heimelig. Blanca Imboden

heimelig - Blanca Imboden


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Sie es!«, fordert sie mich heraus und fragt dann: »Was würden Sie hier ändern, wenn Sie könnten? Was müsste geändert werden, damit Sie sich hier wohler fühlen könnten? Wie könnte man das Heimleben verbessern?«

      Oh.

      Ein Heim ist ein Heim. Es ist kein Zuhause, und es wird auch nie eines werden, wenn man auch noch so sehr versucht, sich das einzureden. Es ist eine Übergangsstation, meist eine Endstation, mit der man sich arrangiert, irgendwie. Manchmal denke ich, dass, wer hier einzieht, schon ein ganz klein wenig gestorben ist, weil er sehr viel aufgegeben hat. Und so fällt einem das letzte Sterben dann gar nicht mehr so schwer. Sind das böse Gedanken, falsche? Viele Bewohner sind krank und erleichtert, wenn man sie von den alltäglichen Arbeiten eines Haushalts befreit. Sie brauchen Hilfe und bekommen sie. Einige wenige finden hier sogar Anschluss, Gesellschaft, sind hier weniger allein als zuvor.

      Aber klar, jetzt sind Vorschläge gefragt.

      Kritisieren ist leicht.

      Aber wie könnte man alles besser machen?

      Ich atme tief durch, und dann bricht es aus mir heraus, so, dass Melanie beim Tippen ganz schön ins Schwitzen kommt, obwohl ich mir echt Mühe gebe, langsam zu sprechen.

      »Zuerst einmal sollte die Politik über die Bücher gehen. Es kann einfach nicht sein, dass wir so wenig Personal im Pflegebereich ausbilden und es dann aus dem Ausland holen, wo es auch wieder fehlt. Irgendwann müssen wir uns dieser Problematik stellen, sonst bricht das ganze System zusammen. Hier sind alle ständig gestresst und überfordert. Natürlich auch, weil die finanziellen Mittel für mehr Personal fehlen. Und im Kleinen: Wir haben hier im heimelig keine gute Küche. Dabei bleiben uns Alten wirklich nicht mehr viele Freuden – die Mahlzeiten sollten eine sein. Unbedingt. Vielleicht ist der Küchenchef ja sogar gut, doch sein Budget zu klein. Ich weiß es nicht. Weiter ist das W-LAN-Netz, das uns Bewohnern zur Verfügung steht, eine Katastrophe. Und leider bin ich wohl die Einzige, die es überhaupt nutzt, daher kämpfe ich auch allein um ein besseres. Dann – das muss auch mal gesagt sein – diese kleinen Konzerte ständig: Die machen sich ja gut auf dem Veranstaltungskalender, aber bloß weil ich alt bin, freue ich mich nicht grundsätzlich über jeden Musikschüler, der hier öffentlich übt. Mein Gehör funktioniert nämlich noch einwandfrei, und selbst wenn ich schlecht hören würde, wäre mein Musikgehör immer noch intakt. Und wenn die Schüler der Sonderschule an Weihnachten hier Weihnachtslieder singen, dann ist das vielleicht etwas Besonderes – aber nur für die Sonderschüler. Übrigens liebt auch nicht jeder über sechzig automatisch Ländlermusik und Blaskapellen. Es gäbe doch Alternativen: Warum nicht mal eine Podiumsdiskussion über unser Heimleben oder das Alter an sich aufs Programm setzen? Eine Lesung? Einen Filmabend mit einem Film, der nicht schon fünfzig Jahre alt ist, und anschließend eine Diskussion darüber? Anfänglich war auch mal eine interne Heimzeitung geplant. Wurde wahrscheinlich weggespart. Die Idee gefiel mir …«

      »… Okay! Okay! Sie haben es geschafft. Ich habe keinen Platz mehr.«

      Gut, ich hätte noch eine Weile weitermachen können, aber es reicht ja wohl.

      »Dann kommen wir jetzt zur letzten Frage.«

      Es scheint, als wäre Melanie genauso froh wie ich, dass das Verhör nun bald beendet ist.

      »Wie waren Sie und wo, als Sie so alt waren wie ich? Ich bin achtzehn.«

      Ach du meine Güte!

      Das ist wirklich schon eine Weile her.

      Ich habe ein einziges Foto von damals. Ich stehe auf, krame es umständlich aus einer Schublade und halte es Melanie hin. Ich war eine Schönheit. Eine Prinzessin. Wie Sissi, die Kaiserin. Nur habe ich das damals gar nicht realisiert.

