Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
Lebens hinter sich haben, die Muster von Ehrlichkeit sind, um der Erhaltung ihrer Ehre willen wie die wildesten Spieler; sie sind zu allem fähig; sie verkaufen ihre Frau, sie verhandeln ihre Töchter, sie betrügen ihre Freunde, sie versetzen fremdes Eigentum; sie gehen spielen, sie werden zu Komödianten und Lügnern; sie verstehen, einem etwas vorzuweinen. Ich habe da die unglaublichsten Sachen erlebt. Du bist selbst Zeuge gewesen, wie harmlos sich Roguin zu geben verstand, dem man das Abendmahl ohne Beichte gereicht hätte. Ich will solche scharfen Schlüsse nicht bezüglich Birotteaus ziehen, ich halte ihn für einen Ehrenmann; sollte er aber etwas von dir verlangen, was den Vorschriften des Handelsgesetzbuchs widerspricht, etwa Gefälligkeitsakzepte auszustellen oder dich auf eine Wechselschieberei einzulassen, die meines Erachtens der Anfang einer Betrügerei ist, denn das ist Falschmünzerei in Papiergeld, so versprich mir, nichts zu unterschreiben, ohne mich vorher um Rat gefragt zu haben. Überlege dir, daß, auch wenn du seine Tochter liebst, es nicht nötig ist, gerade im Interesse deiner Liebe, deine Zukunft zu vernichten. Wenn Herr Birotteau fallen muß, warum sollt ihr beide fallen? Würde das nicht bedeuten, daß einer dem andern alle Aussichten vernichtet, die dein Geschäft hat, das einmal deine letzte Zuflucht sein wird?«
»Ich danke dir, lieber Onkel; ich werde mir das gesagt sein lassen«, sagte Popinot, dem der herzzerreißende Aufschrei seines Prinzipals jetzt erklärlich erschien.
Der Händler mit seinen und andern Ölen kehrte mit umwölkter Stirn in seinen dunklen Laden zurück. Birotteau bemerkte die Veränderung.
»Erweisen Sie mir die Ehre, mit mir in mein Zimmer hinaufzukommen, wir können dort besser reden als hier. Wenn die Kommis auch sehr beschäftigt sind, so könnten sie uns doch hören.«
Birotteau folgte Popinot, von einer Angst gefoltert, wie sie der Verurteilte in der Erwartung der Kassation des Urteils oder der Zurückweisung seiner Berufung empfindet.
»Mein teurer Wohltäter,« sagte Popinot, »Sie dürfen nicht an meiner Ergebenheit für Sie zweifeln, die ist blind. Gestatten Sie mir nur die Frage, ob diese Summe Sie auch wirklich retten, oder ob sie nur die Katastrophe aufschieben kann; wenn das zweite der Fall ist, weshalb wollen Sie mich mit hineinziehen? Ich soll Dreimonats-Wechsel ausstellen. Ja, aber sie in drei Monaten einzulösen, bin ich sicherlich nicht imstande.«
Birotteau wurde blaß, erhob sich feierlich und blickte Popinot ins Gesicht.
Popinot rief entsetzt aus: »Wenn Sie es wollen, will ich es tun.«
»Undankbarer!« sagte der Parfümhändler, indem er dieses Wort mit dem Rest seiner Kraft Anselm ins Gesicht schleuderte, als ob er ihn mit dem Stempel der Schande zeichnen wollte.
Er ging zur Tür und entfernte sich. Popinot, als er von der Aufregung, in die ihn dieses fürchterliche Wort versetzt hatte, wieder zu sich gekommen war, stürzte die Treppe hinab, rannte auf die Straße, aber der Parfümhändler war nirgends mehr zu sehen. Cäsarines Geliebter hörte immer noch den furchtbaren Urteilsspruch und sah beständig das entstellte Gesicht des armen Cäsar vor sich, und so ging er herum wie Hamlet, mit einem entsetzlichen Gespenst an seiner Seite.
