Das späte Glück. Dietmar Grieser
Beziehung zu unterhalten. Um die leidige Sache vom Tisch zu haben, weiht Wagner den Maestro in die schmutzige Intrige ein, und es kostet ihn nicht geringe Mühe, den zu Unrecht Angeschwärzten bei der Stange zu halten: Mit den Worten »Sie sind und bleiben mein Parsifal-Dirigent« ruft er den zutiefst Gekränkten, der inzwischen ersucht hat, von seiner Aufgabe entbunden zu werden, zurück, und bei einem gemeinsamen Nachtmahl im Haus Wahnfried, wo auf Wagners ausdrücklichen Wunsch »hebräischer Wein« ausgeschenkt wird, werden auch die letzten Unstimmigkeiten aus dem Weg geräumt.
»Tiefe Ergriffenheit« – so lautet das übereinstimmende Urteil über die Reaktionen des Premierenpublikums: Der 26. Juli 1882, an dem sich zum erstenmal der Vorhang des Bühnenfestspielhauses Bayreuth für Richard Wagners Spätwerk »Parsifal« öffnet, kann also mit goldenen Lettern in die Annalen der europäischen Musikgeschichte eingetragen werden. Kurz nach sechzehn Uhr erklingen die Anfangstakte des Orchestervorspiels, um achtzehn Uhr dreißig beginnt der zweite, um zwanzig Uhr dreißig der dritte und letzte Akt. Der Meister selber hat Regie geführt, Paul von Joukowsky zeichnet für die Bühnendekorationen verantwortlich. Das Orchester setzt sich aus Mitgliedern des Münchner Hoftheaterensembles zusammen, die durch Musiker aus Berlin, Coburg, Darmstadt, Dessau, Hannover, Karlsruhe, Meiningen, Rotterdam, Schwerin, Weimar, Wien und Würzburg Verstärkung erhalten haben. Um den Verführungskünsten der Blumenmädchen, die sich in Klingsors Zaubergarten über den schönen Jüngling Parsifal hermachen sollen, die nötige Drastik zu verleihen, hat man eigens einen Choreographen beigezogen: Richard Fricke.
Der Mann scheint ganze Arbeit geleistet zu haben: Richard Wagner ist von der Szene im zweiten Akt derart hingerissen, daß er den sechs Schönen über das Auditorium hinweg »Bravo!« zuruft. Obwohl das Publikum, ganz auf Weihespiel eingestellt, den ungeschlachten Störenfried niederzischt (ohne zu ahnen, daß es der Meister höchstpersönlich ist, der aus seiner Loge den »fleurs du mal« lauthals Beifall spendet), wird sich das ungehörige Spektakel auch bei den Folgevorstellungen wiederholen.
Wer Wagner bei der Probenarbeit der vergangenen Wochen beobachtet hat, weiß den Grund für dessen überbordenden Enthusiasmus: Der Neunundsechzigjährige, dessen Lebensuhr in knapp sieben Monaten abgelaufen sein wird, hat sich ein letztes Mal verliebt. Die junge Engländerin Carrie Pringle, die der ersten Gruppe der Blumenmädchen angehört, hat es ihm angetan, und da stört es ihn auch nicht im mindesten, daß der Kostümbildner sie – ebenso wie die fünf anderen – in geschmacklose Fetzen gesteckt hat und auch die allzu grelle Dekoration des Zaubergartens beim Publikum auf Ablehnung stößt.
Umso vollendeter ist der Gesang der sechs Schönen: Ihr »Bist du uns hold, so bleib nicht fern!« könnte betörender nicht klingen – hierin sind sich Komponist und Publikum einig. Wagner hat freilich nur für eine von ihnen Augen, und das ist Carrie. Nichts kann ihn daran hindern, ihr »Des Gartens Zier und duftende Geister / im Lenz pflückt uns der Meister!« auf sich persönlich zu beziehen, und wenn es mit den Worten »Wir wachsen hier in Sommer und Sonne / für dich erblühend in Wonne« im Text weitergeht, weidet er sich an der Wunschvorstellung, selber derjenige zu sein, für den das lüsterne Zauberwesen »in Wonne erblüht«.
Niemandem, am wenigsten Frau Cosima, bleibt verborgen, was sich da anbahnt. Kann man es denn als normal abtun, daß Wagner bei den folgenden »Parsifal«-Vorstellungen fast nur noch dem Beginn des zweiten Aktes beiwohnt, um sich die Blumenmädchen-Szene anzusehen? Auch bei dem für den 3. August angesetzten Empfang in Wahnfried ist es einzig und allein das Frl. Pringle, mit dem der Meister scherzt und sich schließlich in eine der hinteren Ecken des Saales zurückzieht.
Was sich in diesen Tagen weiter rund um die zwei abspielt, bleibt ein streng gehütetes Familiengeheimnis: Sowohl Tochter Isolde, die sich, zu dieser Zeit ein Mädchen von siebzehn, in späteren Jahren zu dunklen Andeutungen hinreißen lassen wird, wie auch Gattin Cosima, die in ihrer verklausulierten Hieroglyphen-Schrift die Affäre in ihrem Tagebuch festhält, sind in die Vorgänge eingeweiht.
