heimelig. Blanca Imboden

heimelig - Blanca Imboden


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      Ich erzähle ihm, dass das mein erster Versuch war, wieder Bewegung in mein Leben zu bringen. Mein erster Fluchtversuch. Meine erste Reise. Als Probe sozusagen. Und die ist eindeutig misslungen.

      »Ich bin wohl zu alt, um noch in der Welt herumzureisen«, sage ich abschließend. Immerhin weine ich nicht mehr. Nur ab und zu meldet sich ein ungewollter Schluchzer aus meinem tiefsten Inneren.

      »Contenance!«, hätte Frau Amstutz, die böseste Chefin, die ich je hatte, befohlen. Sie führte das Hotel Landhaus in Engelberg mit eiserner Hand. Eigentlich eher mit eisernem Herzen. Und an der Hand trug sie einen Brillantring, mit dem sie einem ganz schnell, fast beiläufig, sehr wehtun konnte, wenn eine Arbeit nicht in ihrem Sinne ausgeführt worden war.

      Contenance.

      Haltung.

      Ich meine, ihre Stimme zu hören, und richte mich ein wenig auf.

      »Ich heiße Matteo? Und du?«, ertönt es jetzt aber ganz real an meiner Seite.

      Ich mag es gar nicht, ungefragt geduzt zu werden. Diese neumodische Art, sich mit jedem gleich zu verbrüdern, ist mir zuwider.

      »Niederberger«, sage ich darum steif.

      Matteo lächelt nachsichtig.

      »Allora, Signora Niederberger, was machen wir jetzt?«

      Er stolpert dermaßen über den für ihn wohl schwierigen Nachnamen, dass ich über meinen Schatten springe und ihm doch noch meinen Vornamen nenne.

      »Allora, Signora Nelly: Ich lade Sie zum Essen ein, genau dort, wo Sie essen wollten!«

      Matteo strahlt mich an.

      Ich habe jedoch keine Ahnung, wie ich mit seiner Einladung umgehen soll. Der junge Mann macht mich sprachlos. Ich kenne ihn doch gar nicht. Ist das irgendeine Falle? Ein neuer Enkeltrick? Am Ende läuft er weg, und ich sitze da mit einer saftigen Rechnung und ganz ohne Geld? Matteo spürt wohl meine Bedenken und zeigt mir seine Geldbörse, die reichlich gefüllt zu sein scheint.

      »Ich habe gut gearbeitet. So viele schöne Tage! Wir können ja auch einen Deal machen, wenn Ihnen das lieber ist?«

      Ich bin auf der Hut und warte auf seinen Vorschlag.

      »Ich bezahle, Sie schicken mir das Geld später wieder. Und ich darf über Sie in meinem Blog schreiben.«

      Ich schaue ihm in die Augen und denke, dass ich doch eigentlich genug Lebenserfahrung haben sollte, um diesen Menschen richtig einschätzen zu können. Er gibt mir seine Visitenkarte, die allerdings irgendwie selbst gebastelt wirkt.

      Mein Xaver würde sich die Haare raufen.

      Meine Freundin Lisa würde den Kopf schütteln.

      Genau das sind wohl die ausschlaggebenden Gedanken. Ich sage zu. Gerade habe ich Lust auf ein wenig Abenteuer, spüre einen Anflug von Aufmüpfigkeit in mir. Wenn alles schiefgeht, lande ich als Zechprellerin bei der Polizei. Was solls? Ich habe schon Schlimmeres überlebt.

      Xaver ist gestorben.

      Lisa ist gestorben.

      Das Leben kann mir doch gar nichts mehr anhaben.

      5 Risotto-Schmaus

      Das Risotto-Essen mit Matteo ist ein voller Erfolg. Wir unterhalten uns großartig und lachen viel, fragen einander aus. Das Essen schmeckt himmlisch – nach den vielen Wochen Verköstigung im Heim bin ich allerdings leicht zu begeistern. Dazu trinken wir auch beide ein Glas Rotwein. Matteo scheint den Wirt und das Personal zu kennen. Es fühlt sich alles sehr familiär an. Ich lehne mich zurück und genieße den Blick auf den See und die knorrigen Platanen mit ihrem üppigen Grün, die ich so sehr mag.

      »Ende des neunzehnten Jahrhunderts brachten ehemalige Auswanderer siebenundvierzig Platanen aus Frankreich hierher und schenkten sie Ascona«, weiß Matteo. Und da stehen sie seither, wie Wahrzeichen, wunderschön.

      Möwen kreisen kreischend über den bunten Booten. Pure Idylle. Einmal steht plötzlich eine Ente an unserem Tisch, und ich ziehe erschrocken meine Füße zurück. Alle amüsieren sich über meinen Schrecken.

