Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
setzten sie ihren Weg nach der Rue Bourdonnais fort, wo sie zum erstenmal seit ihrer Trennung mit Cäsar zusammen aßen. Es war eine traurige Mahlzeit. Jeder hatte Zeit zum Nachdenken gehabt, sich den Umfang der übernommenen Pflichten klargemacht und seine Standhaftigkeit geprüft. Sie fühlten sich alle drei wie Matrosen, die bereit sind, mit dem Unwetter zu kämpfen, ohne sich die Gefahr zu verhehlen. Birotteau faßte wieder Mut, als er vernahm, mit welchem Eifer hohe Persönlichkeiten für ihn gesorgt hatten; aber er mußte weinen, als er erfuhr, welche Stellung seine Tochter annehmen sollte. Dann drückte er seiner Frau die Hand, als er sah, mit welcher Tapferkeit sie wieder anfangen wollte zu arbeiten. Dem Onkel Pillerault wurden zum letztenmal in seinem Leben die Augen naß bei dem Anblick des rührenden Bildes dieser drei miteinander vereinigten und verschmolzenen Wesen, von denen das schwächste und niedergeschlagenste, Birotteau, die Hand erhob und sagte: »Wir wollen wieder hoffen!«
»Der Ersparnis halber«, sagte der Onkel, »wirst du bei mir bleiben und mein Zimmer und mein Brot mit mir teilen. Ich habe mich schon lange so allein gelangweilt, du wirst mir mein armes Kind, das ich verloren habe, ersetzen. Von hier hast du nach der Rue de l’Oratoire zu deiner Kasse auch nur ein paar Schritte.«
»Gütiger Gott,« rief Birotteau aus, »mitten im Unwetter leitet mich noch ein freundlicher Stern.«
Wenn der Unglückliche sich in sein Schicksal ergeben hat, dann hat er seinem Unglück eine Grenze gesetzt. Da Birotteaus Sturz nunmehr eine vollzogene Tatsache war, sträubte er sich nicht mehr dagegen und gewann seine Kraft wieder zurück. Ein Kaufmann, der Konkurs angemeldet hat, dürfte sich eigentlich mit nichts anderem beschäftigen, als eine Oase in Frankreich oder im Auslande aufzusuchen, um dort zu leben und sich mit nichts zu befassen, wie ein Kind, das er ja jetzt ist; denn das Gesetz erklärt ihn für minorenn und für unfähig, irgendeinen öffentlich- oder privatrechtlichen Akt zu vollziehen. In Wirklichkeit geschieht das jedoch nicht so. Bevor er sich wieder sehen läßt, wartet er einen Geleitsbrief ab, dessen Ausstellung noch niemals von einem Konkursverwalter oder Gläubiger verweigert worden ist, denn wenn er ohne dieses »exeat« betroffen würde, müßte er verhaftet werden, während er im Besitz dieses Schutzbriefes sich als Parlamentär auf feindlichem Gebiet bewegen kann, nicht aus Neugierde, sondern um den dem Konkursschuldner feindlichen Gesetzesbestimmungen entgegenzuwirken. Jedes Gesetz, das in das Privateigentum eingreift, muß notwendigerweise die Fähigkeit, Betrügereien zu ersinnen, ausgiebig entwickeln. Das Denken des Bankrotteurs wie das eines jeden, dessen Interessen durch irgendein Gesetz geschädigt werden, richtet sich darauf, es in bezug auf sich unwirksam zu machen. Dieser Zustand des bürgerlichen Todes, in dem der in Konkurs Geratene wie eine Schmetterlingspuppe verharren muß, währt etwa drei Monate, welche Zeit für die Formalitäten erforderlich ist, bevor man zu der Versammlung schreitet, in der die Gläubiger und der Schuldner einen Friedensvertrag schließen, eine Transaktion, die der »Vergleich« genannt wird. Diese Bezeichnung zeigt deutlich genug, daß nach dem Sturm, der durch die gewaltsam verletzten Interessen erregt war, nunmehr wieder Einvernehmen herrscht.
