Das späte Glück. Dietmar Grieser

Das späte Glück - Dietmar Grieser


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ja sogar an der Fassade des Hauses herumturnt.

      Ausdrücklich nimmt der Dreiundsechzigjährige das Recht auf »Kindereien« für sich in Anspruch, und weilt Judith, mit der er sich in ihrem Bayreuther Versteck vergnügt, außer Landes, so überschüttet er sie nicht nur mit glühenden Liebesbriefen, sondern auch mit den absonderlichsten Wünschen. Einmal soll sie ihm aus Paris Riechkissen schicken, die er sich zwischen die Leibwäsche legen will, um von ihrem Duft inspiriert zu werden, dann wiederum verlangt er nach einer geblümten Decke für seine Chaiselongue, der er den Namen »Judith« gibt.

      Beide Liebenden sind verheiratet: sie mit dem Schriftsteller Catulle Mendès, er seit 1870 mit der vierundzwanzig Jahre jüngeren Cosima von Bülow. Die Briefe, die man miteinander wechselt, gehen also über einen Vertrauensmann. Erst, als die Beziehung der beiden Ehebrecher abkühlt, wird Cosima in die »amour fou« eingeweiht und schließlich sogar selber mit der Fortführung der Korrespondenz betraut.

      In die Rolle der stillen Dulderin, die die Affären ihres exzentrischen Mannes wortlos hinnimmt und den Kummer über dessen Seitensprünge in sich hineinfrißt, muß Frau Wagner freilich erst hineinwachsen. »Ich leide, und ich verschwinde, um mein Leiden zu verbergen!« schreibt sie in ihr Tagebuch. Was ihr dabei hilft, ist ihr eigenes schlechtes Gewissen: Als streng erzogene Katholikin erblickt Cosima in ihren Seelenqualen die gerechte Strafe dafür, daß sie selber ein Kind der Sünde und auch ihre Beziehung zu Wagner anfänglich bigamistischer Natur ist.

      Jetzt, wo der Meister die Arbeit an seinem »Welt-Abschiedswerk«, an der Partitur des Bühnenweihfestspiels »Parsifal« aufgenommen hat, kann Cosima Wagner hoffen, daß es mit den außerehelichen Eskapaden ihres Herzallerliebsten vielleicht doch ein Ende hat. Man verbringt glückliche Tage miteinander, die glücklichsten seit Jahren, und kein Mensch kann ahnen, daß ausgerechnet die Fabel vom »reinen Toren« Parsifal, der sich den Versuchungen der »Frauenminne« mit allen Mitteln widersetzt, bei Wagner neue amouröse Verstrickungen auslöst. Verstrickungen, die sogar sein nahes Ende beschleunigen werden …

      Parsifal, zweiter Aufzug. Wagners Bühnenheld betritt Klingsors Zaubergarten, lustvoll erwartet von einer Schar verführerischer Blumenmädchen. Von allen Seiten stürzen sie herbei; vom Waffenlärm aufgeschreckt, erwachen sie aus ihrem Schlaf und sehen sich von ihren zur Verteidigung des Schlosses ausrückenden Geliebten verlassen. Da ist ihnen der schöne Jüngling, der da in ihr Reich eindringt, eine willkommene Beute: »Dir zu Wonn’ und Labe gilt mein minniges Mühen!« Halbnackt, nur mit rasch übergeworfenen Gewändern, umschmeicheln und umwerben sie ihn. Doch der für weibliche Verführungskünste Unempfängliche wehrt ihre Zudringlichkeiten ab und setzt, als alles Widerstreben nichts hilft, zur Flucht an …

      Fast vier Jahre nimmt die Arbeit am »Parsifal« in Anspruch: Am 13. Januar 1881 legt Wagner den Federhalter aus der Hand, die Partitur der Letztfassung ist abgeschlossen. Jetzt geht es um die Besetzung der einzelnen Rollen; für 26. Juli 1882 ist die Uraufführung vorgesehen.

      Auch von den Blumenmädchen aus dem zweiten Akt hat er eine klare Vorstellung: »Ich verlange nicht weniger als sechs Sängerinnen ersten Ranges. Sie müssen von gleicher Stimme und Stimmlage sein – und dazu hübsche, schlankgewachsene Frauenzimmer.«

      Wagner selber trifft die Auswahl, eine nach der anderen finden sich die Bewerberinnen in Bayreuth zum Vorstellungstermin ein. Am 5. August ist eine gewisse Carrie Pringle an der Reihe; sie ist für eine der drei »Solo-Blumen« der ersten Gruppe vorgesehen. Frl. Pringle ist eine Engländerin von Mitte zwanzig, die ihr Gesangsstudium in Italien absolviert hat. Fürs Vorsingen hat sie Webers »Freischütz« gewählt; Frau Cosima, die den Auftritt im Musiksalon von Haus Wahnfried mitverfolgt und auch in ihrem Tagebuch festhalten wird, bescheinigt der Kandidatin, sie habe die Arie der Agathe »recht erträglich« gesungen.

      Ganz anderer Ansicht ist Wagner: Er zeigt sich von der Stimme und nicht minder von der bezaubernden Erscheinung der gertenschlanken Person mit dem Schwanenhals, dem brünetten Wuschelkopf und der kecken Stupsnase hingerissen, und seine Begeisterung steigert sich noch, als sie im Jahr darauf nach Bayreuth wiederkehrt und bei den am 2. Juli 1882 einsetzenden Proben mit der fertig einstudierten Partie auf der Bühne steht.

