Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac
ihm das Abenteuer eines Volksvertreters in Marseille zu erzählen, der in eine Schauspielerin verliebt war, die die Rolle der »Schönen Arsenie« gab und von dem royalistisch gesinnten Parterre ausgepfiffen wurde.
»Er steht auf,« sagte Claparon, »und stellt sich in seiner Loge vorn hin: Man verhafte den, der gepfiffen hat! … Ist es eine Frau gewesen, so nehme ich sie auf mich, ist es ein Mann gewesen, so wird sich das weitere finden; ist es weder das eine noch das andere gewesen, so soll es das Donnerwetter holen! … Wissen Sie, wie die Sache ausgegangen ist?«
»Adieu, Herr Claparon«, sagte Birotteau.
»Sie müssen noch mal zu mir kommen,« sagte Claparon darauf, »das erste Wechselchen von Cayron ist mit Protest zurückgekommen, und da ich ihn indossiert habe, mußte ich ihn einlösen. Ich werde deshalb zu Ihnen schicken, erst kommen die Geschäfte.«
Diese kühle und heuchlerische Liebenswürdigkeit griff Birotteau ebenso ans Herz wie die Härte Kellers und der deutsche Spott Nucingens. Die Vertraulichkeit dieses Menschen und seine vom Champagner herausgelockten grotesken Konfidenzen hatten den ehrenhaften Parfümhändler so niedergedrückt, daß er aus dem Zimmer eines verdächtigen Wucherers herauszukommen glaubte. Er ging die Treppe hinunter und befand sich auf der Straße, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Er ging die Boulevards entlang, erreichte die Rue Saint-Denis, erinnerte sich Molineux’ und begab sich in den Holländischen Hof. Hier stieg er die schmutzige Wendeltreppe hinauf, die er noch kürzlich so siegesgewiß und stolz hinaufgegangen war. Er dachte an den hartnäckigen Geiz Molineux’ und empfand es peinlich, ihn um etwas bitten zu müssen. Wie bei seinem ersten Besuche fand er den Hausbesitzer am Kaminwinkel sitzend vor, aber diesmal nach dem Frühstück; Birotteau brachte sein Anliegen vor.
»Einen Wechsel über zwölfhundert Franken soll ich prolongieren?« sagte Molineux und machte ein spöttisches, ungläubiges Gesicht. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Herr Birotteau. Wenn Sie diesen Wechsel über zwölfhundert Franken am fünfzehnten nicht einlösen können, dann werden Sie mir wohl auch meine Miete nicht zahlen? Ah, das würde mir leid tun, denn in Geldsachen verstehe ich keinen Spaß, mein Einkommen besteht ja aus dem Mietzins. Wie sollte ich sonst meinen Verpflichtungen nachkommen? Sie, als Kaufmann, können solch einem vernünftigen Grundsatz doch nur zustimmen. Geld nimmt keine Rücksicht auf Personen; Geld hat keine Ohren, Geld hat kein Herz. Der Winter ist hart und das Holz ist schon wieder teurer geworden. Wenn Sie am fünfzehnten nicht zahlen, bekommen Sie am sechzehnten um zwölf Uhr eine kleine Vorladung. Oh, Ihr Gerichtsvollzieher, der gute Mitral, ist auch der meinige, er wird Ihnen die Vorladung im Kuvert zustellen mit aller Rücksicht, die er Ihrer hohen Stellung schuldig ist.«
»Herr Molineux, ich habe noch niemals eine Vorladung in eigener Angelegenheit erhalten«, sagte Birotteau.
»Jede Sache hat einmal ihren Anfang«, sagte Molineux.
Bestürzt über diese Roheit des kleinen Alten war der Parfümhändler völlig niedergeschlagen und in seinen Ohren erklang die Totenglocke des Bankrotts. Und jeder Schlag erinnerte ihn an die Aussprüche, die sein erbarmungsloses Rechtsgefühl ihn über die Bankrotter hatte tun lassen. Mit feurigen Zügen preßten sich diese Grundsätze in die weiche Masse seines Gehirns ein.
