EQUALIZER. Michael Sloan
ihn dir an, McCall, aber du bittest mich nie, ihn herauszunehmen und dir zu zeigen.«
»Wenn der richtige Moment gekommen ist«, sagte McCall.
»Du hast in deiner Karriere viele Waffen in der Hand gehabt.«
Da hatte er recht, auch wenn McCall mit dem alten Mann nie über seinen früheren Job gesprochen hatte.
»Das ist eine Schönheit, die man besitzt und bewundert, aber nie abfeuert«, sagte Moses. »Auch wenn ich dir eine Schachtel Munition dafür verkaufen kann.« Er gab noch nicht auf. »Soll ich sie mal aus der Vitrine nehmen? Willst du mal das Gewicht in der Hand spüren?«
»Nicht heute, Moses.«
Eine Glocke erklang aus dem Inneren des Ladens. McCall wusste, das war der Hintereingang des Ladens. Dieser war normalerweise nicht für Kunden zugänglich.
»Entschuldige mich.« Moses schlurfte nach hinten in die schattigen Tiefen des Ladens. Die meisten Birnen der verschiedenen Lampen dort waren aus, abgesehen von einer modernen Emaillelampe auf Moses’ Schreibtisch. Es war ein Alkoven hinter dem Schreibtisch, der zur Hintertür und zu einem Lagerraum führte. Moses war verschwunden.
McCall ging zu einem der Regalbretter mit verschiedenen Uhren aus aller Welt. Er war immer noch entspannt, aber seine Aufmerksamkeit war geweckt. Es war nichts in Moses’ Worten »Entschuldige mich« zu hören gewesen, das angedeutet hätte, dass etwas nicht stimmte. Keine Spur von Sorge oder Anspannung. Aber es war eine leichte Veränderung im Blick des alten Mannes. Eine Müdigkeit, die, wenn auch nur kurz, zu sehen gewesen war. Er war ein alter jüdischer Mann, der umgeben von der Vergangenheit anderer Menschen lebte. Die Juden hatten in den letzten paar tausend Jahren viel zu leiden gehabt und er wusste, dass sich daran nichts ändern würde. Das war eben der Lauf der Dinge.
McCall hörte leise Stimmen aus Alkoven, aber er konnte von dem Brett mit den Uhren aus nichts sehen. Er trat an einen altmodischen Sekretär mit Rollladen, die Art, an der der Weihnachtsmann gewöhnlich die Weihnachtskarten schreibt. McCall sah auf das Preisschild. Der Weihnachtsmann würde seine Geschenke wohl verkaufen müssen, um ihn sich leisten zu können.
Von seiner Position aus sah McCall in einen großen, verzierten Spiegel mit einem vergoldeten Rand, auf dem Harfe spielende Engel thronten. Im Spiegelbild bemerkte er, wie Moses mit zwei jungen Männern redete. Sie waren in der Nacht zuvor im Luigi’s gewesen, in der Sitznische, hatten Pinot Grigio getrunken, mit ihren Kumpels gelacht und einen lustigen Abend verbracht. Sie trugen teure Anzüge, rote Krawatten und schwarze, auf Hochglanz polierte Schuhe. Einer von ihnen hatte eine verzierte goldene Uhrkette. Ihre Stimmen waren nie mehr als ein leises Flüstern, auch wenn Moses sich ein wenig aufzuregen schien.
McCall trat einen Schritt nach links. Jetzt erblickte er im Spiegel den Mann, der im italienischen Restaurant am Abend zuvor seine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Er war mittlerer Größe, schlank, mit der Körperspannung eines Athleten. Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug mit einer rot-goldenen Krawatte und einem roten Einstecktuch in der Brusttasche. Durch den Alkoven spähte er in den Hauptraum des Antiquitätengeschäfts.
Sein Blick blieb an McCall hängen.
McCall drehte sich nicht um, zeigte nicht, dass er Interesse hatte oder ihn überhaupt bemerkte. Er ging zu einem der Schaukelstühle aus der Kolonialzeit und schubste ihn leicht an. Dann sah er von der Seite in den Spiegel. Der Mann hatte offenbar das Interesse an ihm verloren. Der alte Moses schlurfte zu seinem Schreibtisch, öffnete die oberste Schublade, nahm einen weißen Umschlag heraus und gab ihn einem der jungen Männer. Sie sahen für McCall wie Russen aus, aber vielleicht nicht ganz – möglicherweise Tschetschenen. Unberechenbarer, tödlicher. Der junge Tschetschene steckte den Umschlag in die Innentasche seines Mantels und schüttelte Moses respektvoll die Hand. Dann verließen er und sein junger Partner den Laden durch die Hintertür. Als sie sie öffneten, klingelte erneut leise die Glocke. Der ältere Mann zögerte einen Moment, warf noch einen Blick in den Antiquitätenladen, nickte dann Moses zu und ging hinaus, wobei er die Tür hinter sich schloss.