Auch Gerüchte von einer heimtückischen Attacke auf Wagners »Lieblingsblume« sickern durch: Soll es wirklich nur ein unglücklicher Zufall sein, daß Carrie Pringle bei einer der folgenden Vorstellungen über eine Schnur stolpert und mitten in ihrem Auftritt in einen der Bühnenabgründe stürzt? Leicht verletzt muß sie das Festspielhaus verlassen, eine eilends herbeigerufene Droschke bringt sie in das nahe dem Hofgarten gelegene Haus des Bayreuther Forstmeisters Fröhlich, wo sie einquartiert ist. Hat da womöglich jemand vom Bühnenpersonal »in höherem Auftrag« gehandelt, um der übermütigen Person einen Denkzettel zu verpassen?
Tatsache ist, daß Carrie Pringle in der folgenden Saison an die Mailander »Scala« engagiert wird, und es spricht alles dafür, daß sie ihren Karrieresprung der Fürsprache ihres einflußreichen Gönners zu verdanken hat. Ja, sogar bei seinem nächsten (und letzten) Venedig-Aufenthalt, zu dem Richard Wagner Mitte September aufbricht, will ihm das schöne Kind nicht aus dem Kopf: Maestro Hermann Levi, der inzwischen seine Tätigkeit am Teatro la Fenice aufgenommen hat, erhält Auftrag, Carrie Pringle zum Vorsingen nach Venedig einzuladen.
Das ist selbst für die stille Dulderin Cosima, die sich daran gewöhnt hat, ihrem Mann jedwede Schwäche durchgehen zu lassen, zu viel: Am Morgen des 12. Februar 1883 kommt es darüber zwischen den Eheleuten zum Krach. Am Tag darauf gegen fünfzehn Uhr erleidet der Neunundsechzigjährige eine Herzattacke, von der er sich nicht mehr erholt. Hausarzt Dr. Keppler, peinlich darauf bedacht, sich auf keinerlei »Vermutungen« einzulassen, lüftet gleichwohl, was die Todesursache seines Patienten betrifft, einen Zipfel des Geheimnisses, indem er unzweideutig zu Protokoll gibt, »psychische Aufregungen« hätten Wagners Ende beschleunigt. Psychische Aufregungen – damit kann nur jene von Tochter Isolde bezeugte Auseinandersetzung ihrer Eltern gemeint sein, die ihren Grund in Carrie Pringles bevorstehendem Besuch in Venedig gehabt hat. Sie selber, das verführerische Blumenmädchen aus dem »Parsifal«, wird ihr Leben lang dazu schweigen.
Die lieblichste der lieblichsten Gestalten
Johann Wolfgang von Goethe und Ulrike von Levetzow
Weder Wien noch Prag beehrt er mit seinem Besuch, auch Paris bekommt er sein ganzes Leben lang nicht zu Gesicht. Dafür kommt er sechzehn Mal nach Karlsbad: Hier ist Goethe in seinem Element. Man hat es penibel zusammengezählt: Volle drei Jahre hält sich Deutschlands Dichterfürst in den böhmischen Kurbädern auf.
Jetzt, im Sommer 1820, den er wie gewohnt in Karlsbad zubringt, dringt immer häufiger der Name Marienbad an sein Ohr. Vierzig Kilometer westlich, dicht vor Eger, wo es bis vor kurzem nichts als sumpfige Wildnis gegeben hat und undurchdringliche Wälder, ist ein neuer Kurort im Entstehen. Der Siebzigjährige weist seinen Diener Stadelmann an, alles für einen Tagesausflug Nötige zu veranlassen, besteigt sein »Fahrhäuschen« und schaut sich diesen Ort, von dem man so tolle Dinge hört, aus der Nähe an. Die Berichte scheinen nicht übertrieben, Goethe schreibt an Sohn August nach Weimar:
»Mir war es, als befände ich mich in eine amerikanische Einsamkeit versetzt, wo man Wälder rodet, um in drei Jahren eine Stadt zu bauen.« Und er fährt fort: »Der Plan ist glücklich, die Ausführung streng, die Handwerker tätig, die Aufseher einsichtig und wach. Nicht leicht hab ich etwas Erfreulicheres gesehen.«
Im Jahr darauf kehrt er wieder. Und bleibt. Vom 29. Juli bis zum 25. August bezieht Goethe im sogenannten Klebelsbergschen Hause Quartier. Das von dem späteren österreichischen Finanzminister Graf Franz von Klebelsberg für dessen Freund Friedrich Leberecht von Brösigke, einen ehemaligen preußischen Offizier, an einem der bewaldeten Hänge von Marienbad errichtete Palais ist nicht nur seiner fabelhaften Aussicht wegen das mit Abstand erste Haus am Platze. Durch die hinteren Fenster dringt der Duft der Fichten in die Gemächer, durch die vorderen – je nach Jahreszeit – der Duft frischgeschnittenen Grases oder frischgewendeten Heus.
Was Goethe an seinem neuen Logis jedoch besonders gefällt, sind die Wirtsleute, die ihn umsorgen: Brösigkes Tochter ist eine Frau von Levetzow, deren Bekanntschaft er bereits vor fünfzehn Jahren gemacht und die er unter dem Stichwort »Pandora« auch in seinem Tagebuch verewigt hat. Amalie von Levetzow ist, obwohl erst vierunddreißig, Witwe, lebt jetzt mit dem steinreichen Grafen Klebelsberg zusammen und richtet im übrigen