Zur Prüfung der Forderungen ernennt das Handelsgericht nun sofort einen Konkursverwalter, der über die Interessen der Masse der unbekannten Gläubiger zu wachen und den Schuldner gegen vexatorische Angriffe seiner gereizten Gläubiger zu schützen hat; eine Doppelrolle, die zu spielen vortrefflich wäre, wenn die Konkursverwalter die Zeit dazu hätten. Der Konkursverwalter überträgt jetzt einem Agenten das Recht, die Hand auf das Geschäft, die Immobilien, die Waren zu legen und die in der Bilanz aufgeführten Aktiva nachzuprüfen; endlich erläßt der Gerichtsschreiber eine Aufforderung an alle Gläubiger, die mit dem Trompetenton der Annonce in den Zeitungen bekanntgemacht wird. Die angeblichen oder wirklichen Gläubiger werden dadurch verpflichtet, eiligst zusammenzutreten und die provisorischen Syndici zu ernennen, die an die Stelle des Agenten treten, sich die Schuhe des Schuldners anziehen, durch eine Fiktion des Gesetzes der Kridar1 selber werden, um nun alles zu liquidieren, zu verkaufen, über alles Verträge abzuschließen, kurz, alles zugunsten der Gläubiger zu Geld zu machen, wenn sich der Schuldner nicht widersetzt. Die Mehrzahl der Pariser Kridare verständigt sich mit den provisorischen Syndici, und zwar aus folgendem Grunde: Die Ernennung eines oder mehrerer definitiver Syndici ist ein Akt leidenschaftlicher Erregung seitens der rachebedürftigen, betrogenen, verhöhnten, verspotteten, gefoppten, bestohlenen und getäuschten Gläubiger. Obwohl nun die Gläubiger ja ziemlich allgemein getäuscht, bestohlen, gefoppt, verhöhnt und betrogen werden, so gibt es doch in Paris innerhalb der Kaufmannschaft keine Aufregung, die länger als drei Monate andauerte. Im Geschäftsleben werden Handelswechsel, da man stets auf die Einlösung wartet, nur auf drei Monate ausgestellt. Nach drei Monaten schlafen die von allem Hinundherrennen, wie es ein Konkurs mit sich bringt, todmüde gewordenen Gläubiger an der Seite ihrer vortrefflichen kleinen Frauen. Hiernach werden die Ausländer begreifen, wie sehr in Frankreich das Provisorische definitiv ist; von tausend provisorischen Syndici werden nicht fünf zu definitiven. Man begreift also, weshalb sich der durch einen Konkurs hervorgerufene Haß legen muß. Aber für diejenigen, die nicht so glücklich sind, Kaufleute zu sein, muß doch das dramatische Schauspiel eines Konkurses näher erklärt werden, damit sie verstehen, wie er in Paris zu einer ungeheuerlichen gesetzlichen Farce wird, und wie Cäsars Fallissement eine außergewöhnliche Ausnahme bildete.
Dieses schöne kaufmännische Drama hat drei wohl zu unterscheidende Akte: erster Akt: der Agent, zweiter Akt: die Syndici, dritter Akt: der Vergleich. Es gibt hier, wie bei allen Theaterstücken, ein doppeltes Schauspiel: die Inszenierung für das Publikum und die Arbeit hinter der Szene, die Vorstellung, wie sie das Publikum sieht, und wie sie von den Kulissen aus gesehen erscheint. Hinter den Kulissen befinden sich der Schuldner und sein Anwalt, der Advokat der Kaufleute, die Syndici, der Agent und endlich der Konkursverwalter. Niemand außerhalb von Paris hat eine Ahnung davon und niemandem in Paris ist es unbekannt, daß ein Richter beim Handelsgericht der eigenartigste Beamte ist, den eine Gesellschaft hatte erdenken können. Dieser Richter muß befürchten, daß sich die Justiz jeden Augenblick gegen ihn selbst wenden kann. Paris hat das Schauspiel erlebt, daß der Präsident eines Handelsgerichts genötigt war, Konkurs anzumelden. Anstatt daß man einen alten Kaufmann, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat