Das Buch der Liebe. Marie Eugenie delle Grazie
Kranz aus den Händen der Mutter und legte ihn an die Seite der Vase. So daß Frau Krüger noch hilfloser dastand, mit den wie erschrocken zusammengekniffenen Lippen und den mageren, blassen Händen, die nun nichts mehr hatten, um es Annemarie entgegenzuhalten.
»Wie es mir ums Herz war nach ... nach einem Jahr, willst du wissen –? Ja ...« – sie machte einen krampfhaften Versuch zu lächeln – »... wenn ich das nur selbst noch wüßte, Annemarie.«
»Jetzt lügst du, Mutter.« Leise, wie tastend kam das zurück. Und doch mit einer Bestimmtheit, die eine neue Blutwelle in das Antlitz der müden Frau jagte.
»Aber, Annemarie!« Ihre Stimme überschlug sich. Die welken Arme fuhren wie hilfesuchend in die Luft. Doch Annemaries Antlitz wurde noch härter, die Neugierde ihres Blickes immer grausamer.
»Doch, Mama,« und die jungen Lippen lächelten ein Lächeln, das selbst Frau Krüger noch nicht kannte. »Gerade, weil du dich so wehrst.«
»Weil ich mich so wehre ... so!«
»Das hab' ich dir schon als Kind abgeguckt.«
»Du?«
»Natürlich. Diese Lautheit, sooft du uns anlügen mußtest. Um des leidigen Friedens willen. Aber –«, und Annemarie stampfte auf, »ich will nicht auch so werden wie – wie du, Mutter, hörst du? Will nicht alles bloß so hinnehmen, nein ... wenn es auch zwischen uns einmal – so werden sollte. Und darum hab' ich dich gefragt.«
»Erlaub' mir – Ich hab' in fünf Jahren vier Kindern das Leben geschenkt. Das kam so nacheinander. Wie soll ich mich da noch entsinnen, welche Gedanken ich hatte, als ich meinen Kranz ein Jahr nach der Hochzeit wieder zur Hand nahm?«
»Nach einem Jahr, Mama?«
»Da ging ich gerade mit Fritzchen!«
»Das mußte dich ja doppelt selig machen.«
Frau Krügers Augen leuchteten plötzlich auf. In einem Glanz, wie Annemarie ihn noch nie darin gesehen. Mit einer Wärme, die wie eine einzige Welle der Zärtlichkeit auch über sie hinströmte und ihrer pietätlosen Neugierde einen fast fühlbaren Ruck gab. Die Mutter!
»Und ob mich das selig gemacht hat.«
»Nun – also?«
»Aber siehst du ... Wenn es einmal so weit ist, dann denkt man nicht mehr an den Kranz und an – an solche Dinge. Ernst und feierlich wie das Leben dann wird.«
Also kein Platz mehr für die Leidenschaft, für den Jubel. Für diese selige Einsamkeit zu zweien – Annemarie sprach es nicht aus, aber der Blick, mit dem sie ihre Mutter streifte, war so seltsam ernst, daß die arme Frau plötzlich mit beiden Händen zugleich nach ihr griff.
»Annemarie, du – du bist doch glücklich?«
»Doch, Mama, doch ... Noch bin ich es!« Und dann lächelte Annemarie, und Frau Krüger fühlte, daß sie zum ersten Male log. Genau so, wie sie selbst gelogen hatte, durch all die langen, langen Jahre. Mit diesem verschwiegenen Lächeln, das zuletzt eine Gewohnheit wurde und nicht hübscher aussah als all die vielen seinen Fältchen, die das Leben in ihr Antlitz gegraben.
Draußen rollte der erste Donner in die Nacht hinein. Und der warme Gewitterwind, der mit flatterndem Gelock vorüberfuhr, griff mit rauher Hand zum offenen Fenster herein und warf die schlanke Vase mit den Rosen zur Seite. Gerade ihren Kranz konnte Annemarie noch retten. Aber das seidene Kissen war schon durch und durch naß.
›Nach einem Jahr?‹ dachte sie.
Da klatschte draußen der Regen nieder.
