Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
1770 Professor am Salzburger Gymnasium. Nach den auf dessen eigenen Aufzeichnungen beruhenden Mitteilungen seines Biographen100 hatte dieser auch für Poesie und Musik lebhaft eingenommene Mann oft Gelegenheit, das musikalische Talent Wolfgangs zu bewundern und ihn für die angenehmen Stunden, die er ihm bereitete, durch kleine Geschenke zu erfreuen. "Die Oktav", sagt er, "welche er mit seinen kleinen Fingerchen noch nicht zugleich erreichen konnte, erhupfte er mit außerordentlicher Geschwindigkeit und wunderbarer Accuratesse." Man habe ihm nur den nächsten besten Gedanken zu einem Satze oder einer Fuge angeben dürfen, so habe er ihn gleich durch alle Tonarten mit merkwürdiger Abwechslung und immer neuen Gängen durchgeführt; musikalisches Phantasieren sei seine Passion gewesen. Scharl erhielt von ihm das Versprechen, für ihn etwas Besonderes komponieren zu wollen.
Sogar ein öffentliches Hervortreten des Knaben, allerdings nicht als Klavierspieler, wird aus jenen Jahren erwähnt. In dem am 1. und 3. September 1761 zum Namenstage des Erzbischofs im akademischen Theater aufgeführten Schauspiele "Sigismundus Hungariae rex", Text von dem Gymnasialpräfekten Wimmer, Musik von Eberlin, in welchem 146 Personen mitwirkten, ist unter den "Salii" auch "Wolfgangus Mozhart" verzeichnet. Außerdem findet sich unter denselben ein Dr. Antonius de Mölk, ein Name, der uns auch später wieder begegnen wird101.
Noch wichtiger sind aber für Mozarts künstlerische Anfänge zwei Quellen musikalischer Art, die uns ein glücklicher Zufall erhalten hat. Dem Brauche der älteren Zeit folgend, der dem Musiklehrer vorschrieb, den Übungsstoff für seine Schüler sei es selbst zu komponieren oder doch wenigstens handschriftlich zusammenzustellen, hat auch L. Mozart für jedes seiner Kinder ein Buch mit Übungsstücken angelegt. Es sind allerdings keine Etüden, sondern sog. "Handstücke" für Klavier, wie sie damals den Schülern zur Erholung nach den Mühen der rein technischen Übungen an die Hand gegeben wurden. Das für Marianne bestimmte Notenheft befindet sich als ein Geschenk der Großfürstin Helene seit 1864 im Salzburger Mozarteum, leider in stark zerschnittenem und unvollständigem Zustande102. Es enthält Menuette und ähnliche kleinere Stücke, später auch größere, z.B. ein Thema mit zwölf Variationen, zum Teil mit Angabe der Komponisten Agrell, Fischer, Wagenseil, und ist von der Hand des Vaters und musikalischer Hausfreunde geschrieben. Aus ihm hat auch Wolfgang gelernt103; seine eigenen ersten Versuche sind vom Vater ebenfalls in das Heft eingetragen, zum Teil mit Überschriften: "Di Wolfgango Mozart 11. May 1762 und 16. July 1762".
Das zweite, für Wolfgang bestimmte Notenbuch ist dagegen vollständig erhalten. Es wurde vor einigen Jahren von seinem damaligen Besitzer, dem inzwischen verstorbenen bekannten Straßburger Gynäkologen Wilh. Al. Freund, dem Verfasser bereitwilligst zur Verfügung gestellt, nachdem kurz zuvor R. Genée, allerdings nur kurz und zum Teil ziemlich oberflächlich, darauf hingewiesen hatte104.
Das Buch trägt auf der Rückseite des ersten Blattes den Vermerk: "Meinem lieben Sohne Wolfgang Amadée zu seinem sechsten Namenstage von seinem Vater Leopold Mozart. Salzburg, den 31. Oktober 1762". Allerdings befanden sich Vater und Sohn damals nicht in Salzburg, sondern in Wien, und Wolfgang hatte soeben einen bedenklichen Scharlachanfall überwunden (s.u.). Trotzdem halte ich die Annahme von Wyzewa-St. Foix105, das Buch sei überhaupt erst in Wien begonnen worden, nicht für zwingend. Sein Einfluß auf Wolfgangs erste Kompositionen, sowie der Umstand, daß sich L. Mozart auf den Reisen wohl kaum mit einer so sorgfältigen Arbeit belastet hat, sprechen entschieden dagegen. Sie ist vielmehr wohl im Anschluß an Mariannes Notenbuch begonnen worden, und Wolfgang hat sicher einen Teil des Inhalts schon während des Unterrichts kennengelernt.