      Heute sehe ich eher aus wie die Schwester von Ruth Maria Kubitschek, der uns älteren Semestern aus vielen Fernsehfilmen bekannten Schauspielerin, die seit einigen Jahren einen Schweizer Pass hat und am Bodensee lebt. Ich mag sie – also gefalle auch ich mir? Meine Haare sind mal mehr blond, mal mehr grau – je nachdem, ob ich mehr oder weniger Lust auf einen Besuch beim Friseur habe –, immer sind sie nicht ganz kurz, aber auch nicht lang, mittellang also und unspektakulär. Mein Gesicht ist knitterig und zerfurcht, faltig halt, gezeichnet vom Leben, auch vom guten Leben, mit entsprechenden Lachfalten um meine grünen Augen. Immerhin habe ich noch meine gute Figur, und das, obwohl ich mich mein Leben lang nicht um Sport kümmerte und gegessen habe, was mir schmeckte. Dafür bin ich dankbar.

      Aber ich soll ja an früher denken, Melanie wartet, ein bisschen ungeduldig, wie mir scheint, auf meine Antwort.

      »Mit achtzehn war ich unerfahren, naiv, schüchtern, arm«, beginne ich also. »Meine Eltern hatten einen Bauernhof in Engelberg. Ich musste arbeiten und habe in Hotels Zimmer geputzt. Ich hatte wenig. Wir hatten wenig. War ich glücklich? Nicht besonders, aber ich habe mich das wohl auch nicht speziell gefragt. Gern hätte ich etwas mit Büchern gearbeitet, eventuell sogar studiert. Das stand aber nie zur Diskussion. Es war einfach, wie es war.«

      Melanie klappt den Laptop zu.

      »Danke!«, sagt sie und wirkt ein klein wenig erschöpft.

      War ich anstrengend?

      Meine Tochter Trudi behauptet oft, ich sei anstrengend.

      Gerade als ich fragen will, wie denn diese Maturaarbeit eigentlich genau aussehen werde, klopft es wieder an meine Zimmertür, und Schwester Yvonne stürmt herein.

      »Das war das falsche Zimmer! Sie waren mit Frau Marty von nebenan verabredet«, erklärt sie Melanie etwas atemlos. »Die arme Frau hat im ganzen Haus nach Ihnen gesucht.«

      Dann schaut sie mich vorwurfsvoll an: »Warum haben Sie denn nichts gesagt, Frau Niederberger? Sie mussten doch wissen, dass Sie gar nicht verabredet waren, oder?«

      Verständnislos zucke ich mit den Schultern.

      Ich bin platt.

      Mein Kopf ist also noch klar.

      Melanie wollte gar nicht zu mir.

      Ha!

      Ich freue mich, auf einer Skala von eins bis zehn etwa bei der Neun. Und dass mein Mittagsschlaf ausfallen musste, trage ich mit Fassung.

      Man ist ja in meinem Alter so leicht zu verunsichern. Kein Wunder haben Enkeltrickbetrüger und andere Kriminelle so ein leichtes Spiel mit Senioren.

      Aber das wird mir eine Lehre sein.

      Mein Kopf ist klar. Glasklar. Ich werde nie mehr daran zweifeln.

      Ich verabschiede mich von Melanie, und als ich höre, wie sie im Zimmer nebenan auf Frau Marty einschreit und diese in derselben Lautstärke antwortet, lächle ich in mich hinein. Die ist nämlich wirklich schwerhörig, was unsere Nachbarschaft manchmal etwas belastet.

      Ich schalte den Fernseher ein und falle bei einer Kochsendung schnell in einen leichten Schlummer. Kochsendungen wirken auf mich immer einschläfernd. Schade, dass sie meist nur tagsüber gezeigt werden.

      3 Neu erwachte Lebensgeister

      Und dann schreit Frau Marty nicht mehr.

      Sie wird nie mehr schreien.

      Frau Marty ist in der Nacht verstorben. Sie hat sich ganz leise davongemacht, ist diesen friedlichen Tod gestorben, den wir uns alle wünschen. Beim Abendessen brüllte sie noch munter am Nebentisch herum und berichtete stolz vom unglaublich wichtigen Interview mit Melanie Zurkirchen. Wohl oder übel mussten wir alle mithören.

      Am Morgen brannte nur noch eine Kerze an Frau Martys Platz.

      Nein, sie war nicht meine Freundin. Ich habe mich zu oft über sie geärgert. Ihr Radio lief so laut, dass ich meines gar nicht einschalten musste. Und sogar wenn sie ihr Zimmer verließ, um mit dem Rollator ihren täglichen Spaziergang zu machen, hielt sie es nicht für nötig, ihr Radio auszuschalten oder wenigstens leiser zu drehen. Nur wenn sie schlief, war es still. Und sie schlief


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