EQUALIZER. Michael Sloan
MARS-Zielfernrohr hat, muss man nicht groß oder stark oder schnell sein. Man muss nur genau sein. Der Attentäter verschwand im verwaschenen blutroten Licht hinter ihm. McCall sah nach unten auf den sterbenden Mann in seinen Armen.
Er war weg. Stattdessen hatte er eine Kinderpuppe im Arm, das strähnige, brünette Haar blutbefleckt, mit gemalten Augen auf einem Keramikgesicht. Das Gesicht war gesplittert und gebrochen und die kleinen Risse wurden immer größer, ließen es noch weiter auseinanderklaffen.
Das Geräusch dabei war kaum erträglich.
McCall wachte eine Sekunde später auf, alle Sinne aufs Äußerste gespannt. Er war schweißüberströmt. Sein Atem kam abgehackt und er beruhigte ihn und blieb still liegen. Er hörte nichts. Was war das für ein Geräusch gewesen? Das Quietschen des Parkettbodens im Wohnzimmer? Ein Ellbogen, der versehentlich ein Dekostück aus einem Regal gestoßen hatte? Eine Hand, die ein paar M&Ms aus der Schüssel nahm? Das Geräusch war nahezu unhörbar gewesen, aber es hatte sich durch die Schichten seines Albtraums nach oben gekämpft wie ein Schwimmer, der verzweifelt die Wasseroberfläche erreichen will.
McCalls linker Arm schmerzte. Er berührte die alte Schussverletzung, die er unter dem Schulterknochen hatte, wo die Kugel eingedrungen war und die Muskeln durchschlagen hatte. Die Narbe war ausgefranst, denn die Wunde war nicht ordentlich vernäht worden. Er blickte durch das Badezimmerfenster. Draußen war es grau und Regen schien aufzuziehen. Die Schusswunde tat normalerweise weh, wenn es feucht war.
Er warf die Decke ab und griff nach dem Nachttisch. Dieselbe Sig Sauer 227 wie in seinem Traum – oder besser gesagt, die im Traum nicht im Holster gewesen war – hatte er an die Unterseite des Nachtkästchens geklipst. Ohne ein Geräusch machte er sie los, die Waffe fiel sanft in seine Handfläche. Er stand auf, bekleidet mit dunklen Boxershorts, und sah durch die offene Schlafzimmertür auf der Suche nach irgendwelchen Schatten. Nichts bewegte sich. Er ging zur Tür, trat ins Wohnzimmer, die Waffe in den ausgestreckten Händen.
Der karge Wohnbereich war verlassen. Sein Blick wanderte über Bücherregale – viele ledergebundene Bücher, ein paar Thriller als Paperbacks. Eine kommentierte Ausgabe von Sherlock Holmes, Band 1, lag aufgeschlagen auf einem der unteren Regalbretter mit einem schweren Lesezeichen, das aussah wie ein schmaler Dolch und auf einer Seite von Der Hund von Baskerville lag. Auf einem der mittleren Regalbretter stand eine Tiffanylampe und einige Ziergegenstände auf verschiedenen anderen, die er auf Flohmärkten überall auf der Welt gekauft hatte. Es gab eine kleine Bar mit ein paar Flaschen und Gläsern darauf. Daneben stand ein Tisch mit einer prächtigen Bronzeskulptur von Mark Newman, einer nackten Meerjungfrau, die aussah, als wäre sie gerade aus dem Ozean gestiegen, und einen Aal an einer Leine hatte, dessen langer Schwanz hinter ihr hergezogen wurde. Ein wenig surreal und sicher nicht nach jedermanns Geschmack, aber McCall mochte die Figur. Es gab eine Ledercouch mit hölzernem Kopfbrett und Lederarmsessel, einen großen Fernseher, den niedrigen Couchtisch mit der Schüssel M&Ms darauf und einem dicken Buch über Venedig, seinem Lieblingsort. Daneben war ein gelber Schreibblock. Am Rand des Couchtisches ein Laptop mit einem Stapel DVDs daneben und ein paar Kopfhörer. Ein Spritzer Farbe von einem Lehnsessel – eine leuchtend orangene Frisbeescheibe darauf. Ein Schachtisch stand in einer Ecke und zwei Stühle mit gerader Lehne neben den Verteidigern des Alamos, die ihren blau uniformierten mexikanischen Gegnern auf der anderen Seite des schwarz-weißen Glasschachbretts gegenüberstanden. Alle waren kunstvoll bemalt.
Keiner der Alamo-Verteidiger oder der mexikanischen Angreifer war von seinem Platz gerückt.
Nichts war bewegt worden.
McCall schlich in die Küche. Verlassen. Nur, um ganz sicherzugehen, öffnete er die Mikrowelle. Der Smith & Wesson 500er war darin.
Von draußen hörte man leisen Verkehrslärm. Eine Sirene zeugte von einer entfernten Tragödie, aber sonst nichts weiter. In der Stille setzte sich McCall an den Küchentisch. Er sah aus dem Küchenfenster. Die schrägen Dächer waren von der Sonne hell erleuchtet.
Er legte die Sig Sauer P227 auf den Tisch.
Er war alleine.
Aber er wusste, dass jemand in seinem Apartment gewesen war.
