heimelig. Blanca Imboden

heimelig - Blanca Imboden


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mich nach einem Herzstillstand reanimieren zu müssen.«

      Und dann hält er uns wieder einmal einen Vortrag. Er habe heute Morgen aus der Zeitung erfahren, dass die Gemeinde anscheinend plane, an zehn Stellen öffentlich zugängliche Defibrillatoren zu installieren. Dies sei der Grund, weshalb er seine Brust bemalt habe.

      »Die Chance, nach einer Reanimation ohne Gehirnschaden oder andere Beeinträchtigungen davonzukommen, ist sehr klein. Viele Menschen werden wiederbelebt und sterben dann im Spital. Und das mag vielleicht sogar ein Glück sein. Besser jedenfalls, als für den Rest des Lebens nur noch wie ein Weißbrot dazuliegen. Darum: Stopp! Die Erfolgsquote bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand liegt bei unter zehn Prozent. Für solche Experimente bin ich zu alt.«

      Tobias erklärt uns immer gern die Welt, und meist erzählt er keinen Blödsinn. Er informiert sich jeweils gründlich.

      Stopp? Im Moment möchte ich mir lieber »GO« auf die Brust schreiben.

      Raus ins Leben!

      Go!

      4 A wie Ascona

      Reisen ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Züge sind schneller und voller, das Umsteigen hektischer, das Ein- und Aussteigen beschwerlicher und umständlicher. Nun, wahrscheinlich bin ich einfach langsamer und etwas steif geworden. Trotzdem: Im Urnerland bekomme ich nicht ein einziges Mal mehr die Kirche von Wassen zu Gesicht. Früher, wenn wir ins Tessin fuhren, erklärte Xaver Trudi und mir jedes Mal ausführlich die Konstruktion des Kehrtunnels und somit den Grund, warum man dreimal an der kleinen Kirche vorbeifuhr. Und wir ließen ihm den Spaß, obwohl wir längst Bescheid wussten. Heute braust der Zug mit zweihundert Kilometern pro Stunde durch einen langen, dunklen Tunnel, von Erstfeld bis Bodio. Mein Xaver würde mir jetzt sicher erklären, dass der neue Gotthard-Basistunnel mit seinen siebenundfünfzig Kilometern der längste Eisenbahntunnel der Welt sei. Das hat mein Tischnachbar Tobias an seiner Stelle getan, schon gestern Abend, sozusagen als Einführung für meine Reise.

      Ich sitze in der ersten Klasse. Man gönnt sich ja sonst nichts. Ich komme mir vor wie in einem rollenden Großraumbüro: Um mich herum tippen Männer in Anzügen auf ihren Laptops herum, verbissen und hektisch, als gäbs kein Morgen. Dafür gibt es keine Gespräche. Was ist bloß aus den Menschen geworden! »Je älter man wird, desto merkwürdiger werden die anderen«, las ich neulich. Vielleicht – möglicherweise sogar ziemlich sicher – bin tatsächlich ich es, die seltsam geworden ist. Und eigentlich, wenn ich es mir genau überlege, gab es schon früher kaum Gespräche im Zug. Man verschanzte sich hinter einer Zeitung oder strickte. Man traute sich nicht, das Gegenüber anzusprechen. Ein lockeres Gespräch war ein Glücksfall, etwas, woran man sich noch lange gern erinnerte, aber eben auch nicht alltäglich. Ich muss aufpassen, dass ich nicht in die Früher-war-alles-besser-Falle tappe.

      Früher war alles anders. Das schon.

      Ich schaue mich unauffällig um, werde aber ignoriert. Trotzdem möchte ich nicht die Einzige sein, die einfach so dasitzt, als hätte sie nichts zu tun. Obwohl mir gerade das beim Zugfahren jeweils immer gut gefallen hat: entspanntes Sitzen und Schauen. Kim würde das wohl chillen nennen.

      Ich nehme also das kleine Büchlein, das ich mir als Lektüre mitgenommen habe, aus meiner Handtasche und beginne zu lesen. Immer wieder erkenne ich in der Geschichte von Harry und Lore, einem alten Ehepaar, Xaver und mich: viel Gezänke, viele Missverständnisse, viel Schweigen. Aber trotzdem halt Liebe. »Alte Liebe« heißt das kleine Buch von Elke Heidenreich und Bernd Schroeder, und ich mag es sehr. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich laut auflache. Dann schaue ich mich erschrocken um und muss einige neugierige, irritierte Blicke aushalten. Ich lächle die Leute an, und sie lächeln zurück. Eine schrullige Alte, werden sie wohl denken. Hoffe ich jedenfalls. Aber gell, wenn da der Autor Philip Roth zitiert wird: »Das Alter ist kein Kampf; es ist ein Massaker«, dann ist das einfach erstaunlich treffend. Diese Aussage würden viele Heimbewohner sofort unterzeichnen. Oder wenn eine Figur sagt, sie habe das Gefühl, dass der Tod immer mit am Tisch sitze und abwarte, wer als Nächster dran sei, dann könnte das eine Szene aus unserem heimelig sein, direkt von unserem Tisch. Und ja, ich will darüber lachen. Denn sonst müsste ich darüber weinen.