Birotteau taumelte durch die Straßen dieses Viertels wie ein Betrunkener. Schließlich befand er sich am Kai, ging an diesem entlang und kam so nach Sèvres, wo er die Nacht in einer Herberge verbrachte, unempfindlich gegen den Schmerz geworden; seine Frau wagte, trotz ihrer Angst, nicht, ihn suchen zu lassen. Bei solchem Anlaß kann ein unvorsichtiger Alarm verhängnisvoll werden. Die kluge Konstanze opferte ihre Unruhe dem Rufe der Firma; sie wartete die ganze Nacht auf ihn unter Weinen und Beten. War Cäsar tot? Oder war er, auf der Spur einer letzten Aussicht, von Paris weggefahren? Am andern Morgen tat sie, als seien ihr die Gründe für seine Abwesenheit bekannt; sie ließ aber ihren Onkel holen und bat ihn, nach der Morgue zu gehen, als sie sah, daß Birotteau um fünf Uhr noch nicht zurückgekehrt war. Während der ganzen Zeit saß die tapfere Frau in ihrem Kontor, ihre Tochter mit einer Stickerei neben sich. Beide sprachen mit gefaßtem Gesicht, weder traurig noch fröhlich, mit der Kundschaft. Als Pillerault zurückkehrte, brachte er Cäsar mit sich. Er hatte ihn, als er von der Börse zurückkam, im Palais Royal getroffen, wie er noch zögerte, in den Spielsaal zu gehen. Dieser Tag war der vierzehnte. Bei Tisch konnte Cäsar nichts essen. Sein gewaltsam zusammengepreßter Magen verweigerte die Aufnahme von Speise. Der Abend war wiederum furchtbar. Der Kaufmann machte zum hundertsten Male den fürchterlichen Zustand zwischen Hoffnung und Verzweiflung durch, der die Seele die ganze Skala freudiger Empfindungen hinaufführt, um sie dann bis zu dem Gefühl des grimmigsten Schmerzes hinabzudrücken, und der damit solche schwache Naturen zerstört. Da erschien Derville, Birotteaus Anwalt, und stürzte in den prächtigen Salon, in dem Konstanze ihren armen Mann mit aller Gewalt festhielt, der sich im fünften Stock schlafen legen wollte; »damit ich nicht die Zeugnisse meiner Torheit zu sehen brauche«, sagte er.
»Ihr Prozeß ist gewonnen«, rief Derville.
Bei diesen Worten belebte sich Cäsars starres Gesicht, aber seine Freude erschreckte den Onkel Pillerault und Derville. Die Frauen entfernten sich betrübt, um sich in Cäsarines Zimmer auszuweinen.
»Dann kann ich also Geld aufnehmen«, rief der Parfümhändler.
»Das wäre unvorsichtig,« sagte Derville; »die Gegner appellieren, der Gerichtshof kann den Spruch umstoßen; aber in einem Monat werden wir das Urteil haben.«
»In einem Monat!«
Cäsar verfiel in einen Erschöpfungszustand, aus dem ihn niemand aufzurütteln versuchte. Diese Art erneuter Starrsucht, bei der der Körper lebte und litt, während die Geistestätigkeit aussetzte, diese vom Geschick vergönnte Gnadenfrist, wurde von Konstanze, Cäsarine, Pillerault und Derville als eine himmlische Wohltat angesehen, und ihre Ansicht war richtig. Birotteau konnte so die Erregung der Nacht, die ihn sonst aufgerieben hätte, aushalten. Er lag auf einem Lehnsessel in dem einen Kaminwinkel; in dem andern saß seine Frau, die ihn aufmerksam beobachtete, mit einem zärtlichen Lächeln auf den Lippen, jenem Lächeln, welches beweist, daß die Frauen der Natur der Engel näher verwandt sind als die Männer, und in das sie eine Mischung von unendlicher Zärtlichkeit und tiefstem Mitgefühl zu legen wissen, ein Geheimnis, das nur die Engel besitzen, die einem zuweilen in den Träumen erscheinen, mit denen die Vorsehung in langen Zwischenräumen die Menschheit beglückt. Cäsarine saß auf einem kleinen Taburett zu Füßen ihrer Mutter, berührte von Zeit