      Doch noch ist es nicht soweit: Eine Reihe anderer Ereignisse zieht vorübergehend Wagners Interesse auf sich, und so manches davon geht ihm gleichfalls unter die Haut. Da ist zum Beispiel der Ausflug, der ihn samt Familie – man weilt wieder einmal im geliebten Italien – von Amalfi ins nahe Ravello führt, wo die Besichtigung des berühmten Palazzo Rufolo auf dem Programm steht. Im Eselskarren legt man das letzte Stück Wegstrecke zu dem halbverfallenen, im maurischen Stil des zwölften Jahrhunderts erbauten Schloß zurück; von dort geht’s über eine marmorne Treppe zu einem kleinen Rosengarten. Der Anblick der Blütenpracht, der romantischen Hecken, Nischen und Sitzbänke sowie der von Zypressen umstellten Pavillons versetzt die Reisegesellschaft in helles Entzücken, und Wagner, mit allen Gedanken beim zweiten Akt des »Parsifal«, schreibt ins Gästebuch: »Klingsors Zaubergarten ist gefunden!« Fehlen nur noch die Blumenmädchen …

      Weniger bedeutet dem Meister die Begegnung mit dem Maler Auguste Renoir, der ihm während eines Sizilien-Aufenthaltes im palermitaner »Hôtel des Palmes« seine Aufwartung macht: Die erbetene Porträtsitzung wird gnädig gewährt. Wagner ist in einen Samtrock gehüllt, dessen breite Ärmel mit schwerem Atlas gefüttert sind. Man unterhält sich in einem kuriosen Gemisch aus Französisch und Deutsch, springt von einem Thema zum andern – Wagner hat keine Ahnung, mit welcher Berühmtheit er es zu tun hat. Und auch vom künstlerischen Ergebnis des fünfunddreißigminütigen Rencontre zeigt er sich wenig angetan: Wie der »Embryo eines Engels« komme er sich vor …

      Große Probleme erwarten den Meister daheim in Bayreuth: Hochzufrieden mit der glücklichen Entwicklung seiner Seelenfreundschaft zu König Ludwig II., bedrückt es ihn umso mehr, daß er mit den Aufführungsrechten seiner Werke an den Münchner Hof gebunden ist. Was tun, damit man den »Parsifal« im Bayreuther Festspielhaus herausbringen kann? Die mühseligen Verhandlungen mit dem königlichen Generalintendanten Baron von Perfall zermürben ihn so sehr, daß er ernstlich erwägt, nach Amerika auszuwandern. Dort, so haben ihm seine Berater den Mund wässerig gemacht, würden ihm mit Sicherheit die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um die Aufführungsrechte seiner Werke zurückzukaufen.

      Wagner hat auch bereits sehr klare Vorstellungen von seinem Leben in der Neuen Welt: In Minnesota werde er sich niederlassen, werde ein Haus bauen und eine eigene Schule gründen, und den »Parsifal« werde er den Amerikanern widmen, damit diese im Gegenzug eine Million Dollar lockermachen. Daß es nicht zur Ausführung seiner Pläne kommt (die auf die Vermittlerdienste seines Zahnarztes Newell Jenkins zurückgehen), liegt an den Kindern: Sie hängen an Bayreuth.

      Es bleibt also dabei: »Parsifal« wird auf dem Grünen Hügel, in dem im Sommer 1876 eingeweihten Festspielhaus, aus der Taufe gehoben werden; die Vorarbeiten laufen an. Zuvor wird rasch noch – am 22. Mai 1882 – der neunundsechzigste Geburtstag gefeiert: Wagners Assistent Engelbert Humperdinck läßt einen Knabenchor aufmarschieren und erste Ausschnitte aus der »Parsifal«-Musik erklingen.

      Wagners gute Laune während der unterdessen angelaufenen Bühnenproben erhält einen Dämpfer durch den plötzlichen Tod der geliebten Haushündin Molly. Die Kinder schaufeln ihr im Garten von Wahnfried ein Grab. Verdruß bereitet ihm auch der elende Zustand der Bayreuther Gastronomie; Wagner richtet diesbezüglich ein Protestschreiben an die Stadtväter: »Man sagt mir, daß im Hotel zur Sonne bei einer Table d’hôte zu sieben Mark nicht ein gesundes Stück Fleisch zu bekommen sei.«

      Teils zur Premiere, teils zu einer der folgenden fünfzehn Vorstellungen haben sich illustre Gäste angesagt: Cosimas Vater Franz Liszt, die Kollegen Léo Delibes und Camille Saint-Saëns, die Damen Elisabeth Nietzsche, Lou von Salomé und Malvida von Meysenbug, der junge Gustav Mahler, der Kritiker Eduard Hanslick. Nur König Ludwig II. bleibt diesmal fern. Anton Bruckner weilt schon während der Vorbereitungszeit in Bayreuth, desgleichen der Sohn eines Münchner Hornisten, der gerade das Abitur bestanden hat – sein Name: Richard Strauss.

      Als Dirigent der Uraufführung ist der Münchner Kapellmeister Hermann Levi vorgesehen. Daß einem Juden ein »christliches« Werk wie der »Parsifal« anvertraut sein soll und das bei einem Komponisten, der für seine


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