      Neuerdings muss man in Bellinzona umsteigen, aber immerhin keinen Treppen-Marathon bewältigen. Man kann einfach auf dem gleichen Perron stehen bleiben. Dafür haste ich dann in Locarno den Geleisen entlang durch den Bahnhof, überquere die Hauptstraße und bin völlig außer Atem, als ich an der Bushaltestelle ankomme. Mein Herz klopft wie verrückt. Und dann warte ich in der gleißenden Sonne auf den verspäteten Bus. Hier ist es wirklich heiß. Süden halt. Die Nylonstrümpfe hätte ich mir schenken können. Es ist, als wäre man in Italien. Ich atme tief durch, beruhige mich und spüre ein klein wenig Ferienstimmung aufkommen. Dieses Gefühl hatte ich lange nicht mehr.

      Und dann erreiche ich Ascona, schlendere durch die Gassen zur Piazza und bin in Gedanken bei meiner Freundin Lisa. Dass sie kurz nach Xaver gestorben ist, gerade als ich sie am meisten gebraucht hätte, war ein schwerer Schlag. Ich nehme Lisa in meinem Herzen mit, höre im Geiste ihre Stöckelschuhe neben mir auf die Pflastersteine klopfen.

      Das ist schwierig im Alter: Man muss viel zu oft Abschied nehmen. Von Freunden, Verwandten, Geliebten, Kollegen. Und wenn man seinen eigenen Abgang verpasst, zu spät stirbt, alle anderen vorher gehen, dann steht man plötzlich ganz allein da.

      Hier in Ascona bin ich nicht allein. Ganz und gar nicht. Die Restaurants scheinen alle voll zu sein. Ich spaziere an einem Musiker vorbei, der Gitarre spielt und singt. Ein sympathischer junger Mann mit einer warmen, kräftigen Stimme. Er singt alte italienische Songs, die sogar ich kenne und die mich an gute Zeiten erinnern. Darum klaube ich großzügig einen Fünfliber aus dem Seitenfach meiner Tasche, wo immer ein paar Münzen drinstecken. Ich werfe das Geldstück in seinen Gitarrenkasten, er zwinkert mir zu. Ich zwinkere zurück.

      Wir lachen uns an.

      In einem Kiosk will ich mir eine Zeitschrift kaufen. Ich bin es nicht gewohnt, allein ein Restaurant zu betreten, und mit einer Zeitschrift könnte ich mich ein wenig beschäftigen und würde mir weniger verloren vorkommen. Aber als ich meine Geldbörse aus der Handtasche fischen will, ist keine da. Mir wird schwindlig. Meine Gedanken rasen wie Blitze durch meinen Kopf. Heute habe ich die schwarze, große Handtasche mitgenommen. Das letzte Mal war ich allerdings mit der kleinen, blauen unterwegs. Und genau: Ich habe das Portemonnaie nicht in die Tasche von heute umgepackt.

      Zuerst einmal ist es mir einfach nur peinlich. Ich lege die Zeitschrift wieder zurück und verlasse fluchtartig den Kiosk.

      Nein!

      Ich bin zu alt zum Reisen. Zu blöde. Das Gehirn schon angegriffen vom Kalk oder ersten Anzeichen von Demenz.

      Ich setze mich auf eine Bank und weine.

      Ich bin so enttäuscht.

      Von mir. Vom Leben. Von der Welt.

      Und ich fühle mich uralt.

      Ich schaffe es nicht einmal, einen Tag lang dem Heim zu entfliehen.

      Das ist traurig.

      Und jetzt sitze ich in Ascona am See und weine.

      Genau hier, wo ich so oft glückliche Stunden verbracht habe.

      »Santo cielo, che cosa è successo?«

      Ich schaue erschrocken auf. Der Musiker von eben hat sich neben mich gesetzt und reicht mir ein Papiertaschentuch.

      »Danke.« Ich schnäuze mich, wische meine Tränen weg und versuche mich zu fassen. Man weint nicht einfach so in der Öffentlichkeit. Wirklich nicht.

      »Was ist passiert?«, fragt der Musiker nun auf Deutsch, und es scheint ihn tatsächlich zu kümmern.

      »Ich habe mein Portemonnaie daheim vergessen. Dabei wollte ich nur einen kleinen Ausflug hierher machen, ein Risotto essen, ein Glas Wein trinken. Es ist nicht so schlimm. Dann fahre ich halt wieder heim.«

      Er glaubt


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