Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
erweisen möge, Dich bei guter Gesundheit zu erhalten, Dich, Deine Frau und Deine Tochter; ich wünsche Euch allen Geduld und Mut bei allen Widerwärtigkeiten.
Franz Birotteau,
Priester, Vikar an der Kathedral- und Parochialkirche von Saint-Gatien in Tours.«
»Tausend Franken!« sagte Frau Birotteau mißmutig.
»Bewahre sie auf,« erwiderte Cäsar ernst, »er besitzt nicht mehr. Im übrigen gehören sie unserer Tochter und sollen uns zum Lebensunterhalt dienen, ohne daß wir etwas von unseren Gläubigern zu erbitten brauchen.«
»Dann werden sie denken, daß du ihnen erhebliche Beträge vorenthalten hast.«
»Ich werde ihnen den Brief zeigen.«
»Sie werden ihn für bestellte Arbeit erklären.«
»Mein Gott, mein Gott!« rief Birotteau erschrocken aus. »So habe ich auch über arme Menschen gedacht, die sicherlich in derselben Lage waren, in der ich mich befinde.«
Sehr in Sorge über Cäsars Zustand saßen Mutter und Tochter, mit Handarbeiten beschäftigt, in tiefem Schweigen bei ihm. Gegen zwei Uhr morgens öffnete Popinot leise die Tür des Salons und winkte Frau Birotteau, daß sie hinunter kommen solle. Als er seine Nichte hereintreten sah, nahm der Onkel seine Brille ab.
»Es gibt noch eine Hoffnung, mein Kind,« sagte er, »es ist noch nicht alles verloren; aber dein Mann würde die schwankenden Chancen der erforderlichen Unterhandlungen nicht aushalten; deshalb werden Anselm und ich den Versuch unternehmen. Verlaß morgen den Laden nicht und notiere alle präsentierten Wechsel, wir haben bis vier Uhr Zeit. Mein Plan ist folgender: Weder von Herrn Ragon noch von mir habt ihr etwas zu befürchten. Nehmen wir jetzt an, daß eure bei Roguin deponiert gewesenen hunderttausend Franken den Terrainverkäufern würden ausgezahlt worden sein, so hättet ihr sie ebensowenig gehabt, wie ihr sie jetzt habt. Ihr habt jedenfalls Wechsel über hundertvierzigtausend Franken ausgestellt und Claparon gegeben, die ihr in jedem Falle einzulösen habt. Es ist also nicht der Bankrott Roguins, der euch zugrunde richtet. Um euren Verpflichtungen nachzukommen, habt ihr vierzigtausend Franken, mit denen ihr früher oder später eure Fabrik beleihen lassen könnt, und sechzigtausend Franken Wechsel von Popinot. Man könnte also den Kampf versuchen, denn später könnt ihr ein Darlehen auf die Terrains an der Madeleine aufnehmen. Wenn daher euer Hauptgläubiger bereit wäre, euch zu helfen, so will ich mein Vermögen hergeben, meine Renten verkaufen und ohne Einkommen sein. Popinot wird zwischen Leben und Sterben schweben und euch kann die geringste geschäftliche Schwierigkeit umwerfen. Aber das Öl wird unzweifelhaft großen Gewinn abwerfen. Popinot und ich sind übereingekommen, daß wir euch bei diesem Kampf unterstützen wollen. Ach, ich will gern trocknes Brot essen, wenn ich einen Rettungsschimmer am Horizont erblicken könnte. Aber alles hängt von Gigonnet und Claparon und Genossen ab. Popinot und ich werden zwischen sieben und acht Uhr zu Gigonnet gehen und in Erfahrung bringen, was wir zu erwarten haben.«
Konstanze fiel erschüttert dem Onkel um den Hals und konnte nichts hervorbringen als Tränen und Schluchzen. Weder Popinot noch Pillerault konnten ahnen, daß Bidault, genannt Gigonnet, und Claparon nur du Tillet in doppelter Gestalt waren, und daß du Tillet durchaus unter »Vermischtem« die furchtbare Notiz lesen wollte:
»Durch Urteil des Handelsgerichts wurde Herr Cäsar Birotteau, Parfümhändler, wohnhaft in Paris, Rue Saint-Honoré Nr. 397, für bankrott erklärt und die Eröffnung des Konkurses auf den 16. Januar 1819 festgesetzt. Kommissarischer Richter: Herr Gobenheim-Keller, Agent: Herr Molineux.«
Anselm und Pillerault arbeiteten an den Geschäftsbüchern Cäsars bis zum Morgen. Um acht Uhr begaben sich die beiden heldenmütigen Freunde, der eine ein alter Soldat, der andere ein junger Unterleutnant, die die fürchterliche Angst derjenigen, welche die Treppe zu Bidault, genannt Gigonnet, hinaufsteigen mußten, nur in Vertretung kennenlernen sollten, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, nach der Rue Grenétat. Beiden war schmerzlich zumute. Wiederholt strich sich Pillerault über die Stirn.
Die Rue Grenétat ist eine Straße, deren sämtliche Häuser, die eine Menge von Geschäften enthalten, einen abschreckenden Anblick gewähren. Die Gebäude sind schauderhaft. Überall zeigt sich die häßliche Unsauberkeit der Fabriken. Der alte Gigonnet bewohnte die dritte Etage eines Hauses mit lauter Schiebefenstern und kleinen schmutzigen Scheiben. Die Treppe begann direkt an der Straße, die Portierloge befand sich in einem Verschlage im Zwischengeschoß, der nur von der Treppe her Licht erhielt. Abgesehen von Gigonnet betrieben sämtliche Mieter ein Gewerbe. Beständig gingen Arbeiter aus und ein. Die Stufen waren mit einer Schicht harten oder weichen Schmutzes, je nach dem Wetter, bedeckt, ein Unflat, der sich dort ständig erhielt. Auf jedem Absatz der stinkenden Treppe waren die Namen der Gewerbetreibenden mit vergoldeten Buchstaben auf rotlackiertem Blech nebst Proben ihrer Meisterwerke angebracht. Den größten Teil des Tages gewährten die offen stehenden Türen einen Einblick in die eigenartige Mischung von Werkstatt und Haushalt, aus der ein unglaubliches Gelärme, Geschrei, Gesinge und Gepfeife hervordrang, das an die Stunde der Nachmittagsfütterung der Tiere im Zoologischen Garten erinnerte. Im ersten Stock wurden in einem ekelhaften Loch die schönsten Hosenträger von Paris hergestellt; im zweiten, inmitten von widerwärtigem Schmutz, die elegantesten Kartons, die zu Neujahr die Schaufenster der Boulevards und des Palais Royal zieren. Gigonnet starb, im Besitze eines Vermögens von einer Million achthunderttausend Franken, in der dritten Etage dieses Hauses, ohne daß ihn irgend etwas hätte bewegen können, sie zu verlassen, trotz des Anerbietens der Frau Saillard, seiner Nichte, ihm eine Wohnung in einem Hause des Palais Royal zur Verfügung zu stellen.
»Mut«, sagte Pillerault, als er an dem Rehfuß zog, der an einer Schnur an der grauen sauberen Tür Gigonnets hing.
Gigonnet öffnete selbst. Die beiden Beschützer des auf dem Schlachtfeld der Bankrotteure kämpfenden Parfümhändlers schritten zuerst durch ein nüchternes, kaltes Zimmer ohne Vorhänge an den Fenstern. Dann nahmen alle drei im zweiten Zimmer Platz, der Wucherer vor einem Kamin voll Asche, in der sich Holz gegen das Feuer wehrte. Popinot wurde eiskalt beim Anblick der grünen Mappen des Wucherers und der mönchischen Kahlheit dieses Zimmers mit seiner Kellerluft. Er betrachtete mit starrem Ausdruck die bläuliche Tapete mit dreifarbigem Blumenmuster, mit der die Wände seit zwanzig Jahren