heimelig. Blanca Imboden

heimelig - Blanca Imboden


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Arm. Ein kleiner Windstoß würde genügen, um das Kind aus meinem Zimmer zu pusten. Aber da ist kein Wind. Nicht einmal ein laues Windchen.

      »Guten Tag, Frau Niederberger«, bringt Melanie über die gepiercten Lippen, und ihre großen Augen mustern mich ungeniert. Ich bin wirklich tolerant und offen und alles. Aber wie kann man sich Ringe durch die Lippen stechen lassen? Und was sind das für Eltern, die so etwas zulassen?

      Ich bin alt.

      Ich muss das nicht mehr verstehen.

      »Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich an einem anderen Tag vorbeikommen?«, schreit mich das Mädchen jetzt an.

      Einen kleinen Moment lang komme ich in Versuchung, die Sterbende zu mimen, reiße mich dann aber zusammen.

      »Mir geht es gut. Ich bin das blühende Leben. Sie haben mich nur bei meinem Mittagsschlaf gestört«, raunze ich unfreundlich. Immerhin ergänze ich nicht, dass sie meinetwegen gar nicht mehr wiederkommen müsste, an welchem Tag auch immer.

      Melanie schreit weiter auf mich ein: »Aber wir sind verabredet. Haben Sie das vergessen? Sie wollten mir doch für meine Maturaarbeit einige Fragen beantworten. Ich mache eine Studie über das Leben im Altersheim.«

      Während ich erkläre, dass mein Gehör noch funktioniert, jedenfalls noch funktioniert hat, bevor sie mich so angeschrien hat, zermartere ich mein Hirn. Ich strenge mich an. Aber da ist nicht der geringste Fetzen von Erinnerung an so eine Abmachung. Melanie Zurkirchen? Das Mädchen habe ich noch nie gesehen, seinen Namen noch nie gehört. Ich bin mir total sicher. Absolut.

      Aber ich bin alt.

      Was, wenn ich die Abmachung einfach nur vergessen habe?

      »Na gut.«

      Ich seufze tief und rapple mich hoch, ganz langsam. In meinem Alter hüpft man nicht mehr aus dem Bett wie ein Reh. Man sortiert zuerst vorsichtig seine Knochen, macht eine kurze Bestandsaufnahme, setzt sich dann erst vorsichtig in Bewegung, wenn man weiß, wo es heute zwickt oder schmerzt. Und irgendwo zwickt und schmerzt es fast immer, wenn man das eigene Verfallsdatum langsam erreicht hat.

      Melanie und ich setzen uns an den kleinen Tisch, der noch aus meinem alten Haushalt stammt. Gewachste Eiche. Gewachste Erinnerungen.

      Mit einer geschickten, fließenden Bewegung knotet das junge Mädchen ihre langen Haare hinter dem Kopf zusammen, klappt den Laptop auf und tippt geschäftig auf der Tastatur herum. Dabei knabbert es an seiner Unterlippe. Ich beobachte Melanie argwöhnisch wie ein exotisches Insekt.

      Nein, ich kenne sie nicht.

      Wenn sie jetzt nach meinem Bankkonto fragt, rufe ich die Polizei!

      Ich bin zwar alt, aber nicht doof.

      »Können wir anfangen?«, will Melanie jetzt wissen, und ihre großen Augen richten sich auf mich. Ich nicke nur.

      »Sind Sie gern hier? Auf einer Skala von eins – was negativ ist – bis zehn – der Bestnote.«

      »Eins«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen. Wahrscheinlich habe ich das noch nie so ehrlich jemandem eingestanden. Melanies Augen werden noch größer.

      »Was vermissen Sie am meisten?«

      »Meinen Mann, mein Haus, meine Küche, mein früheres Leben, meine …«

      »Nicht so schnell!«, interveniert das Mädchen. Dabei haut sie rasend schnell in die Tasten.

      »Meinen Garten, die Birken, meine Sachen, die vielen Zimmer, die Ruhe, die Selbstbestimmung, meine Freundin Lisa …«

      Na ja, ich plappere wie ein Wasserfall. Mir fallen da endlos Dinge ein, die ich vermisse.

      »Halt! Stopp! Es tut mir leid, mehr Platz habe ich nicht in meinem Formular. Ich dachte nicht, dass jemand so viel vermissen könnte.« Das ist ihr jetzt sichtlich unangenehm. Unschlüssig kaut sie auf ihrer Unterlippe herum und spielt mit ihren Piercings.

      »Schon gut«, winke ich ab. So wichtig ist mir diese Umfrage nun auch wieder nicht.