Die Sammlung enthält im ganzen 135 Stücke, die in 25 "Suiten" eingeteilt sind. Wahl und Reihenfolge der Tonarten entsprechen genau der Anordnung von S. Bachs Inventionen und Sinfonien. Von der älteren Suite ist freilich nur die Einheit der Tonart und der wenigstens in der Mehrzahl der Sätze festgehaltene Tanzcharakter übrig geblieben, dagegen ist ihre Zahl und Anordnung durchaus willkürlich106. Nur die Einleitungsstücke bilden eine Ausnahme: sie sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Liedsätze auf geistliche Texte, als deren Quelle L. Mozart eine "Neue Sammlung geistlicher Lieder" nennt. Diese hat sich als das unter demselben Titel 1752 in Wernigerode erschienene Gesangbuch des Grafen Heinrich Ernst zu Stollberg-Wernigerode herausgestellt; von ihm stammen mit einer einzigen Ausnahme107 auch die von Mozart gewählten Liedertexte. Für die Melodien aber hat er die bekannte norddeutsche "Sammlung verschiedener und auserlesener Oden" von Johann Friedrich Gräfe, und zwar die drei ersten Teile (Halle 1737, 1739 und 1741) benutzt108; dabei ergibt sich, daß Stollbergs Texte größtenteils geistliche Parodien der weltlichen Dichtungen bei Gräfe sind. Als Komponisten kommen für L. Mozart nur Gräfe selbst (1711–1787) und Konr. Friedrich Hurlebusch (1696–1765) in Frage; jener ist mit 8, dieser mit 11 Nummern vertreten. Mit diesem Verfahren des "Parodierens", d.h. des Unterlegens neuer Texte unter die bereits bei Gräfe stark instrumental gefärbten Vorlagen erweist sich L. Mozart aber als getreuer Schüler einer Richtung, die unter französischem Einfluß durch den Leipziger Sperontes und seine "Singende Muse an der Pleiße" (1736–1745) zur Herrschaft im deutschen Liede gekommen war; auch für ihre ästhetischen Entgleisungen, ihr Zusammenspannen ernster geistlicher Texte mit lustigen weltlichen Weisen, oft unter grober Vernachlässigung der Deklamation, finden sich bei ihm einzelne Belege.
Nur in neunzehn Fällen nennt Mozart die Namen der von ihm benützten Komponisten. Am häufigsten erscheint dabei G. Ph. Telemann (1681–1767), meist unter seinem Lieblingsnamen Melante, und zwar mit 11 Menuetten109 und einer Phantasie110, Ph. E. Bach ist mit zwei Menuetten und einem Marsch111 vertreten, der Hallenser Gottfr. Kirchhoff mit einer viersätzigen "Sonatina"112, der Nürnberger Balthasar Schmidt mit zwei Menuetten samt Alternativen113, endlich der große Joh. Ad. Hasse mit einer Polonäse114 und ein nicht näher bekannter "Mons. Bosse" mit einem Murki115. Trotzdem wäre es gründlich verfehlt, für die übrigen Stücke einfach Mozart selbst als Verfasser anzunehmen, denn ihr Stil ist von dem seinigen so verschieden wie nur möglich. Für einige davon habe ich die Quelle feststellen können. So stammen die Polonäse Nr. 3, 5 und das Menuett Nr. 7, 7 aus Sperontes' "Singender Muse" selbst116, die Polonäse Nr. 21, 5 von Joh. Nik. Tischer (1707 bis 1766)117, das Menuett Nr. 24, 6 ist eine Klavierbearbeitung des Menuettsatzes aus Hasses Sinfonie zur Oper "Cleofide" (1731), das Jägerlied Nr. 4, 9 endlich stellt sich als eine etwas ausgeschmückte Fassung eines alten, in dem "Dantzbüchlein" des Joh. Friedr. Dreysser von 1720 enthaltenen deutschen volksmäßigen Liedes dar, und ebenso birgt sich hinter der "Burleske" Nr. 20, 4 ein uraltes deutsches Volkslied. Weitere, nur wenige Takte umfassende Anklänge an bekannte Stücke, wie der Anfang von Nr. 4, 3, der an S. Bachs "Lied von der Tabakspfeife" gemahnt, werden wohl auf bloßem Zufall beruhen.
Im allgemeinen lassen sich bei den reinen Klavierstücken drei Gruppen unterscheiden. Die erste umfaßt lied-und tanzmäßige Sätze von ganz ausgesprochen deutsch-volkstümlichem Gepräge, wie sie in den handschriftlichen Sammlungen Süddeutschlands im 18. Jahrhundert besonders beliebt waren118. Einige davon tragen Überschriften, wie das schon genannte "Jägerlied", der "Schwabentanz" (Nr. 9, 5), die "Schmiedecourante" (Nr. 2, 1), das "Trompeten-" und das "Waldhornstück" (Nr. 4, 11; 12, 5). Das Glanzstück dieser Gruppe ist der "March du Bredau" (Nr. 4, 2). Die zweite Gruppe enthält Erzeugnisse hoher Kunst aus der Zeit, da sich die neuen Errungenschaften D. Scarlattis eben bei den deutschen Klavierkomponisten einzubürgern begannen. Sie besteht aus Phantasien, freien Allegrosätzen, den "Arien", soweit sie nicht reine Tänze sind, und der Kirchhoffschen Sonatine. Der Form nach gleichfalls zwei- oder dreiteilig119, stellen sie an Technik und Vortragskunst des Spielers von allen die größten Anforderungen. Der dritten und stärksten Gruppe gehören endlich die Tanzsätze französischen Stils an, und zwar treten, offenbar unter Sperontes' Einfluß, die älteren Tänze, Allemanden, Couranten usw. ganz erheblich zurück gegen die neuen, durch Sperontes in Schwang gekommenen Modetänze Menuett und Polonäse120. An diesen Tänzen konnte Wolfgang alle Spielarten der zwei- oder dreiteiligen Form studieren. Da stehen Menuette mit zwei gleich langen Teilen neben solchen, in denen der zweite Teil, mitunter erheblich, länger ist als der erste, motivisch einheitliche Sätze neben andern,