Vom Glück zu leben. Titus Müller
Ich weiß noch, wie ich als Kind im Bad eine Flasche Shampoo in den Händen gedreht habe. Diese seltsamen Muster! Das war Schrift, ein Geheimnis, von dem ich glaubte, es niemals lösen zu können. Heute sitze ich am Computer und füge die geheimnisvollen Schriftzeichen in rasender Geschwindigkeit aneinander, fast so schnell wie ich spreche. Und es ist zur Selbstverständlichkeit geworden.
Sie dürfen sich wundern über sich selbst. Ihre Augen wandern über diese Seite, und Sie entschlüsseln ihren Sinn. Das haben Sie mühsam gelernt in den ersten Schuljahren. Es ist großartig, dass Sie es beherrschen! Wussten Sie, dass Sie nicht einmal die einzelnen Buchstaben lesen? Dass Sie vielmehr den Anfang und das Ende eines Wortes im Vorbeirasen ertasten und den Rest mit einer äußerst guten Trefferquote erraten? Probieren Sie es mal aus: Selsbt wnen die Bcuhasteban drcehuienndaerergaten, knöenn Sie ncoh eknenren, um wlehces Wrot es scih hnadelt.
Sie haben auch anderes gemeistert: Kopfrechnen, die Bedeutung der Verkehrszeichen zu verstehen, die Schuhe zubinden, Höflichkeit, die Uhr zu lesen. Es ergäbe eine unglaubliche Liste, würde man alles aufzählen, was Sie seit Kindheitstagen gelernt haben. Sie können stolz sein auf das, was Sie bisher geleistet haben. Staunen Sie ruhig darüber. Und haben Sie Selbstvertrauen. Sie werden auch in der Zukunft vieles lernen und bezwingen.
Staunen, sagen Sie, staunen, obwohl das doch jeder kann? Es meldet sich die zynische Stimme, die uns die Leistungsgesellschaft in den Kopf gepflanzt hat. Warum nörgelt sie herum? Weil sie Ihnen weismachen will, dass Sie überlegen zu sein haben. Dass es nicht genügt, in Ordnung zu sein.
Stellen wir uns Europa als ein Dorf vor. Der Bäcker backt die Brote, weil er das besser kann als jeder andere im Ort. Der Schuhmacher näht die Schuhe. Der Busfahrer bringt die Leute zum Bahnhof, und die Lehrerin bringt den Kindern Englisch bei. Jeder wird gebraucht, denn der Bäcker will Schuhe anziehen, der Schuhmacher Brot essen, die Lehrerin zum Bahnhof fahren und der Busfahrer seine Kinder unterrichten lassen. Jeder tut das, was er am besten kann. Das ist das Bild, das man uns eingeprägt hat. Ein zweiter Bauer soll sich gefälligst spezialisieren, eine zweite Lehrerin kann ja Mathe unterrichten. Einen Landstreicher brauchen wir überhaupt nicht. Richtig?
Falsch. Der Busfahrer ist nicht weniger wert, wenn er im Alter erblindet und nicht mehr hinter dem Steuer sitzen darf. Der Landstreicher hilft den anderen, das Teilen zu lernen. Und wenn es zwei Bauern gibt oder sogar zwanzig, dann sind die Bauern immer noch nicht weniger wert als der eine Schuhmacher, auch wenn er weniger Konkurrenten hat. Glauben Sie wirklich, Sie sind nur dann kostbar, wenn die Gesellschaft Sie im Augenblick gut gebrauchen kann? Glauben Sie wirklich, Ihr Wert steigt mit Ihrer Leistung?
Wir sind es gewohnt, unseren Wert dadurch zu bestimmen, dass wir uns mit anderen vergleichen. Am besten man macht etwas, das kaum ein anderer tut, dann steht man besser da. (Ich zum Beispiel schreibe Bücher. Das macht in meiner Nachbarschaft niemand. Ein Blick in die Buchhandlung genügt allerdings, um mir die Flausen wieder aus dem Kopf zu treiben.)
Also gar nicht vergleichen? Wie soll man da Erfolgserlebnisse feiern? Der Vergleich mit anderen, die schon weitergekommen sind, ist ein Fehler, den uns die Leistungsgesellschaft antrainiert hat. Gesund ist der Vergleich mit uns selbst – wo wir vor einem Jahr waren, vor fünf Jahren, vor zehn Jahren. Wer würde da nicht lächeln und mutig weiterwandern?
Und was den Wert angeht: Auch wenn ich die Buchhandlung gesehen habe mit ihrer Masse an guten Büchern, pfeife ich ein fröhliches Lied. Ich glaube nämlich nicht an einen Wert durch Bücherschreiben, sondern an ein faszinierendes Überwesen namens „Gott“, das sich gedacht hat: So einen Titus, den brauchen wir, den soll es geben.
