenblick könnte das Herz aufhören zu schlagen. Es ist gut, dass Sie leben. Das Rasten gehört dazu.
„Besser eine Hand voll mit Ruhe“, schrieb Salomo, „als beide Fäuste voll mit Mühe und Haschen nach Wind.“
Glasmurmeln
Ich habe vor meinem Haus eine Glasmurmel gefunden. Ein Kind muss sie dort verloren haben. Sie ist schwer und rollt gut von der Rechten in die Linke. Was mag eine solche Murmel wert sein? Ein paar Cent vielleicht. Für mich ist sie ein Schatz. Wenn ich ihre glatte Murmelhaut fühle, ihr grünes, geschwungenes Glasinneres ins Licht halte, dann schlägt mein Herz höher. Wir haben diese Murmeln geliebt als Kinder! Ihr wirklicher Wert war für uns nicht von Bedeutung, sie waren glatt und rund und ein herrliches Spielzeug – das allein zählte.
Genauso die Raubvogelfeder in meinem Bücherregal: Sie hat faktisch keinen Wert. Warum hebe ich sie auf? Sie hat eine weite Reise hinter sich, eine Freundin hat sie mir aus Schottland mitgebracht. Er wird viel gesehen haben, der Vogel, den die Schwungfeder einst in die Lüfte hinaufgetragen hat. Vielleicht lebt er noch und zieht als Raubvogelgroßvater über den schottischen Hügeln seine Kreise?
Wie viel etwas wert ist, wird heute sehr genau bemessen. Das Finanzamt sagt: Ein Computer ist nach drei Jahren wertlos, ein Auto nach acht. „Neu“ heißt wertvoll, „alt“ heißt: zum Wegwerfen. Kommt ein neues Modell auf den Markt, sind die Vorgängermodelle, die eben noch mit Gold aufgewogen wurden, plötzlich uninteressant und werden verschleudert.
„Ganz alt“ bedeutet wiederum, dass etwas kostbar ist – aber nur deshalb, weil sich viele Menschen dafür interessieren. Überhaupt wird alles teurer, wenn es beliebt und gefragt ist. Mitunter wird uns vorgegaukelt, ein Produkt oder ein Film oder ein Lied seien gut, indem man uns sagt: Alle sind scharf darauf.
Da hatte ich mit meiner DDR-Kindheit Glück. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es Trendspielzeug gegeben hätte. Es gab aus Mangel an Alternativen für alle das Gleiche. Neid war mir nicht fremd, selbstverständlich; zum Beispiel war ich neidisch auf das Spiegelrohr einer Freundin, ein Rohr, mit dem man um die Ecke schauen konnte. Das lag aber allein daran, dass ich auch um die Ecke gucken wollte – nicht daran, dass Spiegelrohre neu oder besonders im Trend gewesen wären.
Wir könnten uns, glaube ich, viel Hektik ersparen, wenn wir die Dinge nach dem Wert beurteilen würden, den sie für uns ganz persönlich haben. Egal, ob sie alt sind oder nicht, ob sie nur ein paar Cent kosten oder – weil ein besonderer Markenname draufsteht – einen stattlichen Preis haben. Letzten Endes kann uns niemand vorschreiben, wie viel uns etwas bedeuten darf.
Ich mag Glasmurmeln und Raubvogelfedern, ein altes Kissen, das meine Tante genäht hat, und die Bücher aus meiner Kinderzeit. Ich mag billige Schuhe, mein achtjähriges Auto und Buttergemüse von Aldi. Was kümmert mich der „Wert“ dieser Dinge in den Augen der anderen?
Manchmal erscheint es mir, als seien wir mit all dem Luxus unselbstständiger geworden. Wir brauchen