      Matteo erzählt von seinen Reisen. In Ascona ist er meist nur im Sommer. Ansonsten trampt er durch die Welt, wohnt bei irgendwelchen Bekannten und macht Musik.

      »Jede Stadt – nicht etwa jedes Land – hat eigene Gesetze und Regeln für Straßenmusiker«, sagt er. »Das ist etwas anstrengend. Hier in Ascona kaufe ich jeweils eine Jahreslizenz für vierhundert Franken. Doch schon in Locarno gilt die nicht mehr, darf ich nicht auftreten. Und in München – man glaubt es kaum – musste ich sogar vorspielen, also beweisen, dass ich gut genug bin. Eine Schlafgelegenheit zu finden, ist hingegen nicht so schwer. Hier wohne ich bei meiner Freundin Lucia.«

      »Und sie hält das aus, wenn Sie so oft unterwegs sind?«

      »Na ja. Sie macht schon immer mehr Druck. Sie findet, ich sei langsam zu alt für dieses unstete Leben. Dabei haben wir uns in Barcelona kennen gelernt, als ich genau so lebte wie heute, und sie wusste immer, wer ich bin und was ich will … Im Moment einfach noch nicht sesshaft werden. Ich bin noch nicht so weit für Heirat, Kinder, Haus …«

      Da kann ich nur hoffen, dass es gut geht mit den beiden, auf die Länge gesehen. Aber die jungen Leute heutzutage denken ja in Beziehungssachen ohnehin nicht mehr so langfristig, wie wir es damals taten.

      Matteo scheint Mitte zwanzig zu sein, wie meine Enkelin Kim ungefähr. Nur wirkt sie im Gegensatz zu ihm sehr zielstrebig und ehrgeizig. Sie weiß genau, was sie will. Andererseits weiß Matteo das ja auch. Und ebenso genau.

      Matteo lässt den Kellner ein paar Fotos von uns beiden machen. Wir prosten uns dafür mit dem letzten Schluck Rotwein zu und lassen die schönen Gläser klingen.

      »Die sind für meinen Blog. Wissen Sie, was ein Blog ist?«, fragt Matteo.

      »Ja, klar. Meine Enkelin wollte mir einen Blog für mein Leben im Altersheim einrichten. Ich habe mir das alles genau angeschaut. Aber es ist nichts für mich.«

      Matteo erzählt von zwanzigtausend Followern. Er könne mit seinem Blog schon etwas Geld verdienen, bekomme auch mal eine Hotelübernachtung geschenkt, wurde schon zu Straßenmusikfestivals auf der ganzen Welt eingeladen.

      »Meine Follower werden dich lieben. Sie. Scusa!«

      Beim Tiramisu, das der Wirt großzügig spendiert, wechseln wir dann doch noch zum Du. Nach dem Espresso übernimmt Matteo wie vereinbart die Rechnung und will sich verabschieden. Er muss seinen Standplatz verteidigen, der unterdessen von einer lebenden Statue übernommen worden ist. Ich begleite ihn, höre ihm noch eine Weile zu. Er spielt wirklich gut. Und ich bin glücklich.

      Auf dem Rückweg im Zug nicke ich ein wenig ein. Zum Glück verpasse ich aber nicht das Umsteigen und komme am frühen Abend ins heimelig zurück. Nein, ich melde mich nicht bei Frau Meier, sondern gehe einfach in mein Zimmer. Ausnahmsweise mal mit dem Lift. Sonst benütze ich immer die Treppe. Das fällt mir zwar manchmal schwer, aber ich lasse es mir nicht anmerken, da ich Neid und Bewunderung im Rücken spüre. Wenn ich jeweils nach dem Essen an der Warteschlange vor dem Lift vorbeigehe und die Tür zum Treppenhaus öffne, schiebt mich das richtiggehend an. Ich bin die einzige Bewohnerin des heimelig, die Treppen steigt – die Treppen steigen kann.

      Das sind halt die kleinen Freuden, die ich noch habe.

      Und ich weiß: Das tut mir gut. Sportlich und menschlich.

      Im Zimmer hole ich sofort eine Hunderternote und einen Fünfziger aus meinem Geldbeutel in der blauen Tasche. Ich adressiere ein Couvert, stecke das Geld hinein und schreibe ein paar Zeilen auf eine Ansichtskarte vom heimelig. Den Umschlag will ich gleich anschließend in die Post-Box unten beim Empfang werfen. Nein, ich habe nicht gern Schulden. Und ich zahle Matteo gern großzügige Zinsen. Er hat schließlich meinen Tag gerettet.

      Endlich


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