Das späte Glück. Dietmar Grieser

Das späte Glück - Dietmar Grieser


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Ulrike, die älteste, ist von ernstem Wesen und ebenfalls nicht ohne Reize. Die schmale Gestalt der jetzt Siebzehnjährigen, ihre großen blauen Augen mit dem noch kindhaften Blick, ihr schönes blondes Haar, das sie in dichtem Geflecht um den Kopf trägt, und ihr voller Mund üben auf den Hausgast, der seit fünf Jahren Witwer ist, eine Anziehungskraft aus, die alles, was der Erotiker Goethe in letzter Zeit an Gefühlen bekundet hat, übersteigt.

      Nichts ist leichter für ihn, als mit der fünfundfünfzig Jahre Jüngeren Kontakte zu knüpfen: Man trifft einander bei den gemeinsamen Mahlzeiten an der Table d’hôte, bei ausgelassenen Pfänderspielen auf der Terrasse vorm Haus, bei den Promenaden am Heilbrunnen. Doch bei allem nicht zu übersehenden Eifer, mit dem der Dichter Ulrikes Nähe sucht, bleibt der Umgang der beiden in diesem ersten gemeinsamen Sommer streng im Rahmen des Konventionellen. Eine von Ulrikes Freundinnen fertigt eine Bleistiftzeichnung von Goethe an, sie macht sie ihr zum Geschenk. Die Widmung, die er ihr selber in ein Exemplar seines soeben erschienenen Romans »Wilhelm Meisters Wanderjahre« schreibt, könnte förmlicher nicht sein: »Frl. Ulrike von Levetzow zu freundlichem Andenken des Augusts 1821.«

      Daß Goethe ein Dichter ist, erfährt Ulrike erst jetzt: Nicht eine einzige Zeile von ihm hat sie bisher gelesen, und da ist der »Wilhelm Meister« für ein adeliges Landpomeranzchen wie sie nicht gerade ein leichter Einstieg. Umso mehr schmeichelt es ihr, daß der »große Gelehrte«, wie sie den alten Herrn zu nennen pflegt, so viel Interesse für sie aufbringt. Wenn er, seinen naturkundlichen Neigungen folgend, bei den täglichen Exkursionen in und um Marienbad Wolkenflug und Wetterstand beobachtet und, das Geologenhämmerchen im Handgepäck, seltene Mineralienfunde macht, hat sie Mühe, seinen Erläuterungen zu folgen, und so greift Goethe zu einer List, sie vielleicht doch für »quarzreiche Granite« und »lose Zwillingskristalle« zu interessieren: Er mischt eine Tafel »feinste Wiener Chocolade« unter die ihr präsentierten Steine, oder er geht überhaupt, was seine Mitbringsel für sie betrifft, zu Blumen über, die sie dann sogleich ihrem Herbarium einverleibt. Ergiebigeren Gesprächsstoff bilden ihre Erinnerungen an Straßburg, wo Ulrike kurz zuvor das Mädchenpensionat besucht hat: Goethe fragt seine Begleiterin nach ihren Erfahrungen mit der Stadt aus, an deren Universität er selber vor einem halben Jahrhundert studiert und die »Lizenz der Rechte« erworben hat.

      Auch den folgenden Sommer verbringt Goethe in Marienbad, das um diese Zeit eine rein deutsche Siedlung im Königreich Böhmen ist. Als er am 19. Juni 1822, von Weimar via Jena, Pößneck, Hof und Eger anreisend, am Ziel eintrifft, sind die Levetzows längst zur Stelle, und wieder ist Tag für Tag Ulrike um ihn – diesmal gar volle zwei Monate. Das Bukett, das er ihr zum Empfang zusteckt, wird getrocknet, gepreßt und unter Glas gerahmt; dankbar hält sie auf einem beigefügten Zettelchen den Namen des Spenders fest. Und in den gerade erschienenen fünften Band seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«, der die »Campagne in Frankreich« zum Gegenstand hat, schreibt er ihr ein Widmungsgedicht, das bereits einiges von seinen Empfindungen für Ulrike erahnen läßt:

      Wie schlimm es einem Freund ergangen,

       davon gibt dieses Buch Bericht;

       nun ist sein tröstendes Verlangen:

       Zur guten Zeit vergiß ihn nicht!

      Doch die Ereignisse, die zum offenen Gefühlsausbruch, zur schicksalsschweren Entscheidung, ja schließlich geradewegs in die Katastrophe führen werden, stehen erst noch bevor: Goethes Werben um Ulrike von Levetzow, ihre Zurückweisung und der daraus resultierende Kraftakt dichterischer Sublimierung zu dem Jahrhundertgedicht »Elegie«, den Stefan Zweig über hundert Jahre später in den Rang einer »Sternstunde der Menschheit« erheben wird, fallen in den Sommer des folgenden Jahres: 1823.

      Diesmal, so will es von Anfang an scheinen, ist alles anders als sonst. Die Suite im Klebelsbergschen Palais, an deren Komfort sich Goethe schon so sehr gewöhnt hat, steht ihm bei seinem dritten Marienbad-Aufenthalt nicht zur Verfügung: Die Räume werden für Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach benötigt, der gleichfalls zur Kur angereist ist – und zwar mit großem Gefolge. Goethes Ausweichquartier ist der benachbarte Gasthof Zur goldenen Traube. Seine zwei Zimmer befinden sich im Obergeschoß, unmittelbar angrenzend die Kammern für Sekretär Dr. Johann John und Diener Carl Stadelmann. Das Mobiliar ist einfach, Teppiche und Schränke fehlen zur Gänze, die porzellanene Waschschüssel wird aus einem hölzernen Wasserfaß gefüllt, dessen Inhalt täglich von der Quelle im Talgrund herbeigeschafft wird.

