Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
in einer Arie die verschiedensten Stimmungen zusammenzufassen, darf man dabei ja nicht denken, es war vielmehr wiederum bloß die Freude an der eigenen Ideenfülle und an rein musikalischen Gegensätzen, die ihm hier die Feder führte.
So bedeutet diese Oper ihren Vorgängerinnen gegenüber zwar technisch einen erheblichen Fortschritt, von einer völligen Herrschaft über den italienischen Gesangsstil ist sie dagegen noch weit entfernt.
Auffallend sind die Seccorezitative, mit deren Deklamation es Mozart, offenbar in Erinnerung an die deutsche Art8, weit ernster genommen hat als die Italiener. Sie sind meist tadellos deklamiert und tragen auch dem Affekt im einzelnen Rechnung, soweit ihn der Knabe überhaupt zu empfinden imstande war. Dagegen stehen die ziemlich zahlreichen Akkompagnatos, obwohl Mozart auch hier mit neuen Motiven verschwenderisch umgeht, jenem "Demofoonte"-Rezitativ9 im Ausdruck ganz erheblich nach.
An Ensembles weist die Oper außer dem Schlußquintett von dem üblichen flüchtigen und heiteren Schlage noch ein Duett (Nr. 17) auf, von breiter, an die Buffooper gemahnender zweiteiliger Form; der erste Teil gehört mit seiner schwelgerischen Schwärmerei zu den besten Stücken der Oper. In der Begleitung tritt zu dem üblichen Hörnerpaar noch ein zweites hinzu.
Die knapp gehaltene Ouvertüre folgt in den beiden Ecksätzen mit den kurzatmigen Seitenthemen, den bei aller Kürze mit neuen Gedanken arbeitenden Durchführungen und dem großen Crescendoanlauf des Schlußprestos der Art Piccinnis, der Mittelsatz weist dagegen mit seiner traulichen Marschweise auf Mozarts österreichische Heimat hin.
Der Text der 1772 komponierten Oper "Lucio Silla" (K.-V. 135, S.V. 8 mit Waldersees R.-B.) war von Giovanni da Gamerra gedichtet und der Vorrede nach von Metastasio revidiert; das Personenverzeichnis lautet:
Lucio Silla, dittatore Sgr. Bassano Morgnoni
(Tenore).
Giunia, figlia di Cajo Sgra. Anna de Amicis-
Mario e promessa Buonsolazzi (Prima
sposa di Cecilio donna).
Cecilio, senatore Sgr. Venanzio Rauzzini
proscritto (Soprano, Primo uomo).
Lucio Cinna, amico di Sgra. Felicità Suarti
Cecilio e nemico occulto (Soprano).
di Lucio Silla, patrizio
Romano
Celia, sorella di Lucio Sgra. Daniella Mienci
Silla (Soprano).
Aufidio, tribuno, amico Sgr. Giuseppe Onofrio
di L. Silla (Tenore).
Der von Silla (Sulla) geächtete Senator Cecilio kehrt heimlich nach Rom zurück und erfährt hier von Cinna, Silla habe ihn für tot erklären lassen, um seine Braut Giunia zu gewinnen. Als diese die Werbung des Diktators zurückweist, beschließt er, sie zu töten. Die Liebenden feiern an düsterer Gräberstätte ein Wiedersehen. Silla versucht mit Hilfe seiner Schwester Celia vergebens bei Giunia doch noch zum Ziel zu gelangen, während Cecilio und Cinna ihn zu ermorden beschließen. Aber der Mordanschlag mißlingt, und die Liebenden entschließen sich, gemeinsam zu sterben. Da erklärt Silla, er wolle, um seinem Herzen Ruhe zu verschaffen, allen verzeihen, vereinigt Cecilio mit Giunia, Cinna mit Celia, legt die Diktatur nieder und gibt Rom die Freiheit zurück.
Man kann es Metastasio nachfühlen, daß ihm dieser Text stark verbesserungsbedürftig vorkam. Auch mit seinen Änderungen gehört er zu den allerschwächsten Erzeugnissen der Metastasianer, widersinnig in der Charakteristik, hilflos in der Führung der Handlung und trocken und steif im äußeren Ausdruck. Vom dramatischen Standpunkt aus war die Komposition dieses Buches von Anfang an hoffnungslos. Allerdings war dieser für Mozart ebensowenig maßgebend wie beim "Mitridate"; man ließ sich damals schon ein gutes Stück dichterischen Unsinnes bieten, wenn nur die Musik ihre Wirkung tat und den Sängern dankbare Aufgaben stellte. Auch dieser Mozartsche "Silla" ist noch ein echtes Kind des neuneapolitanischen Geistes, allerdings merklich fortgeschrittener im Stil und der Richtung verwandt, die in demselben Jahrzehnt Sarti zum Siege geführt hat.