»Nebenbei bemerkt,« sagte Molineux, »Sie haben vergessen, auf die Wechsel zu setzen: ›Valuta in Miete erhalten‹, wodurch mein Vorrecht gesichert wäre.«
»Meine Stellung verbietet mir, irgend etwas zu tun, was meine Gläubiger schädigen könnte«, sagte der Parfümhändler, den der Blick in den Abgrund, der sich vor ihm auftat, ganz stumpf gemacht hatte.
»Schön, Herr Birotteau, sehr schön; ich dachte, ich wüßte in Mietsachen mit allem, was die Herren Mieter betrifft, Bescheid. Aber jetzt habe ich von Ihnen gelernt, daß man niemals Wechsel in Zahlung nehmen soll. Aber ich werde klagen, denn Ihre Antwort beweist zur Genüge, daß Ihre Unterschrift für Sie keine Bedeutung mehr hat. Dieser Fall ist von Interesse für alle Hausbesitzer in Paris.«
Als er wegging, war Birotteau des Lebens überdrüssig. Es liegt in der Natur solcher zarten, weichen Seelen, daß sie sich von der ersten Abweisung abschrecken lassen, ebenso wie der erste Erfolg ihnen Mut macht. Cäsar setzte seine Hoffnung nur noch auf den kleinen Popinot, an den er natürlich denken mußte, als er sich an dem Marché des Innocents befand.
»Der arme Junge! Wer hätte mir das gesagt, als ich ihm vor sechs Wochen in den Tuilerien den neuen Weg eröffnete!«
Es war ungefähr vier Uhr, die Zeit, wo die Richter den Justizpalast verlassen. Zufällig war der Untersuchungsrichter zu seinem Neffen gegangen. Dieser Richter, einer der scharfsinnigsten Psychologen, besaß eine Art zweiten Gesichts, das ihm gestattete, die verborgensten Absichten wahrzunehmen, den Grund der verschiedensten menschlichen Handlungen, den Keim eines Verbrechens, die Wurzel eines Delikts zu erkennen; er betrachtete Birotteau, ohne daß dieser es merkte. Der Parfümhändler, dem es unangenehm war, den Onkel bei dem Neffen vorzufinden, erschien ihm ängstlich, besorgt, nachdenklich. Der kleine Popinot, immer stark beschäftigt, die Feder hinter dem Ohr, war, wie stets, ganz Hingebung gegen den Vater seiner Cäsarine. Hinter den alltäglichen Redensarten, die Cäsar seinem Sozius gegenüber machte, schien sich dem Richter ein wichtiges Anliegen zu verstecken. Anstatt wegzugehen, blieb der schlaue Beamte bei seinem Neffen, trotz dessen Wunsch, ihn loszuwerden, zurück, denn er hatte sich gedacht, daß der Parfümhändler versuchen würde, sich seiner zu entledigen, indem er selber aufbrach. Als Birotteau fort war, ging auch der Richter, aber er sah, wie Birotteau in dem Teil der Rue des Cinq-Diamants, der zu der Rue Aubry-le-Boucher führt, auf und ab ging. Dieser unerhebliche Umstand erregte bei dem alten Popinot Verdacht über Cäsars Absichten; er verließ daher die Rue des Lombards, und als er sah, wie der Parfümhändler wieder zu Anselm hineinging, kehrte auch er schnell dorthin zurück.
»Mein lieber Popinot,« hatte Cäsar zu seinem Sozius gesagt, »ich komme, dich um einen Dienst zu bitten.«
»Was darf ich für Sie tun?« sagte Popinot mit hingebendem Eifer.
»Ach, du gibst mir das Leben wieder«, rief der arme Mann aus, beglückt durch diese Herzenswärme, die ihm mitten in der eisigen Atmosphäre, in der er sich seit drei Wochen bewegte, entgegenstrahlte.
»Du sollst mir fünfzigtausend Franken auf meinen Gewinnanteil vorschießen, über die Zahlung werden wir uns verständigen.«