      »Meine Lebensweise ist sehr einfach«, berichtet Goethe nach Weimar, »ich trinke morgens im Bette, bade den dritten Tag, trinke abends am Brunnen, speise mittags in Gesellschaft, und so geht es denn hin.«

      Apropos Gesellschaft: Der Landesherr von Weimar ist keineswegs der einzige illustre Gast, auch der Exkönig von Holland und Napoleons Stiefsohn Eugen sind zugegen, desgleichen Caroline von Humboldt, die Grafen Nostitz und Bülow und viele andere mehr. Der »russische van Dyck«, Orest Adamowitsch Kiprenskij, und der deutsche Maler Wilhelm Hensel fertigen Porträts des Dichterfürsten an; die Berliner Sopranistin Anna Pauline Milder-Hauptmann und die schöne Polin Marie Szymanowska, Hofpianistin des Zaren, sorgen für musikalische Genüsse; mit dem Prager Komponisten Václav Jan Tománek, dessen Vertonungen von Goethe-Versen der Meister höher schätzt als diejenigen Beethovens und Spohrs, wird die weitere Zusammenarbeit besprochen; und die Diskurse mit dem Slawisten Josef Dobrovsky, die Goethes altes Interesse für die Geschichte Böhmens neu anfachen, haben zur Folge, daß er ein deutschtschechisches Vokabelheft für den eigenen Gebrauch anlegt. Natürlich ist Goethe auch wieder auf Mineraliensuche: Das Prager Nationalmuseum, der Prämonstratenser-Konvent im nahen Tepl sowie Kurarzt Dr. Heidler werden von ihm mit kleinen Kollektionen bedacht. Eine Expedition zum Krater von Kammerbrühl soll ihm neue Erkenntnisse über den Ursprung der Vulkane liefern; Abt Carl Caspar Reitenberger, der eigentliche Promotor des Marienbader Kurbetriebs, lädt Goethe in sein Stift ein; Fürst Metternich öffnet den Gästen die Tore seines Schlosses im nahen Königswart.

      In Marienbad selbst stürzt sich der knapp Vierundsiebzig-jährige mit staunenswertem Elan ins Gesellschaftstreiben, läßt keine der Assembleen, keine der Redouten aus, freut sich, daß ihm beim Tanzen die schönsten Partnerinnen zugeführt werden. »Alles regt sich nun wieder, sowohl der Körper als der Geist!« schreibt er an Freund Karl Ludwig von Knebel. Sucht er Entspannung von all dem Trubel, so tut Frau Schildbach, die Wirtin der »Goldenen Traube«, alles, ihrem Gast unliebsame Störungen vom Leibe zu halten: »Durch ein sonderbares Glück«, schreibt er in einem seiner Briefe aus jenen Tagen, »wohnen in meinem Haus nur Frauenzimmer, die still und verträglich sind.«

      Still und verträglich – das ist vor allem eine, und ihr gilt noch mehr als in den beiden vorangegangenen Sommern sein ganzes Interesse: Ulrike Theodore Sophie von Levetzow. Wenn er sie auf der Tanzfläche an sich vorüberschweben, auf der Terrasse ihr neues, der herrschenden Walter-Scott-Mode angepaßtes Schottenkleid ausführen oder am Brunnen das frische Heilwasser schlürfen sieht, wird ihm warm ums Herz, und das steigert sich noch, wenn er an das »liebe Kind« das Wort richten und ihrer Stimme lauschen darf: »Sie ist heiter, aber nicht lustig.« Auf gemeinsamen Spaziergängen tut sie ihm sogar den Gefallen, sich zu bücken und ein paar der am Wege liegenden Steinchen aufzulesen: Goethe ist entzückt und schreibt es in aller Unbefangenheit nieder – in einem Billett an Ulrikes Mutter: »Zu den hundert Stellungen, in denen ich sie mir vor mir sehe, wieder ein neuer Gewinn.« Frau von Levetzow geht darauf nicht weiter ein, erspart sowohl dem Briefschreiber wie sich selbst jegliche kritische Beurteilung des ungestümen Verhaltens des großen Mannes, der der Vater, ja der Großvater ihrer Erstgeborenen sein könnte.

      Doch Goethe läßt nicht locker: Um zu klären, ob ihm bei seinem fortgeschrittenen Alter eine Heirat mit einer so jungen Frau schaden könnte, sucht er den Arzt auf. Der beruhigt ihn. Wie Dr. Fidelius Scheu wirklich über die Absichten seines Patienten denkt, behält er für sich. Weniger schonungsvoll äußert sich Großherzog Carl August, den Goethe als nächsten ins Vertrauen zieht: »Alter, immer noch Mädchen!« lacht ihn der neun Jahre Jüngere ungeniert aus.

      Ja, immer noch Mädchen. Oder genauer gesagt: diese eine. Goethe kann den alten Freund tatsächlich dazu überreden, sich bei Frau von Levetzow zum Besuch anmelden zu lassen und ihr an seiner Statt den Heiratsantrag für Ulrike


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