Als Moses zurückkam, saß McCall im Schaukelstuhl und wippte leicht vor und zurück.
»Du zahlst ihnen Schutzgeld«, sagte er.
»Natürlich. Sie beschützen mich vor bösen Menschen. Das sind selbst Verbrecher. Aber keine jungen Rabauken von der Straße werden versuchen, mich auszurauben. Kein Obdachloser, egal ob Mann oder Frau, wird in meinem Ladeneingang schlafen. Nicht, dass es mir was ausmachte. Ich gehe abends nach Hause und am Morgen wieder in den Laden, ohne Angst haben zu müssen, überfallen zu werden.« Er zuckte die Achseln. »Das ist der Preis, den man bezahlt, wenn man in dieser Nachbarschaft Geschäfte machen will.«
»Du bist nicht der einzige Ladenbesitzer, den sie besuchen?«
»Oh, nein. Die sind sehr gründlich.«
»Erpressen sie auch von Luigi Geld?«
»Nein, sie mögen Luigi. Sie lassen ihn in Ruhe. Aber die anderen Restaurants, die bezahlen, damit sie nachts ruhig schlafen können.«
»Wie viel bezahlst du denen?«
»Nicht so viel, dass ich deswegen bankrottgehe. Ich brauche den Schutz.«
»Den könnte ich dir auch bieten.«
»Wieso solltest du das? Ich bin ein alter Mann, mit dem du ein Schwätzchen hältst, bei dem du dich vielleicht fragst, wer er ist, woher er kommt, wie sein Leben verlaufen ist? Aber du fragst nicht. Denn es ist im Grunde unwichtig. Du musst dich um deine eigenen Geschäfte kümmern, welche auch immer das sind. Und ich mich um meine.«
»Hast du die Polizei verständigt?«
Moses zuckte mit den Achseln. »Wenn ich die Polizei anrufe, gehen die vielleicht zu diesen Kerlen und sagen etwas zu ihnen. Möglicherweise lassen die Männer mich dann in Ruhe. Dann zahle ich an die Polizei.«
»Die meisten Polizisten nehmen keine Schmiergelder.«
»Es ist egal, wer mich beschützt. Ich bezahle die eine Gruppe oder die andere. Es verschafft mir Seelenfrieden. So ist das eben.«
»So sollte es nicht sein.«
Moses lächelte. »Ich sollte meine letzten Tage nicht in einem muffigen Antiquitätenladen verbringen und den Leuten dabei zusehen, wie sie alles angucken und anfassen, aber nichts kaufen. Ich sollte nach Hause rennen können und wieder zum Laden zurück. Ich hab mal einen Schnitt von .368 geschlagen in der Apalachian League, bei den Greeneville Astros in Tennessee. Ausgerechnet Tennessee! Glaubt man das? In der Saison hab ich 17 Triples geschlagen. Nicht mal Micky Mantle hat jemals in einer Saison 17 Triples geschlagen! Jetzt mache ich am Abend und am Morgen einen Spaziergang um den Block, nur damit ich nicht im Rollstuhl ende. Ich gebe meiner Frau einen Kuss, wenn ich heimkomme, und sie kocht das leckerste Kasha für mich. Weißt du, was Kasha ist?«
»Buchweizengrieß, der in Wasser gekocht wird, wie Reis, dann mit Öl gemischt, gerösteten Zwiebeln und Pilzen. Kasha varnishtas ist auch lecker.«
»Ja, meine Frau macht die Farfalle mit einem Hauch Ingwer. Luigi würde vor Neid erblassen. Mach dir keine Sorgen um mich, McCall. Das Leben meint es gut mit mir.«
»Es könnte besser sein.«
Er zuckte die Achseln. »Das kann es immer.« Der alte Mann legte sanft die Hand auf McCalls Arm. »Mach dir keine Sorgen.«
Leichter gesagt als getan, dachte McCall.
Er warf einen Blick auf die Uhr.
»Ich muss zur Arbeit.«
Er ging zur Vordertür, öffnete sie und drehte sich dann noch einmal um.
»Wenn ich diese Männer finden wollte, wo sollte ich da hingehen?«
Moses zuckte die Achseln. »Ich verlasse den Laden nicht. Woher sollte ich das wissen?«
»Du weißt es.«
Der alte Mann zuckte erneut die Achseln.
»Immer schön, dich zu sehen, McCall.«
McCall