Der Flügelschlag einer Mücke
Hicham Dequiedt überholte einen Lastwagen, als sein Auto plötzlich selbstständig auf 190 Kilometer pro Stunde beschleunigte. Über eine Stunde raste er daraufhin die Autobahn entlang, benutzte die Lichthupe, wich anderen Fahrzeugen aus. Es war unmöglich, langsamer zu fahren. Die Bremse reagierte nicht, die Zündung ließ sich nicht ausschalten, denn Dequiedts Auto, ein Renault Vel Satis, wird anstelle eines Schlüssels mittels einer Chipkarte gestartet. Über das Mobiltelefon alarmierte der 29-Jährige die Polizei. Die gab im Radio eine Warnung für alle Fahrer durch. „Ich habe die Angst meines Lebens ausgestanden“, sagte Dequiedt der Französischen Tageszeitung Le Parisien. „Ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen.“ Erst 200 Kilometer später konnte er den Wagen zum Halten bringen.
Haben Sie manchmal das Gefühl, Ihr Leben besteht darin, mit Tempo 190 über die Autobahn zu brettern und mühevoll den auftauchenden Gefahren auszuweichen? Halten Sie das Steuer umklammert, unfähig, die Augen von der Straße zu nehmen?
Ein guter Test, ob wir zu schnell fahren, ist die Frage, ob wir noch staunen können. Staunen ist nur möglich, wenn man von Zeit zu Zeit innehält. Hicham Dequiedt hat sicher weder die Landschaft Mittelfrankreichs wahrgenommen, durch die er fuhr, noch interessante Bauwerke, verreisende Familien, Rehe, ein Sonnenblinzeln durch die Wolkendecke – dafür fuhr er zu schnell.
Wir müssen gar nicht weit gehen, um etwas Bestaunenswertes zu finden. Selbst in einer öden, wenig bewunderungswürdigen Umgebung kann man staunen. Soll ich ein Beispiel geben?
Ich habe seltsame Knorpel an meinem Kopf, an jeder Seite einen. Sie fangen Geräusche ein, Töne, Worte. Durch einen Tunnel wird der Schall zum Trommelfell geleitet. Es ist unglaublich, was diese Membran alles an die Gehörknöchelchenkette weitergibt! Ich höre den Flügelschlag der Mücke. Wie ein Summen erscheint er mir, weil sie so schnell die Flügelchen bewegt. Im Dunkeln, wenn ich die Mücke nicht sehen kann, höre ich doch, wo sie sich befindet. Das geht nur, weil ich zwei Ohren habe und nicht nur eins.
Ich höre das zarte Streichen eines Pferdehaarbogens auf einer Violinsaite. Ich höre das Zupfen der Basssaite. Ich höre jemanden flüstern. Ich höre Musik – und die Musik macht mich glücklich. Ich höre einen Freund meinen Namen rufen. Ich höre den Wind in den Blättern spielen (mein liebstes Geräusch).
Schnee kann ich hören, am Waldrand, ein feines Klirren, tausendfach: Winzige eisschillernde Schneekristalle rauschen auf Äste, Büsche und Vorjahresgras herunter, treiben übereinander, setzen sich fest. Einige Wochen später, im Frühjahr, kauere ich vor einem Ameisenhaufen und höre das Knistern der vielen Beinchen.
Auf einen Klang warte ich noch. Es gibt Radiomoderatoren, deren Stimme uns beeindruckt; wenn sie reden, laufen uns wohlige Schauer über den Rücken. Aber die Stimme, auf die ich warte, wird viel mehr als das tun. Ich stelle sie mir warm vor, tief und seltsam vertraut. Gottes Stimme.
Vielleicht ist es gar nicht so entscheidend, was Gott mir als Erstes sagt, wenn ich meinen Fuß auf den Boden der neuen Welt setze. Vielleicht ist es einfach der Klang seiner Stimme, der mich weinen machen wird vor Glück.
Gedichte, Mühlen und verlassene Bahnwärterhäuser
Ich bin ein Mensch, der die Zeit sekundenweise zusammenklaubt. Auf dem Heimweg krame ich den Haustürschlüssel schon im Laufen heraus, um nicht vor der Tür damit Zeit zu vergeuden. Ich überquere die Straße schräg, kürze Ecken ab, um einige Meter einzusparen. Mit pochendem Gewissen gehe ich bei Rot über die Ampel – zuvor ein kurzer Blick, ob Kinder in der Nähe sind –, meine Schritte greifen weit, mein Gang ist der eines gehetzten Großstädters, gleichgültig, ob es einen Termin einzuhalten gilt oder nicht. Oft verlasse ich das Haus mit einem Honigbrot in der Hand, das ich unterwegs verspeise. Ich knöpfe den Mantel erst auf der Straße zu, haste voran, um einen Bus nicht zu verpassen.
Dabei müsste ich es besser wissen. So oft schon habe ich gelernt: Wege sind herrlich! Sie gehören zu den schönsten Erfahrungen auf dieser Erde. Vergangene Woche beispielsweise war ich in einer dörflichen Gegend unterwegs, und der Bus, der mich zum Zielort bringen sollte, bog anders ab als erwartet. Ich musste aussteigen und den Rest des Weges über die Felder laufen. Passenderweise trug ich im Rucksack zehn schwere Bücher, obendrein ein neues DSL-Modem, mit dessen Hilfe ich, so hatte ich dem Verlag versprochen, am Nachmittag ein Romanmanuskript schicken würde. Aber