Das Buch der Liebe. Marie Eugenie delle Grazie
glaubt sie es zu hören ... wie in jener Nacht, da es zum ersten Male laut geworden: jenes leise, unsäglich geheimnisvolle und doch gleichsam weckende Knistern, das von dem Kreuze ausging! Als erwache der tote Schmerzensmann dort oben und strecke noch einmal so qualvoll die gepeinigten Glieder aus, oder ziehe sie an sich im letzten Schauer seines mystischen Liebestodes ...
Annemarie hatte immer einen tiefen Schlaf gehabt, und doch war sie damals sofort erwacht und hatte in einem gewußt, daß der seltsame Laut von dem alten Betschemel herübergekommen war. Auch damals war der Mond voll und blau im Fenster gestanden wie heute, und draußen hatte der Frühling geblüht.
Müd und schlummertrunken war sie bald wieder in die Kissen zurückgefallen. Da war dieses Geknister noch einmal laut geworden. Aber sie hatte sich damals noch nichts dabei gedacht.
Dann fing es an, sich auch unter Tags zu melden. Immer aber nur, wenn sie allein in der Stube war ...
»Du Armer!« hatte sie da einmal ausgerufen. Und war ans Kreuz gestürzt und hatte die weitklaffenden Wunden an Händen und Füßen geküßt, von einer Zärtlichkeit überwallt, die ihrer anerzogenen Beherrschung sonst völlig ferne lag.
Bis zu jener Stunde hatte sie noch immer geglaubt, daß es bloß das Holz sei, das »sich rühre«. Obwohl es schon, wie sie wußte, ein uraltes Möbelstück war. Unter ihren Küssen aber hatte das Kruzifix dann noch einmal jenen seltsamen Laut von sich gegeben. Daß es ihrem frommen Kinderherzen wie eine Offenbarung schien und wie ein geheimnisvolles Versprechen:
»Willst du bei mir sein, will ich bei dir sein!«
Und mit Tränen in den Augen hatte sie ihrem Erlöser gelobt, immer die Seine zu bleiben ...
Ihr Vater freilich durfte nichts ahnen davon. Die Straße, die er rüstig und gottunbekümmert einherschritt, lief weit jenseits des stillen Weges, den Annemaries Mutter mit ihren heimlichen Tränen netzte, an beiden Händen die Kleinen führend, die mehr beklommen als ahnungsvoll zwischen den häuslichen Gewittern dahinlebten. Annemarie war die einzige von den Vieren gewesen, die klug und frühreif den inneren Bruch dieser Ehe erwittert hatte. Des Vaters Sucht, sich brutal auszuleben, der Mutter Ohnmacht, ihm wenigstens Etwas zu sein. So hatte sie auch der Mutter gegenüber geschwiegen. Ob es auch zuweilen geschah, daß die tiefgekränkte Frau, händeringend und tränenüberströmt, vor demselben Gottesbild auf den Knien lag. Ihr aber blieb es stumm ...
Dann war der Vater gestorben. Aber wenn er die Seinen auch sorgenlos hinterlassen hatte – in der großen Stille, die hinter dem Tod durch die Stuben zu schreiten begann, schien Annemaries Kreuz noch beredter zu werden. Wenn sie noch unter den Schauern des kaum Erlebten schlaflos dalag, kam leise, ganz leise jener Ton an ihr Lager geschlichen. Wie eine Stimme, die weich und tröstend zu dem Geheimsten sprach, was ihre Seele in sich barg. Gleichsam erinnernd, daß nicht bloß der Tod und die Angst die Herrscher dieses Lebens wären, daß auch die Hoffnung und die Liebe ihr Teil daran hätten und eine Güte, so weltengroß und himmelsweit, daß kein Menschenherz sie ausdenken könne. Und da geschah es, daß Annemarie sich immer öfter von ihrem Lager erhob. Inmitten der Nacht, dem lieben Rufe folgend, der sie zu den Füßen des Heilands führte – und wundersam getröstet wieder entließ. Bis sie Schlaf fand und Träume, die wie aus anderen Gefilden in ihr Leben herüberwinkten.
Einer dieser Träume aber kam immer wieder. So seltsam und zauberschön, daß Annemarie ihn bis heute nicht vergessen hatte.
Ein blühendes Stück Land mit frühlingsgrünen Auen und Blumen, die mit weit geöffneten Kelchen dicht aneinanderlagen, weiß und purpurn und von einem balsamkühlen Hauch umweht, dem kein irdischer Duft sich vergleichen ließ. Mitten unter den Blumen aber stand der Herr in einem leuchtendem Gewande, nickte ihr zu und sprach: »Mein Garten ist groß. Engel betreten ihn. Sein Name ist Eden.« Wort für Wort hatte Annemarie behalten, bis heute. Keines davon vergessen, keines hinzugetan. So lang dies alles auch schon her war ...
