Wolfgang Amadeus Mozart. Hermann Abert
Oper außerdem noch zwei Chöre enthält (Nr. 17 und 23), verdankt sie dem fortschrittlichen Einfluß Chr. Bachs. Der zweite ist ein Rondo mit Chorrefrain nach französischer Art. Das Terzett Nr. 18 macht den auch von den Italienern unter dem Einfluß der Buffooper öfters unternommenen Versuch, die drei Charaktere einander gegenüberzustellen, den herrischen Silla, den feurigen Cecilio und die von der Liebe bis zum Tode erfüllte Giunia, bei der der Versuch am besten geglückt ist. Gewiß liegt hier ein Fortschritt zum Dramatischen vor, indessen ist diese Art weder von Mozart geschaffen worden, noch führt sie etwa in gerader Linie auf seine spätere große Ensemblekunst zu.
Was die Arienform anbetrifft, so tritt neben die beiden Hauptformen des "Mitridate", die mit um die Hälfte verkürztem da capo und die gedrängte dreiteilige, jene andere, von Chr. Bach geschaffene, die das Dacapo zwar gleichfalls verkürzt, aber ohne den Hauptgedanken dabei wegzulassen14. Daneben taucht noch eine vierte Form auf, und zwar gerade in den bedeutendsten Arien: sie besteht aus zwei annähernd gleich langen, in der Stimmung lebhaft miteinander kontrastierenden Teilen ohne Wiederholung des ersten15. Die Vorbilder dazu sind wohl in der Buffooper und bei Sarti zu suchen. Bezeichnenderweise tragen gerade die Arien der Giunia (4, 22) diese ungewöhnliche Form. Sie sind neben der Gräberszene die eigentlichen Träger jener heißen, leidenschaftlichen Glut; man fühlt es ihnen deutlich an, wie stark diese Heroinengestalt aller ihrer Verstiegenheit zum Trotze die Phantasie des Jünglings entzündet hat. In echt jugendlicher Schwärmerei faßt er sie als ein herbes, hoheitsvolles Bild ohne Gnade auf, ja er ist naiv genug, ihre Arie Nr. 11, deren Text nur dem Gefühl banger Hilflosigkeit Ausdruck verleiht, im hochpathetischen Stile italienischer Racheschwüre zu komponieren, wobei auch die Koloratur noch weit über das Maß des "Mitridate" hinausgeht. Ihren beiden bedeutendsten Arien (16, 22) gehen begleitete Rezitative voraus, denen wiederum der Reichtum an Motiven, aber auch die auffallend düstere und erregte Färbung gemeinsam sind. Die Arie Nr. 16 empfängt ihr eigentümlich unstetes Gepräge durch die fast beständig unterbrochene Gesangslinie und die hartnäckig wiederholte, bohrende Geigenfigur:
die ihre Herkunft aus der Buffooper nicht verleugnet16. Thematisch bringt sie zwar nicht viel Eigenes, denn Wendungen wie
gehören zum Gemeingut der Neapolitaner. Aber merkwürdig ist das zerrissene modulatorische Wesen des Stückes; der plötzlich nach G-Dur hereinplatzende Es-Dur-Akkord z.B. wirkt allein wie ein Donnerschlag. Noch höher erhebt sich die Arie Nr. 22: ein banges, bereits von den Schauern des Todes gestreiftes Andante, in dessen Beginn in den Flöten und Bratschen noch die letzten Seufzer des Geliebten hereintönen, und ein fieberhaft jagendes Allegro, das den Hauptgedanken von Giunias Seele:
mit fast Gluckschem Meißel heraushämmert. Das Orchester, das auch hier wieder eine große Rolle spielt, peitscht es in einem erregten Schlußritornell noch zu Ende.
Noch größere Rücksicht als auf die de Amicis hat Mozart auf Rauzzini, den Darsteller des Cecilio, genommen, und zwar sowohl auf den Umfang der Stimme (a bis as2) als die Art der Bildung. Rauzzini war theoretisch gründlich geschult und selbst Komponist, und Mozart hat ihm deshalb besonders schwierige Aufgaben im Treffen gestellt. Seine dritte Arie enthält Sprünge wie
oder
die keine geringe Sicherheit des Einsatzes bezeugen. Die erste, durch ein ausdrucksvolles Rezitativ eingeleitete Arie (2), die der Vorliebe der Kastraten gemäß mit einem lang ausgehaltenen Tone beginnt, faßt freilich den "tenero affetto" wieder viel zu pathetisch auf17, und umgekehrt ist die dritte (21), die er vor seinem Tode tröstend an Giunia richtet, viel zu leicht und tändelnd geraten. Dagegen nimmt Mozart in der dritten Szene des zweiten Aktes wieder einen bedeutenden Anlauf, und zwar schon in dem einleitenden Secco. Das Akkompagnato "Ah corri", das diesmal auch motivisch einheitlich gestaltet ist, ist mit seinen realistischen Schreien und seiner kühnen Harmonik von packender Wirkung, und ein genialer Zug ist die Übernahme des zuerst in der Vergrößerung auftretenden Motivs von drei Noten in die folgende Arie. Für deren Einheit sind diese immer wieder vom ganzen Orchester wild hereingeschmetterten Schläge ganz wesentlich, denn im übrigen spielt auch sie sich in beständigem Wechsel der Stimmungen und Themen ab.