Der Antiquitätenladen war zwei Blocks vom Luigi’s entfernt, am West Broadway knapp unterhalb der Broome Street. Auf dem Schild über der grünen Tür stand: ANTIQUITÄTEN & SAMMLERSTÜCKE, INHABER: MOSES RABINOVICH. Wenn man in den Laden kam, war es, als würde man eine andere Welt betreten. Es gab große Statuen überall, einige elegante nackte Frauenkörper aus Porzellan, manche grotesk, Wasserspeier und Drachen mit heraushängenden Steinzungen, Lampen mit männlichen und weiblichen Figuren darauf. Kolonialzeitliche Schaukelstühle, die in allen Ecken schaukelten. Es gab ein paar antike Möbelstücke und einen edlen Coffee Table mit Intarsien, die eine Szene darstellten, in der schwarze-graue Ritter gegen rot-schwarze auf einem Schlachtfeld kämpften, das ein grünes Mosaik war. Auf verschiedenen Regalbrettern standen fein bemalte Pferdefiguren, darunter ein indianischer Krieger auf einem Palomino vor einem Indianerdorf aus Porzellan mit sandfarbenen Tipis. Auf einer Messingplakette darüber stand: Hab keine Angst zu weinen. Es wird deinen Geist von traurigen Gedanken reinigen – Hopi. Es gab Vasen auf den Tischen, die aussahen, als wären sie direkt aus dem Grab von Tutanchamun gestohlen worden, und andere, die wirkten, als wären sie der Preis einer Kirmes-Schießbude gewesen. Es gab mindestens hundert Uhren auf Sekretären und Schreibtischen und auf Brettern an der Wand. Alle zeigten eine andere Zeit an und nur wenige davon tickten. Die wertvollste war eine Großvateruhr: Auf dem Zifferblatt jagte die Sonne den Mond im Kreis herum und das Pendel gab ein tiefes, sonores Klick-Klack von sich. Es gab Vitrinen voller Messer und Bajonette aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und verbeulte Orden mit verblassten Bändern daran. Steinschlossgewehre standen in Glasschränken an einer Wand. Es gab zierliche Pillendosen und solche für Schnupftabak in verschiedenen Farben auf einer Reihe kleiner Regalbretter. Der Laden roch nach Moschus, nach Feuchtigkeit und Sägespänen, auch wenn auf dem Parkettboden keine waren.
McCall mochte das Aroma. Es erinnerte ihn an einen Basar, den er einst in Tangier besucht hatte. Alles, was noch fehlte, war der Geruch von Obst. Natürlich hatte ihn auf diesem Basar jemand versucht umzubringen, was der Erinnerung etwas das anheimelnde Gefühl nahm. Er ging zu einer der Vitrinen, in der zwanzig Pistolen lagen, die meisten Remingtons, ein paar Colts, alle aus dem 18. Jahrhundert. Es gab einen Colt-Revolver, der ihn besonders interessierte. Ein Modell P Peacemaker, Single Action, Standardwaffe der Kavallerie, mit einem 7,5-Zoll-Lauf, auch bekannt als Frontier Six-Shooter. Er hatte eine drehbare Trommel mit sechs Kugeln. Es war das Modell von 1873, aber er war 1877 angepasst worden, um Patronen des Kalibers 44-40 Winchester verschießen zu können, damit er die gleiche Munition wie das Winchester-Gewehr Modell 73 verwenden konnte. Säuregeätzt auf der linken Seite des Laufes stand: Colt Frontier Six-Shooter. Moses hatte ihm versichert, dass er quasi unbenutzt war. Er kostete etwas über 2.000 Dollar, ein wenig oberhalb von McCalls Preislimit für dekorative Stücke. Aber er sah sich gelegentlich die Waffe in der Glasvitrine an.
Der alte Moses schlurfte neben ihn. Er bewegte sich offenbar unter Schmerzen. Er hatte ein paar verblichene Baseballtrophäen auf dem vollgestopften Schreibtisch im hinteren Bereich des Ladens, aber man konnte ihn sich kaum als jungen Mann vorstellen, der im Outfield den Bällen hinterherhechtete und über den Boden auf eine Base zuschlitterte. Es war Arthritis, hatte er McCall gesagt, die sich langsam über den Ischias in beide Beine ausbreitete. Aber er beschwerte sich nie deswegen. Seine Finger waren von der Krankheit verschont geblieben, ein Segen angesichts der fingerfertigen Arbeiten, die er damit ausführte. Der alte Moses war weit mehr als ein Antiquitätenhändler. Die vom Großvater geerbte Uhr war stehen geblieben? Er konnte sie reparieren. Die Kuckucksuhr musste mal überholt werden? Sie würde wieder fröhlich ihr Kuckuck von sich geben, wenn Moses damit fertig war. Die Armbanduhr war stehen geblieben, es lag nicht an der Batterie und man wollte sie nicht zum Juwelier Goldberg an der Ecke bringen, denn sie dort reparieren zu lassen, würde genauso viel kosten wie eine neue Uhr? Moses konnte sie für fünf Dollar wieder herrichten. Er sah immer gleich aus, denn McCall hatte ihn noch nie in anderer Kleidung gesehen. Er trug dunkle Jeans, Slipper ohne Socken und ein weißes Hemd mit einer braunen Strickjacke darüber, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte. Es war schwer zu