Wie es kam, daß sie das gerade heute wieder sah? Gerade jetzt daran denken mußte?
Sie war seit ihrer Verlobung so oft hier aus und ein gegangen. Hatte kaum einen Blick mehr gefunden für den alten Betschemel und das bleiche Kruzifix. Hätte noch gestern gelächelt, wenn ihr ein anderer von der süßen Torheit ihrer noch ungeweckten Sinne gesprochen.
Der Geliebte hatte sie ja nicht bloß zum Weibe wachgeküßt. Mit der kühlen und selbstsicheren Art des Gelehrten hatte er ihr langsam auch den Schleier von diesen Dingen genommen. Durch seinen überlegenen Blick, sein bloßes Lächeln, in dem sich die ganze Sattheit beruhigten Wissens barg.
Er war noch jung und doch schon ein berühmter Mann. Wem sollte sie glauben, wenn nicht ihm, dem Tausende und Tausende das Vertrauen ihrer Seele liehen?
Und in einem einzigen Sommer war dies alles geschehen! Daß die Liebe, die sinnenwarme, heiße, sie für immer an die Erde gebunden hatte und der Glaube ihrer Kindheit von ihr gewichen war, wie der balsamkühle Blumenatem jenes Traumes ...
Sie war zum Leben erwacht, zum Leben berufen worden. Groß und heiß und hell stand es über ihr, wie ein ewiger Sommertag. –
*
Annemarie liebte es, bei offenem Fenster zu schlafen. Sie hatte keine Nachbarschaft. Wenn sie das Licht aufkippte, konnte sie sich sorglos entkleiden und die nackten Arme und Schultern in der weichen Blütenkühle der Nacht baden, während sie langsam die lichtbraunen Flechten löste.
Wie achtlos, wie gleichgültig sie das früher immer getan hatte! Mit den Gedanken Gott weiß wo, nur nicht gerade dabei. In jener sicheren Geborgenheit jungfräulicher Scham, die nur das fremde Auge fürchtet.
Das war so ganz anders geworden, seit sie liebte. Und mit den ersten heißen Küssen war es gekommen. Daß sie die Schönheit des eigenen Leibes entdeckte und wie mit fremden Blicken besah. Mit den Blicken des Geliebten.
Schon war sie sich aller Reize bewußt, die ihn betört hatten, ihn festhielten – ihn berauschten oder träumen machten. Ganz von selbst war das so langsam gekommen – über die Blicke, mit denen er sie nahm, unter dem erregten Gestreichel seiner Hände, mit dem trunkenen Lächeln, das ihr nachging. Bis sie wußte: meine langen, goldbraunen Haare sind es ... und die Beuge meines Nackens und die Linie, wenn ich mich erhebe und dann langsam strecke – sooo! Meine Arme aber kann er nicht sehen, ohne die Zähne in die Lippe zu graben. Ganz verstört sieht er dann aus, fast blöde.
Aber alles war noch ihr Eigen. Alles, was er so heiß, so sinnlos, so beklommen begehrte. Selbst mit ihren Küssen hatte sie ihn so lange gequält wie möglich. Mit diesen kühlen, jungfräulichen, scheu zurückgehaltenen Küssen. Dann freilich war es eines Tages auch über sie gekommen, hatte sie gleichsam entwaffnet. Seine Lippen hatten ihr diesen tödlichen Brand in die Seele geküßt und mit der Ohnmacht das Mißtrauen und die Zweifel.
»Wie wird es sein, wenn ich einmal nichts mehr zu geben habe?«
Immer wieder kam sie darauf zurück über allen Jubel der Seele, durch die ganze Schwüle der erregten Sinne. Bis es sie heute gepackt hatte und nicht mehr losgelassen. Daß ihr die eigene Mutter Rede stehen mußte.
Doch die war ihr entglitten! Mit einer ganz merkwürdigen Kunst. Wenn diese Kunst nicht eine einzige Schwäche war. Die Angst, in der die arme Frau während eines ganzen Lebens vor der Brutalität des Gatten einhergeflohen war. Sich wie zum Schutze hinter die Schleier der Lüge und die Masken des Schweigens geflüchtet hatte, daß sie nie und nimmer zu dem Selbst zurückfand, das sie doch auch einmal gewesen. Das Weibchen blieb, das sich zwei starke Mannesfäuste zurechtgeknetet.
Wie aber, wenn die Mutterschaft wirklich alles so ganz anders machte, so wegnahm? Das Glück und den Rausch durch die