      »Wie alt sind Sie?«

      »Auf einer Skala von eins bis zehn?«, frage ich zurück, und das Mädchen schaut überrascht auf. Dann lacht sie und sagt anerkennend, ich hätte wohl Humor.

      »Siebenundsiebzig«, antworte ich und ringe mich zu einem Lächeln durch.

      »Sind Sie krank – auf einer Skala von eins bis zehn –, wobei zehn extrem krank ist?«

      »Zwei«, antworte ich. »Ich bin nur alt, ansonsten gesund.«

      Jetzt schaut Melanie mich an wie ein exotisches Insekt.

      »Warum sind Sie dann hier? Freiwillig?«, fragt sie, und ich nehme an, das ist keine Frage aus ihrem Katalog.

      »Lange Geschichte«, gebe ich zurück. Und eine traurige Geschichte, denke ich für mich.

      Melanie schweigt einen Moment und sagt dann: »Sie sind bisher die gesündeste der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, und gleichzeitig die, die am wenigsten gern hier ist.« Sie scheint über etwas nachzudenken und meint dann: »Das ist spannend.«

      Ach?

      Gern geschehen.

      Es ist mir eine Ehre, Melanies jugendlichem Leben etwas Spannung einzuhauchen.

      »Fühlen Sie sich einsam, auf einer Skala von eins …«

      »Jaja. Schon gut. Ich habe das System verstanden. Sieben.«

      Ich nenne willkürlich irgendeine Zahl. Vielleicht wäre es in Tat und Wahrheit eine Zweiundzwanzig? Aber ich will ja nicht schon wieder Melanies selbst gebasteltes Formular sprengen. Und was heißt einsam? Natürlich habe ich hier Gesellschaft, manchmal mehr, als mir lieb ist. Natürlich bin ich nicht allein. Einsamkeit ist nicht der Mangel an Menschen, sondern das Fehlen des einen Menschen, dem man blind vertrauen kann, der einen wortlos versteht, dessen Nähe auch das Herz berührt. Es ist das Fehlen von Xaver. Das Fehlen von Lisa. Ob dieses junge Mädchen das auch nur ansatzweise verstehen könnte? Wusste ich in ihrem Alter, was Einsamkeit ist? Hätte es mich interessiert? Nein.

      »An welchen Unterhaltungsangeboten nehmen Sie gern teil?«, lautet Melanies nächste Frage.

      Ach Gott! Anfangs ging ich zum Singen, zum Spieltreff, zum Altersturnen. Ich habe in der Gruppe gebacken und gekocht. Nichts davon hat mir wirklich Spaß gemacht.

      »Ich gehe zum Gottesdienst – manchmal. Ich besuche den Friseur und die Bibliothek – regelmäßig. Wenn der Therapiehund Chilly vorbeikommt, bin ich gern dabei. Und ich falte Putzlappen zusammen – leidenschaftlich.«

      Jetzt fallen Melanie ihre riesigen Augen fast aus dem Kopf. Nur langsam und beinahe ein wenig widerwillig tippt sie meine Antworten ins Formular. Sie hat Bedenken.

      »Ich frage mich, ob man den Gottesdienst als Unterhaltungsangebot betrachten kann. Und den Friseur.« Ihr Blick wirkt nun wie ein großes Fragezeichen.

      »Aber das Putzlappen-Zusammenfalten, das irritiert Sie nicht?«, frage ich leicht eingeschnappt zurück. »Das hat nämlich mich sehr irritiert, als es erstmals auf dem Tagesprogramm stand. Darum bin ich hingegangen.«

      Und – unglaublich, aber wahr – ich nehme immer an diesem Angebot teil, wenn es ausgeschrieben ist. Erschreckend, dass ich so etwas freiwillig tue und als Tagesbereicherung empfinde. So weit ist es mit mir gekommen. Wir sitzen jeweils alle an einem großen Tisch. Die Wäscherei liefert Berge von Putzlappen in den verschiedensten Farben, und wir sortieren und falten sie zusammen. Dazu hören wir Radio oder unterhalten uns. Das ist immerhin ansatzweise eine sinnvolle Beschäftigung. Und ich hatte die besten, persönlichsten Gespräche dabei. Als würde uns diese gemeinsame, monotone Tätigkeit verbinden und einander näherbringen. Das alles sage ich Melanie aber nicht. Sie will es wohl auch nicht wissen.

      »Jetzt habe ich nur noch zwei Fragen«, verkündet sie und beruhigt mich prophylaktisch: »Ich habe große Felder für deren Beantwortung vorgesehen.«

      »Na, da bin ich aber gespannt«,


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