Das beweisen die Chöre und die dem "Mitridate" gegenüber auffallend gesteigerten Akkompagnatos10. Und gleich in dem ersten Chor (Nr. 6) auf dem düsteren Gräberplatz, der seinem Grundgedanken und teilweise auch seiner dichterischen Fassung nach von der ersten Szene in Glucks "Orpheus" abhängig ist, tritt ein neuer Zug hervor, der dem "Mitridate" fehlt und in Mozarts persönlicher Entwicklung begründet ist. Zwischen beiden Opern war der Knabe in die Jünglingsjahre eingetreten. Was ihm damals noch gefehlt hatte, das Empfinden für große tragische Leidenschaft, brach sich jetzt in der Seele des angehenden Mannes mit Urgewalt Bahn, und es ist ganz natürlich, daß er das Neue, was sich in seiner Brust regte, zunächst auch als etwas Außerordentliches, Ungewöhnliches empfand. So durchrieselten ihn bei jener Gräberszene, wo Giunia den Schatten ihres verstorbenen Vaters anruft, einem alten Lieblingsvorwurf der opera seria, alle Schauer des Phantastischen und Dämonischen. Wohl bedient er sich grundsätzlich derselben Mittel wie die italienischen Ombraszenen, von der Es-Dur-Tonart, den Synkopen und Tremolos an bis zu den Geisterlauten in den Bläsern herab, aber daneben stoßen wir in allerhand ungewöhnlichen melodischen und besonders harmonischen Zügen, kühnen und spannenden Übergängen und neuen instrumentalen Wendungen fast Schritt für Tritt auf Zeugnisse einer ungewöhnlich erregten Phantasie, wie sie sich in diesem Grade weder bei den Italienern noch bisher bei Mozart selbst finden. Bei solchen Frühlingsschauern des jungen Genies mochte so manchem Hörer, der sich des "Mitridate" erinnerte, bange werden; schon das einleitende Andante trägt in jeder Hinsicht Ausnahmecharakter.
Im folgenden, ungewöhnlich reich instrumentierten Akkompagnato des Cecilio (Str. Ob. Fag. Corn. Trombe) wechselt Mozart nach seiner bekannten Art zwar wieder fortwährend die Orchestermotive, aber der nächtliche Spuk wird dadurch nur noch gesteigert; bald rauscht der Wind durch die Zypressen, bald tönts wie klagender Geisterruf aus den Grüften herauf, und auch die rasche Wandlung vom Schauder bis zum mühsam verhaltenen Jubel in Cecilios Brust beim Nahen Giunias ist von zwingendem dramatischem Leben. Mit einem echt Mozartschen, knappen Crescendoanlauf führt das Orchester in das Totenlied des Chores hinüber, das nach französischem Vorbild einen Sologesang Giunias einschließt. Auch dieser Chor weist bei aller feierlichen Haltung die Merkmale der Erregung auf: scharfe harmonische und dynamische Akzente und häufig wechselnde Orchestermotive, von denen einige, frei umgebildet, auch in das Solo übergehen. Dieses selbst ist zwar, vom Standpunkte italienischer Melodiebildung aus betrachtet, wieder etwas zu wenig einheitlich und zu unruhig geraten, empfängt aber dafür einen eigentümlichen Reiz durch die Mitwirkung der Instrumente; es ist, als ob Giunia durch die abgerissenen Seufzer, die der tote Vater in den Bläsern aus dem Grabe heraufschickt, immer neuen Antrieb zur Klage gewänne. Prachtvoll ist der Aufschwung am Schluß mit den Sforzatoschlägen des Orchesters und den klagenden Bratschen. Der zweite Chor nimmt den ersten in leicht veränderter Gestalt11 und gesteigerter Leidenschaft wieder auf. Ein Vergleich mit der Trauerszene des "Orpheus" ist freilich nicht am Platze, beide Stücke sind in Ausdruck und Gestalt so verschieden wie nur möglich12. Aus der Szene des "Lucio Silla" aber leuchtet zum ersten Male nicht allein der Dramatiker Mozart hervor, sondern auch der große Meister des Dämonischen, und sie ist um so wertvoller, als es ziemlich lange gedauert hat, bis Mozart dieses Gebiet wieder betrat. Die Fortsetzung mit dem Liebesduett (Nr. 7) fällt wieder ins unverfälscht Italienische zurück; schön sind darin gleich zu Anfang die fast in Schumannscher Schwärmerei kosenden Bläser, der trübe Schatten, den das Wort "ombra" vorauswirft, und auch das helle A-Dur, das nach all den vorangegangenen Schauern befreiend wirkt. Das ganze Stück, das zu zwei Dritteln in einfachem homophonem Zusammensingen der Stimmen besteht, trägt in seinem ausschließlich musikalischen Wesen den unverfälschten italienischen Stempel13, bis auf den stärkeren Anteil der Instrumente und wenige Einzelzüge, wie den echt Mozartschen, spannenden