In den beiden Arien des Silla (5, 13) mußte Mozart auf den ungeübten Morgnoni Rücksicht nehmen. Es fehlen ihnen deshalb alle virtuosen Züge. Aber auch so ist er nicht über den landläufigen Theaterbösewicht hinausgekommen, höchstens daß der wieder echt Mozartisch von Oboen und Violen spannend eingeführte zweite Teil der zweiten Arie seiner Gestalt eine etwas persönlichere Färbung verleiht.
Von Celias Arien zeichnen sich die beiden liedmäßigen (3, 15) durch jenen graziösen und innigen Ton aus, den Mozart für derartige Mädchengestalten liebt. Die beiden anderen (10, 19) sind Durchschnittsarbeit, ebenso wie die Arie des zweiten Tenors Aufidio (8) und die drei Arien des Cinna (1, 12, 20).
So stehen in dieser Oper neben den Merkmalen des neapolitanischen Kulissenstils, der zum Teil noch gesteigert ist, Spuren eines ihm gänzlich fremden Geistes. Dazu gehört außer jenem leidenschaftlichen, revolutionären Ton18 auch die Rolle des Orchesters. Das rein gesangliche Ideal der Italiener ist im "Lucio Silla" noch weniger erreicht als im "Mitridate", denn zwischen beiden hatte sich Mozart in Salzburg abermals vorwiegend der Instrumentalmusik zugewandt. Sein Opernorchester ist zwar ausdrucks-, aber auch anspruchsvoller geworden, es begleitet und erläutert die Vorgänge wohl manchmal in sehr poetischer Weise, aber es drückt ebensooft auf den Gesang, namentlich da, wo ihm Mozart nach seiner bekannten Art statt der Verarbeitung der einmal gewählten Motive immer wieder neue Episoden anvertraut. Auch die Gesangsmelodik selbst ist stärker instrumental gefärbt als im "Mitridate". Das innere Leben des Orchesterkörpers wird ebenfalls mannigfaltiger: die zweiten Geigen gehen den ersten gegenüber ihren eigenen Weg – wiederum ein Erbstück Chr. Bachs; die Bratschen lösen sich vom Basse los, treten häufig geteilt auf, und namentlich die Bläser überraschen oft nicht allein durch selbständige, ausdrucksvolle Motive, sondern auch durch eigentümliche Klangwirkungen. Jener phantastische Geist offenbart sich am deutlichsten in den Zwischenspielen, aber auch die meist großangelegten, mit gegensätzlichen Themen19 arbeitenden Vorspiele gehen im Durchschnitt über das italienische Maß hinaus. Auf die eigentümliche Bedeutung der Akkompagnatos, die hier häufiger auftreten als in allen anderen Mozartschen Opern, wurde bereits hingewiesen. Die Seccorezitative sind dagegen ungleich. Man glaubt förmlich die Stellen zu erkennen, an denen Mozart Feuer fing: da erhebt er sich plötzlich aus konventionellen, wenn auch stets gut deklamierten Partien zu lebendigem dramatischem Schwung, an dem wiederum die Harmonik einen großen Anteil hat (vgl. bes. die zweite und neunte Szene des zweiten und die vierte Szene des dritten Aktes).
Die Sinfonie entspricht in ihrem ersten Allegro ihrer Vorgängerin bis in das neue Thema der Durchführung hinein. Der Mittelteil des dreiteiligen Andantes aber bringt, zwar nicht motivisch, aber dem Geiste nach, einen Hinweis auf das Folgende in jener halb unheimlichen, halb schmerzlichen Mollpartie (P.S. 8), in der sich die Leidenschaft ganz überraschend Luft macht; charakteristisch sind auch hier die scharfen dynamischen Akzente. Der letzte Satz ist ein sprühendes Rondo mit geistvoll variiertem Thema.
Die beiden 1771 und 1772 komponierten "dramatischen Serenaden" (azioni teatrali) sind Gratulationsfestspiele in dramatischer Form, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert von Fürsten, vom Adel und schließlich auch vom Bürgertum (man denke z.B. an S. Bachs "Zufriedengestellten Äolus20") zu Hunderten für allerhand Feste bei den Komponisten bestellt wurden. Im Mittelpunkt stand natürlich die Person des Gefeierten, dem dabei in mythologischer, allegorischer und arkadischer Einkleidung mehr oder weniger plumpe Schmeicheleien dargebracht wurden. Der äußere