*
Als Annemarie an diesem Abend ihr Zimmer trat, blieb sie eine ganze Weile stehen und sah mit großen Augen um sich. Seit ihrem vierzehnten Jahre hatte sie diese Stube allein bewohnt. Nun war sie neunzehn. Fünf Jahre, die wie ein Traum dahingeschwunden waren, zwei Lebensalter, die ihrer scheidenden Kindheit hier die Hand gereicht. Die sinnenbange Nacht der Reife, die wie ein Frühlingsgewitter über sie hingegangen, mit ihren Schauern und Schrecken. Und jener unvergessene Spätherbsttag, der in der Jungfrau das liebende Weib geweckt. Bis dahin war alles Sehnsucht und Traum gewesen, eine große einzige Erwartung. Nun stand sie auf der Schwelle, die mit jedem Schritt weiter und tiefer in die Lande der Erfüllung hineinführte. Und morgen war diese Stube leer.
Wie ihr Blick aber noch einmal den lieben Raum umfing, kam es ganz seltsam wieder an sie heran. Weiche, innige, versonnene Erinnerungen ... Als tasteten schmeichelnde Kinderhände an ihr empor – leise, scheu, bis sie wieder an das Herz fanden, das hier einmal seinen Knospenfrieden gehabt und nun so ungestüm pochte, daß es den kleinen Heimgeisterchen wohl bange werden konnte.
»Du gehst wirklich? Und so leicht? Sieh doch noch einmal, wie schön es hier war! Ein letztes Mal.«
Und Annemarie begann um sich zu schauen und mit leisen, fast andächtigen Schritten den kleinen Raum zu durchqueren. Wie man nach langen, langen Jahren wohl wieder eine Kirche betritt und in scheuer Beklommenheit vor den blumengeschmückten Altären stehen bleibt, an denen man einmal voll Demut und Einfalt gebetet.
Da waren die Bilder ...
Die Seggiola, mit ihrer innigen Muttergebärde. Der Schutzengel, der die weißen Fittiche so fürsorglich über ihr weißes Lager gebreitet. Das goldflimmernde Kommunionbildchen mit dem Kelch und der Hostie. Auch damals war sie wie eine kleine Braut vor dem Altar gestanden: gang weiß mit gelösten Locken. In bebender Hand die hoch und klar brennende Kerze, die sie dem Heiland entgegentrug wie ihre in Liebe und Andacht erschauernde Seele.
Sie wandte das Haupt, jäh, unwillkürlich. Da, dicht an ihrem Lager, stand ein altersbrauner Betschemel. Pult und Aufsatz waren mit dunkelrotem Tuch bespannt. An dem mit allerlei Schnitzwerk verzierten Kruzifix hing ein elfenbeinerner Christus. Es war die Arbeit eines Künstlers, die mit dem Betschemel zugleich aus dem Nachlaß eines verstorbenen Bruders an Annemaries Mutter gekommen war. Der Verstorbene aber hatte ihn von einem Oheim geerbt, der in späten Jahren Priester geworden. Nach einem Leben voll schwerer Enttäuschungen, das er zuletzt ganz in den Schutz des Kreuzes geflüchtet ...
Allerlei Erinnerungen und Familienlegenden spannen sich um das alte Möbelstück und das blasse Kruzifix. Und obwohl Annemaries Vater in religiösen Dingen völlig gleichgültig gewesen, hatte er doch nicht gewagt, das fast unwillkommene Erbe zu verkaufen oder sonstwie von sich zu tun. So war's zuerst in das Kinderzimmer gewandert und später in Annemaries weißes Nestchen. Und da, ja – da hätte sich allmählich fast wieder ein feines Legendchen um den blassen Christusleib zu spinnen begonnen.
Wie in einem Traume schüttelt die junge Braut das Haupt. Wie es wohl kam, daß sie das, gerade das immer bei sich behalten? Es nie weiter geschwatzt im munteren Kreise ihrer Gefährtinnen, die doch auch damals fromm waren, wie sie? – –
Das Gewitter hatte eine blitzende Sternennacht zurückgelassen. Blau und klar stand der volle Mond in dem offenen Fenster der Stube. Aus fernen Straßen klang ein altes Lied herüber. Irgendwo kläffte ein Hund. Noch immer war Leben da draußen und die nur schwer zur Ruhe kommende Regsamkeit der Stadt. Hier aber schien es der jungen Braut mit einem Male so feierlich und seltsam still, daß sie es nicht wagte, die Hand nach dem Taster zu strecken und das Licht aufzukippen, das ihre Stube immer in einen einzigen rosigen Schein tauchte. Sondern mit gefalteten Händen stehen blieb und halb versonnen, halb bang nach dem bleichen Christusbilde sah, als müsse ihr gerade heute davon ein Zeichen kommen.
Denn ja – das hatte sie erlebt mit dem Bilde,